Illustration: Figur präsentiert die leeren Hosentaschen

Demokratie: ein großes Fragezeichen

Die Globalisierung hat dem Thema Demokratie einen neuen Kontext gegeben. Sie ist nicht nur für die arabische Welt oder für China neu zu verhandeln. Auch für das verwirrte Europa oder die USA, deren Selbstbewusstsein gelitten hat. Die Verantwortung für die Reflexion über Volk, Kultur, Tradition und das Ziel der Geschichte liegt jetzt bei jedem einzelnen.

Chinesen haben Geld! So tönt es heutzutage, leise gewispert oder laut in die Welt hinausposaunt. Wie kann das sein? Die Bewohner eines kommunistischen Landes, in dem noch vor zwanzig Jahren vielerorts nackte Armut herrschte, von dem man Bilder mit schäbig gekleideten Menschen mit abgezehrten Gesichtern kennt, suchen heute scharenweise die Straßen von Paris, London, New York oder Venedig heim, kaufen dort in den Läden Designerprodukte als sei es Chinakohl, ziehen mit prall gefüllten Einkaufstüten von Prada zu Louis Vuitton, kaufen alles unbesehen und scheinbar wahllos. Die Ladenbesitzer bekommen leuchtende Augen und begrüßen die neue Kundschaft voreilig mit Verbeugungen, während die Leute auf der Straße sich fragen: Wo kommen die denn her? Was hat im fernen China quasi über Nacht ein solches Wunder bewirkt?

Chinesen haben Geld. Das mag vielleicht sogar weniger überraschen als die Tatsache, dass die Europäer dagegen immer weniger Geld zu haben scheinen. Wir lesen ständig von der schon idiomatisch gewordenen „Krise“, die in den Ländern der Europäischen Union, Nordamerikas, in Japan, Korea oder Hongkong herrscht. In den einstmals reichen kapitalistischen Ländern beklagen sich immer mehr Menschen über ihre schwierige Lage, Familien kürzen ihr Budget, verzichten auf den Urlaub und den Restaurantbesuch und drängeln sich nach Weihnachten im Schlussverkauf.

Ganz zu schweigen von den staatlichen Sparprogrammen, von denen vor allem die Kultur-, Kunst- und Verlagslandschaften betroffen sind, auf die man doch hierzulande einmal stolz zu sein pflegte. Es heißt, diese Wirtschaftskrise sei zweifellos die schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Blick auf China stellt sich die Frage: Was läuft hier falsch?

Es kann etwas nicht mehr stimmen mit der eisernen Gleichung, die wir während des Kalten Krieges aufgemacht haben und die da lautete, Kapitalismus ist gleich Demokratie ist gleich Wohlstand und Kommunismus ist gleich Diktatur ist gleich Armut. Das funktioniert nicht mehr. Materieller Wohlstand galt einmal als Indikator für eine fortschrittliche Gesellschaft und Maßstab für demokratische Verhältnisse. Nun hat in unserer jetzigen Wirklichkeit die chinesische Diktatur in der Welt das Sagen, während der Westen an der Angel der Armut hängt.

Die chinesische Regierung hält tatsächlich US-amerikanische Aktien im Wert von mehreren Milliarden Dollar und chinesische Firmen oder Privatpersonen kaufen amerikanische Farmen, britische Autofirmen, französische Weingüter und italienische Modemarken.

Die chinesische Regierung hält tatsächlich US-amerikanische Aktien im Wert von mehreren Milliarden Dollar und chinesische Firmen oder Privatpersonen kaufen amerikanische Farmen, britische Autofirmen, französische Weingüter und italienische Modemarken.

Befremdlich, wenn ich mich daran erinnere, wie ich nach dem Tiananmen-Massaker 1989 nach Neuseeland floh, wo ich im winzigen Dachzimmer eines Wohnblocks wohnte und mich von Suppe aus ausgekochten Hühnerknochen ernährte. Damals standen wir am Ende des Kalten Kriegs, und das Wort „Exil“ allein genügte als Beweis, dass Demokratie gleich Wohlstand war. Angesichts der heutigen Realitäten fragt man sich noch mehr als damals, wo der Fehler im System zu suchen sei. Ziehen wir die falschen Schlüsse?

