Foto von Bundeskanzler Olaf Scholz am Rednerpult im Bundestag.

Zeitenwende – eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa?

Wie wirkt sich Russlands Krieg gegen die Ukraine auf die künftige Sicherheitsarchitektur Europas aus? Wird sich Europa nach der Zeitenwende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik autonomer aufstellen oder europäischer Pfeiler in der NATO bleiben?

Diese und weitere Fragen standen im Fokus einer Diskussion, die im Rahmen des Vortragsprogramms der Bundesregierung stattfand. 

Drei Tage nach Russlands Überfall auf die Ukraine kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende für Deutschland und Europa an. Als Antwort auf Putins Krieg werde Deutschland in das Kriegsgebiet Ukraine Waffen liefern; es werde künftig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben und damit endlich das NATO-Ziel einhalten, und es werde mittels eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro die Ausrüstung der Bundeswehr verbessern.

 

Die Zeitenwende berge für Europa, so Scholz, zugleich Herausforderungen und Chancen: „Die Herausforderung besteht darin, die Souveränität der Europäischen Union nachhaltig und dauerhaft zu stärken. Die Chance liegt darin, dass wir die Geschlossenheit wahren, die wir in den letzten Tagen unter Beweis gestellt haben […].“ Er betonte: „Europa ist unser Handlungsrahmen. Nur wenn wir das begreifen, werden wir vor den Herausforderungen unserer Zeit bestehen.“

Ist der Kanzler damit auf Linie mit Emmanuel Macron? Der französische Präsident tritt seit seiner berühmten Rede an der Universität Sorbonne 2017 unablässig für ein starkes, „souveränes Europa“ und für Europas „strategische Autonomie“ auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein.

Einem Gleichklang von Macron und Scholz steht jedoch ein anderer Satz der Zeitenwende-Rede des Kanzlers entgegen: Wir „müssen […] alles tun für den Zusammenhalt der Europäischen Union, für die Stärke der NATO“.

Foto eines Mannes der durch Trümmer läuft und einen Karren mit Holz zieht.
Ein Mann trägt Feuerholz in den Keller eines Wohnhauses, das als Luftschutzkeller genutzt wird, in Avdiivka, Region Donezk, Ukraine, Donnerstag, 8. Dezember 2022. Die Menschen leben seit Monaten in dem Keller und verstecken sich vor dem russischen Granaten- und Raketenbeschuss, Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | LIBKOS

Und in seiner Europa-Rede 2022 in Prag sagte Scholz: „Die NATO bleibt der Garant unserer Sicherheit. Richtig ist aber eben auch: Jede Verbesserung, jede Vereinheitlichung europäischer Verteidigungsstrukturen im EU-Rahmen stärkt die NATO.“ Was bedeuten diese Bekenntnisse zur EU und zur NATO nun konkret für die künftige Sicherheitsarchitektur Europas?

 

Ein kurzer Rückblick auf Europas Sicherheitsordnung

Es kann als herausragendes Merkmal der Integrationsgeschichte gelten, dass das sich vereinende Europa im Kontext des Kalten Kriegs seine Sicherheit ausschließlich im Rahmen der NATO gewährleistet sah. Nur Frankreich forderte über die Jahrzehnte hinweg, die Europäische Gemeinschaft (EG), später Europäische Union (EU), zu einem auch sicherheits- und verteidigungspolitisch autonom handlungsfähigen starken Akteur auszubauen, zu einer Europe Puissance – vergebens.

Doch mit Ende des Ost-West-Konflikts und angesichts der absehbaren, verstärkten Konzentration der USA auf Asien erwuchs die Notwendigkeit, die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu stärken. So wurden mit dem Vertrag von Maastricht 1993 die GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und mit dem Vertrag von Nizza 2003 die GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Vereidigungspolitik) aus der Taufe gehoben.

Seither wurden beide Politikfelder kontinuierlich und substanziell ausgebaut, jedoch blieben sie sehr stark intergouvernemental geprägt, mit weitreichenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten. So gilt für Beschlussfassungen in der GSVP die schwerfällige Einstimmigkeitsregel. Gleichwohl konnte die GSVP mit inzwischen über 30 militärischen und zivilen Missionen der EU internationale Krisenreaktionsfähigkeit verschaffen.

 

Europäische Armee oder Armee der Europäer?

2016 war das Annus horribilis für die EU mit dem Brexit-Votum und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Mit dem Brexit ging der EU einerseits ein außen- und verteidigungspolitisch sehr starkes Mitglied verloren; andererseits wurden so Fortschritte in der GSVP erzielt, die mit Großbritannien und seiner strikten „NATO first“-Politik niemals möglich gewesen wären, insbesondere die 2017 gegründete Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) und der im Mai 2022 verabschiedete Strategische Kompass. PESCO ermöglicht es besonders fähigen und engagierten Mitgliedstaaten „im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen“ (Art. 42,6 EUV) verstärkt zusammenzuarbeiten und fördert massiv den Aufbau der nötigen militärischen Fähigkeiten.

