Wenn Sie wie ich ein spectateur engagé sind, können Sie durchaus einen Beitrag zu diesem politischen Unterfangen EU leisten, indem Sie schlicht die historische Wahrheit deutlich machen. Ich würde behaupten, dass der wichtigste Antriebsfaktor der europäischen Integration für drei Generationen nach 1945 individuelle, persönliche Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Gulag, an Diktaturen, ob faschistische oder kommunistische sowie an extreme Formen von Nationalismus, Diskriminierung und Armut waren.
Nun haben wir zum ersten Mal eine ganze Generation von Europäern, die überwiegend – nicht alle, aber die meisten – seit 1989 ohne traumatische und prägende Erfahrungen dieser Art aufgewachsen sind.
Sie kennen nur ein Europa, das weitgehend geeint und überwiegend frei ist. Fast zwangsläufig neigen sie dazu, das für selbstverständlich zu halten; denn der Mensch neigt ganz allgemein dazu, das, womit er aufgewachsen ist und was er um sich herum wahrnimmt, als in gewisser Weise normal, ja sogar natürlich zu betrachten. Czesław Miłosz beschreibt dieses Phänomen eindrücklich in seinem Buch „Verführtes Denken“.
Er vergleicht uns darin mit Charlie Chaplin in dem Film Goldrausch, wo dieser vergnügt in einer Holzhütte herumwuselt, die bedrohlich über einem Abgrund hängt.
Der wichtigste Antriebsfaktor der europäischen Integration für drei Generationen nach 1945 war individuelle, persönliche Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Gulag, […].
Ich hoffe, wir sind noch nicht so weit, aber wir müssen dieser Generation irgendwie vermitteln, dass das, was sie heute als normal betrachtet, historisch gesehen tatsächlich zutiefst abnormal ist – außergewöhnlich, außerordentlich. Papst Franziskus erwähnte in einer Rede 2016 Elie Wiesels Forderung nach einer „Erinnerungstransfusion“ an jüngere Europäer.
Genau darum geht es. Natürlich lässt sich nichts mit der Wirkung unmittelbarer, persönlicher Erfahrung vergleichen. Doch die Beschäftigung mit der Geschichte hat unter anderem den Zweck, von den Erfahrungen anderer Menschen zu lernen, ohne sie selbst durchmachen zu müssen. Zu den ermutigenden Zeichen der letzten Monate gehört eine neue Mobilisierung bei dieser Nach89er-Generation von Europäern, die zeigt, dass ihr Puls für Europa schneller schlägt.
Eine weitere, allgemeinere Lehre aus der Geschichte ist: Was ursprünglich nur Mittel zum Zweck war, kann im Laufe der Zeit zum Selbstzweck werden. (Wer je versucht hat, ein Universitätsgremium oder irgendeine andere Institution abzuschaffen, weiß, wovon ich spreche.)
In seiner Eröffnungsrede auf dem Europa-Kongress in Den Haag im Mai 1948 sagte Graf Richard Coudenhove Kalergi, der Mann, der später als Erster den Karlspreis entgegennehmen sollte: „Denken wir daran, liebe Freunde, dass die Europäische Union ein Mittel und kein Zweck ist.“ Und das von einem Hohepriester der europäischen Einigung zu einer Zeit, als die Europäische Union nur ein Traum war.
Seine Warnung ist heute von besonderer Relevanz. All die europäischen Institutionen, die wir geschaffen haben, sind Mittel für einen höheren Zweck, nicht Selbstzweck. Wir sollten uns stets fragen: „Erfüllt diese Institution oder jenes Instrument noch immer ihren oder seinen Zweck, ist es das am besten für diesen Zweck geeignete?“
Es bringt nichts, einfach immer nur „mehr Europa, mehr Europa“ zu fordern. Die richtige Antwort wird oftmals sein, dass wir von diesem mehr, von jenem aber weniger brauchen. Nur eine Organisation, die in der Lage ist, Macht sowohl nach unten wie nach oben umzuverteilen, je nach wechselnden Bedürfnissen, wird von ihren Bürgern als lebendig und responsiv betrachtet werden.
Und schließlich ist da der Gegensatz, der die europäische Geschichte am stärksten charakterisiert – der von Einheit und Vielfalt. Denken wir an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das europäische Imperium, das am längsten Bestand hatte. Wie der Historiker Peter Wilson zeigt, hatte das vor allem einen Grund: Man hatte das Gefühl, dass seine übergreifenden Strukturen die enorme Vielfalt an politischen, kirchlichen und rechtlichen Gemeinschaften, die unter seiner Ägide versammelt waren, nicht übermäßig zu zentralisieren und zu homogenisieren drohten, sondern sie im Gegenteil sicherten und schützten.
Seine Legitimität und seine Langlebigkeit bezog dieses Reich aus seiner Fähigkeit, mit dieser Komplexität und damit auch mit einem gewissen Maß an chronischer Uneinigkeit zu leben: „Obwohl das Reich nach außen Einheit und Harmonie betonte, funktionierte es in Wirklichkeit dadurch, dass es Streit und Verstimmung als dauerhafte Bestandteile seiner Innenpolitik akzeptierte.“ Ich glaube, darin steckt eine Lehre für die Europäische Union.
Unsere heutige europäische Vielfalt ist nicht nur die von Staaten und Geschichten, sondern auch die von Kulturen und den Sprachen, in die diese eingebettet sind. Diese grundlegenden Unterschiede in Kultur, Sprache und Denktraditionen haben auch prägenden Einfluss auf unsere Vorstellungen von Staat, Recht und Politik und damit von der politischen Ordnung, die zwischen unseren Staaten und Völkern errichtet werden soll.