Hinter der neureichen Fassade

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich hinter der Fassade des neureichen China allerdings noch ein anderes Gesicht Chinas, auch das ist schon nicht mehr neu. Vor einigen Jahren machte der Name der Firma Fushikang in China Schlagzeilen, weil dort skandalös niedrige Löhne gezahlt wurden und dreizehn Arbeiter der Firma in den Freitod gesprungen waren. Daraufhin wurden um alle hohen Firmengebäude Sicherheitsnetze installiert, „Anti-Sprung-Netze“ ist inzwischen eine gängige Bezeichnung dafür.

Ein typisches Beispiel für die Folgen der kommunistischen Diktatur? Fehlanzeige. Die Wirklichkeit ist viel bestürzender. Die Firma Fushikang gehört einem taiwanesischen Investor (gerade gab es um ihn erneut einen Bestechungsskandal, bei dem es um 100 Millionen Yuan ging), und ist unter anderem Zulieferer von Teilen für das iPhone des amerikanischen Apple-Konzerns, eine typische globale Firma also, die mit chinesischen Niedriglöhnen westliche Konsumgüter bei maximalem Profit produziert.

Firmenbosse, die zuhause unumgängliches Arbeitsrecht respektieren müssen, machen in China eine Fabrik auf, auf der Suche nach den für sie geradezu paradiesischen Arbeitsverhältnissen, in der es für die Angestellten weder Gewerkschaften, Versicherungen oder medizinische Versorgung, dafür aber nur die niedrigsten Löhne gibt.

Die grundlegenden Spielregeln und das Selbstverständnis der Demokratie haben sie dabei nicht im Gepäck. Sie verzichten gerne auf die Menschenrechte, die sich Europa und die USA seit der Aufklärung mühsam erkämpft haben, um allesamt ihren Vorteil aus einem Gesellschaftssystem zu ziehen, das einen Widerspruch in sich selbst darstellt: größtmöglicher Profit unter der Protektion einer kommunistischen Macht.

Firmenbosse machen in China eine Fabrik auf, auf der Suche nach den für sie geradezu paradiesischen Arbeitsverhältnissen, in der es für die Angestellten weder Gewerkschaften, Versicherungen oder medizinische Versorgung, dafür aber nur die niedrigsten Löhne gibt. Die grundlegenden Spielregeln und das Selbstverständnis der Demokratie haben sie dabei nicht im Gepäck.

Wir ziehen nicht die falschen Schlüsse, sondern wir gehen von den falschen Prämissen aus. Heute herrscht auf dieser Welt das System des globalen Kapitalismus in Kombination mit globaler Sklavenarbeit. Von „Demokratie“ keine Spur. Sie hat sich unter dem Lärm der Trinksprüche und klingenden Gläsern einflussreicher Männer in China genauso wie andernorts verflüchtigt.

Tatsache ist, dass die Demokratie sich zweierlei Schwierigkeiten gegenübersieht, die eine ist ihr immanent und die andere nachträglich erworben. Das ihr immanente Problem ist, dass Demokratie nicht automatisch für Gleichheit und Gerechtigkeit steht, sondern ein Klassensystem ist. Das begann schon im Athen der Antike: Das freie Volk kam in den Genuss der Demokratie, die Sklaven dienten ihr nur; innerhalb der Polis praktizierten ihre Bewohner Demokratie, nach außen waren sie Imperialisten. Man lese dazu Thukydides „Der Peloponnesische Krieg“.

Die konzentrischen Kreise dieses Denkmusters bestimmten Theorie und Praxis im antiken Rom ebenso wie im Britischen Empire, und in den Vereinigten Staaten von Amerika besteht es bis heute. Selbst das westliche Wohlfahrtssystem beruht auf dieser langen Geschichte der Ungleichheit. Zuerst kam der weltweite Kolonialismus der Europäer, dann der amerikanische Wirtschaftsimperialismus; die Welt versorgte den Westen mit Rohstoffen und der Westen war dabei ihr Marktplatz, ihre Fabrik und der einzige Nutznießer des Profits.

