Illustration: Eine Waage auf einer Weltkugel mit dem Zeichen für weiblich und männlich rechts und links.

Der lange Kampf der Frauen

Christa Nickels war nur Mitgründerin der Grünen und Abgeordnete des Deutschen Bundestags. Im April 2023 sprach sie in Japan über politische Gleichberechtigung – wie sie sich Gehör verschaffte und warum eine feministische Außenpolitik wichtig ist.

Das Interview führte Juliane Pfordte

ifa (Institut für Auslandsbeziehungen): Frau Nickels, Sie sind eine der Protagonistinnen im Dokumentarfilm Die Unbeugsamen aus dem Jahr 2021. Der Film porträtiert mutige Frauen wie Sie, die in der Bonner Republik für politische Gleichberechtigung und Anerkennung kämpften. Würden Sie sich selbst auch als „unbeugsam“ beschreiben?

Christa Nickels: Das kommt darauf an. Wenn es um wesentliche Punkte geht, wo Lebenspraxis, Kopf und Herz sagen, da stehe ich und da gehe ich nicht beiseite, bin ich durchaus unbeugsam. Aber wenn man immer unbeugsam ist, ist man halsstarrig. Ich bin schon fähig, mich zu biegen, um etwas zu erreichen, aber ich verbiege mich nicht.

Diese Standhaftigkeit war auch notwendig, um sich im Bundestag der 80er-Jahre als Frau Gehör zu verschaffen. Die Archivaufnahmen im Film zeigen, wie unverhohlen und offenkundig weibliche Abgeordnete beleidigt, verachtet und sexuell diskriminiert wurden. Wie sind Sie persönlich damit umgegangen?

Nickels: Als wir Grüne uns gegründet haben, war es eine tägliche Erfahrung, dass man von den anderen Parteien niedergemacht wurde. Vor allem durch die Frauenbewegung, die ja eine unserer Gründungsströmungen war, waren wir es gewohnt, durchsetzungsstark zu sein. Egal, was sie anpackten oder welche Fakten sie vorbrachten, es wurde nicht ernst genommen. Ich will ein drastisches Beispiel erzählen. In meiner Zeit im Rechtsausschuss war ich die einzige Frau. Als ich dort Vergewaltigung in der Ehe einbrachte, die damals noch straffrei war, sagte ein Kollege, der sich stundenlang hinter seiner BILD-Zeitung verschanzt hatte, ich solle mein Valium nehmen und mich in psychiatrische Behandlung begeben. Und der Ausschussvorsitzende sagte keinen Ton dazu! Auch im Plenum waren unflätige Sprüche und Proteste bei frauenpolitischen Themen von den männlichen Kollegen das tägliche Brot. Ich habe für mich aber trotzdem den Weg gewählt, nie die Person zu attackieren, sondern stets knallhart in der Sache zu argumentieren. Ein argumentativ hart geführter Streit führt bestenfalls dazu, dass beide Seiten weiterkommen.

Die "Mütter des Grundgesetzes"

Statue of Elisabeth Selbert.
Elisabeth Selbert, eine der „Mütter des Grundgesetzes“ und Kämpferin für die Gleichberechtigung von Frauen, Foto: Swen Pförtner / dpa via picture alliance

Das Grundgesetz der Bundesrepublik garantierte in Artikel 3, Absatz 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Trotzdem blieb Politik lange Zeit Männersache. Warum führten demokratische Rechte nicht automatisch zur gleichberechtigten Repräsentanz von Frauen im Bundestag?

Nickels: Man muss berücksichtigen, wie lang der Weg bis dahin war. Denken wir an die Vorkämpferinnen der Frauenrechte im 18. und 19. Jahrhundert, die ihren Einsatz teilweise blutig bezahlt haben, oder an die Suffragetten in England. Man darf auch nicht vergessen, wie hart um den ein oder anderen Artikel im Grundgesetz gerungen wurde. Dass es der Gleichberechtigungsartikel überhaupt ins Grundgesetz geschafft hat, ist jenen vier Frauen zu verdanken, die ihn in den Beratungen im Parlamentarischen Rat 1948/1949 mit unermüdlichem Einsatz und gegen erhebliche Widerstände von 61 Männern durchgekämpft haben.