Europa wird stärker sein, wenn es all diesen Formen von Vielfalt Platz bieten kann. Wenn es um Gelenke geht, kennt die Medizin zwei gegensätzliche Probleme: die Hypermobilität, d.h. das Gelenk ist zu locker, und Hypomobilität, d.h. das Gelenk ist zu wenig beweglich.
Europa wird geschwächt, wenn sich seine Strukturen zu sehr lockern, aber auch, wenn sie zu rigide sind. Wie ein olympischer Wettkämpfer muss Europa beides sein, stark und flexibel: stark, weil es flexibel ist, flexibel, weil es stark ist.
All die europäischen Institutionen, die wir geschaffen haben, sind Mittel für einen höheren Zweck, nicht Selbstzweck.
Sie werden inzwischen gemerkt haben, dass ich Sie in einer Art rasantem Wiener Walzer durch eine ganze Reihe von Gegensätzen geführt habe: das Individuum und das Kollektiv, historische Zeit und politische Zeit, der Intellektuelle und der Politiker, Mittel und Zweck, national und europäisch, Realismus und Idealismus und, last but not least, Komplexität und Einfachheit.
Denn letztlich ist das, was wir wollen, recht einfach: Wir wollen, dass die Menschen in Europa Freiheit, Frieden, Würde, Rechtsstaatlichkeit, angemessenen Wohlstand und soziale Sicherheit genießen. Wie wir diese schlichten Ziele erreichen, ist das, was zwangsläufig reichlich kompliziert ist.
Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Worte an Deutschland und die Deutschen richten. Als ich zum ersten Mal nach Deutschland kam, Anfang der 1970er Jahre, waren die Schatten des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Diktatur noch allgegenwärtig. (Mein erstes Forschungsthema war Berlin im Dritten Reich.) Das Land war schmerzlich geteilt, und ich erlebte aus nächster Nähe jene zweite deutsche Diktatur, welche die ganze Welt heute mit einem hässlichen Kurzwort assoziiert: Stasi.
Dann kam plötzlich das annus mirabilis 1989, und Deutschland erhielt völlig unerwartet seine „zweite Chance“, um Fritz Sterns zu Recht berühmte Formulierung aufzugreifen. Über mehr als ein Vierteljahrhundert habe ich seitdem mit wachsender Bewunderung beobachtet, wie gut das vereinigte Deutschland diese zweite Chance genutzt hat.
Ich persönlich finde es unglaublich bewegend, dass sich heute Flüchtlinge aus aller Welt nach Deutschland sehnen, als wäre es das Gelobte Land. Es ist doch wunderbar, dass Deutschland heute wie eine Insel der Stabilität, der Besonnenheit und der Liberalität aus einem Ozean des nationalistischen Populismus herausragt. Wenn ich diese historische Wende vom Dunkel zum Licht betrachte, erfüllt mich das jedes Mal mit echter und großer Freude.
Kluge Führung in Europa bedarf der ausgeprägten Fähigkeit, Europa immer auch mit den Augen der anderen Europäer zu sehen [...].
Aber – es gibt immer ein „Aber“ – die zweite Chance, genauer gesagt: die zweite Hälfte der zweiten Chance, liegt noch immer vor Ihnen – nämlich die gesamteuropäische Hälfte. Mit einem entschieden proeuropäischen französischen Präsidenten ergibt sich für Deutschland und Frankreich erneut die Gelegenheit, wie schon so oft zuvor in der Geschichte der europäischen Integration, gemeinsam voranzugehen. Diese zweite Hälfte der zweiten Chance wird aber nicht leicht sein. Deutschland steht noch immer vor dem alten Problem der „kritischen Größenordnung“ – zu klein, aber doch zu groß; zu groß, aber doch zu klein.
Kluge Führung in Europa bedarf der ausgeprägten Fähigkeit, Europa immer auch mit den Augen der anderen Europäer zu sehen, sie braucht Einfühlungsvermögen. Sie braucht auch Gelassenheit, Zuversicht und Mut.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Wort „Mut“ zum Schlüsselbegriff seiner Antrittsrede gemacht. Dazu gehört der „Mut zur Wahrheit“, von dem Präsident Emmanuel Macron sehr eindrucksvoll gesprochen hat. Dazu gehört aber auch der Mut zum Kompromiss. Der Mut, mit Ungewissheit, Unvollkommenheit, ja sogar Unverbindlichkeit zu leben – so wie im Heiligen Römischen Reich.
Kurzum: Das Leben ist kein Gesamtkonzept! Das gilt erst recht für das politische Leben Europas. In seiner Studie zur Geschichte Berlins schrieb Karl Scheffler vor 100 Jahren, die Stadt sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“.
Das Gleiche könnte man von Europa sagen. Es wird nie jener hehre Augenblick kommen, in dem man ausrufen kann: „Da ist es, das fertige Europa! La belle finalité européenne – verweile doch, du bist so schön!"
Nein, auch Europa ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein. Aber das muss nicht unbedingt ein Fluch, es kann auch ein Segen sein. Wenn man etwas älter ist, sieht man, dass die Jahre des Werdens oft die schönsten Jahre des Lebens sind. So hat das ewig unfertige Europa die Chance, immer jung zu bleiben. Gestalten wir es also gemeinsam: das niemals endende Werden Europas.
Übersetzung von Andreas Wirthensohn
Dieser Beitrag geht auf Ash's Dankrede anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises 2017 zurück.
Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.