Wir lesen ständig von der schon idiomatisch gewordenen ,Krise‘, die in den Ländern der Europäischen Union, Nordamerikas, in Japan, Korea oder Hongkong herrscht.

Doch das Wohlfahrtssystem ihrer Staaten, das sich allein darauf gründete, funktionierte nur solange die erwähnte Formel – Demokratie gleich Wohlstand – bestand hatte. Mit der Globalisierung gesellte sich das zweite, hausgemachte Problem hinzu, denn nun machen die billigen Arbeitskräfte an anderen Orten des globalen Dorfs und der erleichterte internationale Warenverkehr der westlichen Welt ihren Status als wichtigstem Produktionsstandort streitig. Die Großkapitalisten verlagern ihre Geschäfte weg vom teuren Westen, nutzen das kommunistische Sklavensystem für sich aus und schaffen es noch dazu, die Allgemeinheit um die Früchte ihrer Arbeit zu bringen.

Der eigentlich Grund dafür, dass der Westen plötzlich arm dasteht, liegt in der Zerstörung der etablierten Weltordnung durch die Globalisierung, im Durchbrechen der kulturellen Mauern, wobei die der Demokratie innewohnende Ungleichheit global auf die Welt übertragen wird, wo jetzt überall ein paar wenige Einflussreiche ihre Nutznießer sind, während weltweit zunehmende Armut herrscht. Quo vadis, Demokratie? Wie sollen wir den gegenwärtigen Herausforderungen der Demokratie begegnen – und vor allem: Wie soll man das Wesen der Demokratie innerhalb des veränderten Kontexts der Moderne neu definieren? Müssen wir unsere individuellen Werturteile und Verhaltenskriterien neu bestimmen? Demokratie bleibt ein ungelöstes Problem.

Auflösung ideologischer Blöcke

Das Fragezeichen Demokratie steht auch in engem Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges. Über Nacht lösten sich die Unterschiede zwischen ideologischen Blöcken auf. Wo es vorher die Alternative Sozialismus und Kapitalismus zu geben schien, war plötzlich keine Alternative mehr. Der Glaube an den Profit hat alle „-Ismen“ abgelöst, die Parteien sind heute Unternehmen, die sich nur durch die Effizienz ihres Managements unterscheiden. Unsere Zeit ist an politischen wie gesellschaftlichen Ideen so arm wie nie zuvor.

Von Südafrika bis Armenien das gleiche Bild: Die jungen Leute haben noch nicht einmal zu Ende studiert und ihr ganzes Leben ist schon vorbestimmt, vorbei. Schuld daran ist ein völliges Wertevakuum. Was hat ein Menschenleben auch im engen Flussbett des Profits zu suchen? Man treibt mangels Alternative mit dem Strom und passt sich dem Naheliegenden an, dem Streben nach Profit, nimmt, was und so viel man kriegen kann.

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

Über den Autor
Yang Lian
Dichter

Yang Lian ist chinesischer Dichter, lebt zurzeit in Berlin und gewann 2012 den renommierten internationalen Nonino-Literaturpreis. Er wurde 1955 als Sohn von Diplomaten in der Schweiz geboren und wuchs in Peking auf. 1979 schloss er sich einer Gruppe von Dichtern an, die die Zeitschrift „Jintian“ veröffentlichten. Zurzeit des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens befand er sich in Neuseeland und beteiligte sich von dort aus an den Protesten gegen das Vorgehen der chinesischen Regierung. Kurz darauf wurden seine Werke in China auf die Zensurliste gesetzt und Yang Lian wurde die chinesische Staatsbürgerschaft entzogen. Auf Deutsch erschienen: „Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons – Gedichte und Reflexionen“ (Suhrkamp Verlag 2009); „Konzentrische Kreise“ (Hanser Verlag 2013). Und soeben „Die Erkundung des Bösen“ (PalmArtPress 2023).

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