Zweimal ist der Antrag durchgefallen. Aber die „Mütter des Grundgesetzes“ verstanden es, überparteilich zusammenzuarbeiten, einen öffentlichen Protest zu organisieren und die Frauen im Land für ihr Anliegen zu mobilisieren, sodass waschkörbeweise Unterstützungspost bei den Parteien und im Parlamentarischen Rat landete. Nur so hat es dieser Artikel überhaupt ins Grundgesetz geschafft.

Über die Elisabeth-Selbert-Initiative

Die deutsche Politikerin und Juristin Dr. Elisabeth Selbert (1896 – 1986) war neben Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel eine der sogenannten Mütter des Grundgesetzes. Das nach ihr benannte Schutzprogramm für gefährdete Menschenrechts­verteidiger:innen bietet einen sicheren Ort, den die geförderten Aktivist:innen für die persönliche Erholung, Bewältigung von Traumata und – wenn möglich – für die berufliche Weiterbildung und Netzwerkarbeit nutzen können. Schutzaufenthalte setzt die Elisabeth-Selbert-Initiative mit Gastorganisationen um, die die Menschenrechtsverteidiger:in aufnehmen und begleiten. Die Initiative wird vom ifa – Institut für Auslandsbeziehungen mit Mitteln des Auswärtigen Amtes umgesetzt.

Archaische Rollenbilder wurden jahrelang auch rechtlich zementiert. Bis 1977 war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Frau den Haushalt zu führen hatte und einer Erwerbstätigkeit nur mit Einverständnis ihres Mannes nachgehen konnte. Hatte das nicht auch Auswirkungen auf den Frauenanteil in der Politik?

Nickels: Ja, das prägte das Frauenbild dieser Zeit und gewissermaßen hat es bis heute gesellschaftsprägende Wirkung. Unser Wirtschafts- und Arbeitsleben ist noch immer nach dem Modell der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung organisiert. Das zeigt sich unter anderem im Kinderbetreuungssektor, der selbst in einem so reichen Land wie Deutschland noch immer notleidend ist, während für die Wirtschaft schnell Milliarden locker gemacht werden. Frauen bringen noch immer deutlich mehr Zeit für Sorgearbeit auf als Männer. Das hat die Pandemie auf erschreckende Weise gezeigt. Es waren überwiegend Frauen, die – egal wie hoch qualifiziert sie waren – ihre Arbeitszeit reduziert haben oder teilweise ganz aus dem Job ausgestiegen sind, um Kinder oder pflegebedürftige Eltern zu versorgen, weil es gesamtgesellschaftlich einfach nicht gewährleistet ist.

Warum es die Quote braucht

Insgesamt waren Sie 19 Jahre, mit Unterbrechungen, Mitglied im Bundestag. Was konkret haben Sie gemacht, um die politische Position der Frauen innerhalb und außerhalb Ihrer Partei zu stärken?

Nickels: Die wirksamste politische Strategie, und das ist eine ganz wesentliche Erfahrung für mich, lautet: das, was man für sich als richtig erkannt hat und politisch einfordert, muss man in der eigenen Organisation so weit wie möglich durchsetzen. Ein großes Verdienst der Grünen ist die Durchsetzung der Mindestquotierung in der eigenen Partei, also die geschlechtsparitätische Besetzung aller Ämter und Mandate. Dafür haben wir Frauen in der Fraktion sehr stark gekämpft. Ähnlich wie die „Mütter des Grundgesetzes“ haben wir gesellschaftliche Vorfeldarbeit geleistet, haben Frauenvollversammlungen in den Bundesländern organisiert und das Frauenstatut diskutiert. 1986 wurde das Statut eingeführt und die Mindestquotierung damit für die gesamte Partei verbindlich. Auch Kinderbetreuung auf Parteitagen haben wir eingeführt und Frauenquoten für Redebeiträge. Und dass wir konsequent in unseren eigenen Strukturen und auf allen Ebenen Parität übten, zeigte, dass es machbar ist und zu guten Ergebnissen führt. Natürlich wurden wir anfangs als „Quotenfrauen“ belächelt, aber mit der Zeit stellte sich doch Respekt für unsere Arbeitsleistung ein.