Die Amtszeit Trumps, der sich gegenüber der NATO äußerst skeptisch gab, löste in Europa eine große Debatte über die Notwendigkeit einer größeren sicherheits- und verteidigungspolitische Selbstständigkeit aus.

Der Strategische Kompass legt dar, wie die EU und ihre Mitgliedstaaten im vorherrschenden strategischen Umfeld Sicherheit und Verteidigung stärken können, und er sieht den Aufbau einer EU-Schnelleingreifkapazität vor, „die uns die rasche Entsendung von bis zu 5 000 Einsatzkräften in ein nicht bedrohungsfreies Umfeld zur Bewältigung verschiedener Arten von Krisen ermöglicht“.

Die Amtszeit Trumps, der sich gegenüber der NATO äußerst skeptisch gab, löste in Europa eine große Debatte über die Notwendigkeit einer größeren sicherheits- und verteidigungspolitische Selbstständigkeit aus. Legendär wurde Angela Merkels Satz vom 28.5.2017 im Rahmen einer CSU-Veranstaltung in München: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei und deshalb kann ich nur sagen, wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen“.

Es folgte Macrons erwähnte Sorbonne-Rede und seine Forderung nach einer  „richtigen“ europäischen Armee, die er im November 2018 in einem Interview mit dem Sender Europe 1 äußerte: „Wir brauchen ein Europa, das sich zunehmend selbst verteidigt, ohne ganz von den USA abhängig zu sein, in größerer Souveränität.“ Die Deutschen konterten mit dem Ziel, eine „Armee der Europäer“ zu schaffen. „Streitkräfte in nationaler Verantwortung, eng verzahnt, einheitlich ausgerüstet, für gemeinsame Operationen trainiert und einsatzbereit“, wie es Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 2018 ausdrückte. Angela Merkel äußerte vor dem Europäischen Parlament Ende 2018: Wir „können […] doch in der NATO mit einer europäischen Armee gemeinsam auftreten.“

Merkels Deutschland sah den Beitrag Europas folglich eindeutig in Ergänzung zur NATO, als gestärkten europäischen Pfeiler in der Allianz, „strategische Autonomie“ sei keine Option.

 

Viel Raum für europäische Souveränität

Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sind die Würfel zugunsten der NATO gefallen. Die Allianz hat sich geschlossen und stark gezeigt, sie hat die Ukraine massiv unterstützt, sich dabei aber nicht in den Krieg hineinziehen lassen. Sogar Schweden und Finnland wollen nun der Allianz beitreten, die Ukraine sowieso.

In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird die EU daher auf absehbare Zeit keine „strategische Autonomie“ oder „europäische Souveränität“ erzielen.

 

Nahaufnahme einer Festplatte.
Insbesondere […] in den Hightech-Bereichen, beispielsweise bei der Halbleiterherstellung, gilt es übermäßige Abhängigkeiten von autoritären Staaten wie Russland oder China abzubauen, Foto: picture alliance / Zoonar / SERGEY SERGEEV

„Es gibt mehr Europa in der NATO als in der EU“, fasste NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Dezember 2022 die verteidigungspolitische Lage provokant zusammen.

Hochdringlich bleibt angesichts der Zeitenwende jedoch, dass sich die EU und ihre Mitgliedstaaten mehr „europäische“ oder „strategische“ Souveränität in anderen Politikfeldern erarbeiten, um größere Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung zu erreichen.

Insbesondere bei der Energie- und Rohstoffsicherung, in der Industrie-, Wettbewerbs- und Klimapolitik sowie in den Hightech-Bereichen, beispielsweise bei der Halbleiterherstellung, gilt es übermäßige Abhängigkeiten von autoritären Staaten wie Russland oder China abzubauen. Auch dies gehört im weiteren Sinne zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa, und hier ist sehr viel Raum für den Ausbau der europäischen Souveränität.

Über die Autorin
Foto von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Politikwissenschaftlerin

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet lehrte von 1999 bis 2022 Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Europaforschung und Internationale Beziehungen an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sie entfaltete ihre Forschung zur europäischen Integration und internationalen Politik in zahlreichen Publikationen. Im Herbst 2022 erschien ihr Buch „Germany and the European Union: How Chancellor Angela Merkel shaped Europe” bei Springer. Im Mai 2022 nahm sie an einer virtuellen Paneldiskussion des Vortragsprogramms der Bundesregierung mit dem Titel „A new European security order?“ teil.

Vortragsprogramm der Bundesregierung

Expert:innen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien informieren in Vorträgen und Podiumsdiskussionen aktuell und vielschichtig über Deutschland. Das ifa organisiert das Vortragsprogramm der Bundesregierung zusammen mit den deutschen Botschaften und Konsulaten im Ausland. Es richtet sich an Multiplikator:innen der Zivilgesellschaft in diesen Ländern. Weitere Informationen auf der Website des ifa.