Warum ist Parität wichtig?

Nickels: Weil sich herausgestellt hat, dass frauenpolitische Themen nur dann eine Chance auf Umsetzung in den Parlamenten haben, wenn dort in allen Fraktionen so viele Frauen sind, dass sie nötigenfalls eine fraktionsübergreifende Mehrheit erreichen können. Frauen sind nicht die besseren Menschen, aber mehr als die Hälfte der Bevölkerung und eine Demokratie ist nicht vollständig, so lange Frauen in den Parlamenten nicht paritätisch vertreten sind und ihre ureigensten Belange, ihre Erfahrungen und ihre Sicht der Welt authentisch in die Parlamente einbringen können.

Vortragsreise nach Japan

Politische Teilhabe von Frauen war auch das Thema der Vortragsreise, die Sie im April nach Japan geführt hat. Der Frauenanteil im japanischen Parlament lag 2021 bei zehn Prozent. Von welchen Hindernissen auf dem Weg in die Politik haben die Frauen vor Ort berichtet?

Nickels: Viele Frauen, mit denen ich sprechen konnte, sind desillusioniert, was das Wahlrecht und die Voraussetzungen für eine Kandidatur betrifft. Sie erzählten mir, dass es in Japan üblich sei, eine Kaution von umgerechnet etwa 15.000 Euro zu zahlen, um sich als Kandidat oder Kandidatin aufstellen zu lassen. Wenn man nicht gewählt werde, sei das Geld verloren. Unter solchen Bedingungen hätte ich mich damals als junge Frau, mit zwei kleinen Kindern und gerade gebautem Haus, nie im Leben politisch engagieren können. Es gibt auch keine Parteienfinanzierung wie in Deutschland. Um sich im Wahlkampf bekannt zu machen, muss man sehr viel Geld mobilisieren, was ohne Netzwerke kaum machbar ist und genau diese haben Frauen oft nicht. Eine skurrile, aber auch sehr erhellende Erfahrung war mein Treffen mit der „Vorsitzenden“ einer fraktionsübergreifenden Parlamentarierinnengruppe, einem Mann! Es ist ein Unding, dass eine Frauengruppe von einem Mann vertreten wird, und das in einem kulturell und wirtschaftlich so hochstehenden Land wie Japan.

Anlass der Vortragsreise war ein Filmfestival des Goethe‐Instituts, bei dem auch der eingangs erwähnte Film gezeigt wurde. Wie hat das Publikum darauf reagiert?

Nickels: Der Film wurde beim Festival ganz und in Ausschnitten auch an der Women’s University in Kyoto, an der Sophia Universität in Tokio und in anderen japanischen Städten gezeigt, im Publikum waren überwiegend Frauen. Und überall reagierten sie wie hierzulande auch: mit Lachen, mit Szenenapplaus und begeisterten Zwischenrufen. Einmal kamen sogar zwei ältere Damen nach der Vorführung zu mir, in Tränen aufgelöst, um sich zu bedanken. Auch die Diskussionen im Anschluss an den Film zeigten, dass die Frauen sehr bewegt waren. Fast alle sagten, der Film zeige eins zu eins das, was Frauen heutzutage in Japan erlebten. Viele baten mich um Rat, wo sie anfangen, woher sie den Mut nehmen sollen, sich politisch zu engagieren. Der Film hätte doch gezeigt, wie viel Spott und Häme wir Frauen im Parlament damals einstecken mussten.

Und was haben Sie geantwortet?

Nickels: Ein wichtiger Ansatz ist, sich mit der Zivilgesellschaft zu vernetzen und milieu- und parteiübergreifend frauenpolitisch zusammenzuarbeiten. Selbst wenn man sich anfangs nur zu dritt in einem Café oder zu Hause trifft und sich über frauenpolitische Themen austauscht. In einer Demokratie kann jede und jeder etwas bewirken und das beginnt im kleinen Kreis.

Die Wut in Mut umwandeln

Welche Momente oder Begegnungen der Reise sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Nickels: Zum einen hat mich die Begeisterung der Japanerinnen bewegt. Ihre Sehnsucht danach, vollwertige Bürgerinnen ihrer Gesellschaft zu sein und die Entwicklung ihres Landes mitzugestalten, das hat mich sehr an meine politische Anfangszeit erinnert, wie wir grünen Frauen es schafften, die Wut über die Ungerechtigkeit in Mut umzuwandeln. Bewegt haben mich auch die Treffen mit Überlebenden des Atombombenabwurfs in Hiroshima. Am Friedensdenkmal konnte ich einen persönlichen Kranz niederlegen. In einer Zeit, in der erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht wird, ist mir das sehr zu Herzen gegangen.

Welche Botschaft würden Sie Frauen der jüngeren Generation mit auf den Weg geben?

Nickels: Frauen arbeiten ja oft lieber im stillen Kämmerlein, aber es ist wichtig, für eine Sache auch leibhaftig in Erscheinung treten, erst recht für die Frauenpolitik. Und: Schauen Sie über den Gartenzaun! In Deutschland haben wir sicherlich viel erreicht, aber das Erreichte kann verloren gehen. Wenn ich mir die globale frauenpolitische Entwicklung anschaue, wird mir angst und bange. Was wir in so vielen Jahren hart erkämpft haben, ist bedroht.

In Polen und den USA sind rechtliche Möglichkeiten für eine legale Abtreibung abgeschafft bzw. stark eingeschränkt worden; Afghanistan ist nach dem desolaten Abzug der Staatengemeinschaft in die frauenpolitische Steinzeit zurückgefallen. In meiner Zeit im Menschenrechtsausschuss war ich viermal dort.

Schwarz-Weiß-Foto des so genannten Feminate, des ausschließlich von Frauen besetzten Vorstands der Grünen Partei im Jahr 1984.
1984 wählt die Grünen-Fraktion einen ausschließlich von Frauen besetzten Vorstand, das sogenannte Feminat. Von links: Heidemarie Dann, Annemarie Borgmann, Antje Vollmer, Erika Hickel, Waltraud Schoppe und Christa Nickels, Foto: Sven Simon via picture alliance

Es ist damals mit Sicherheit nicht alles gut gelaufen, aber Frauen hatten Zugang zu Bildung, zu Beruf, zu Schutz vor Gewalt und Sicherheit. Deswegen ist eine feministische Außenpolitik, zu der sich die aktuelle Regierung bekennt, so wichtig, denn der Status, den Frauen in einem Land genießen, ist einer der wichtigsten Gradmesser dafür, wie gut es allen Menschen in einem Land geht.

Über
Porträt von Christa Nickelson bei der Premiere des Dokumentarfilms "Die Unbeugsamen"
Christa Nickels
Ehemalige deutsche Politikerin

Christa Nickels absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Krankenschwester. 1979 war sie Mitgründerin der Grünen in Nordrhein-Westfalen. Von 1983 bis 2005 war sie mit Unterbrechungen Mitglied des Deutschen Bundestages. Außerdem war sie Vorsitzende zweier Fachausschüsse, parlamentarische Staatssekretärin und Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Für ihre Verdienste erhielt sie 2008 das Bundesverdienstkreuz.

Vortragsprogramm der Bundesregierung

Expert:innen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien informieren in Vorträgen und Podiumsdiskussionen aktuell und vielschichtig über Deutschland. Das ifa organisiert das Vortragsprogramm der Bundesregierung zusammen mit den deutschen Botschaften und Konsulaten im Ausland. Es richtet sich an Multiplikator:innen der Zivilgesellschaft in diesen Ländern. Weitere Informationen auf der Website des ifa.