Die Idee Europas als Verkörperung von Vernunft und Freiheit – ein ideologischer Gedanke, der sich während der langen Pattsituation zwischen der sogenannten „freien“ Welt und dem totalitären Kommunismus verfestigte – wurde von Asiaten niemals uneingeschränkt geteilt und kann auch nicht von ihnen geteilt werden.
Für sie gibt es keine „Idee“ Europas. Es gibt viele „Ideen Europas“, darunter zumindest in asiatischen Augen der Imperialismus ebenso wie die liberale Demokratie, rassische und religiöse Intoleranz ebenso wie individuelle Freiheit und den Kampf für Gerechtigkeit. In Süd- oder Ostasien, wo die hasserfüllten Gefühle des Zweiten Weltkriegs gefährlich zu neuem Leben erwacht sind, können viele nur staunen über den Frieden, den Deutschland und Frankreich nach Jahrhunderten blutiger Konflikte miteinander geschlossen haben.
Die Auswirkungen und Folgen der Globalisierung (…) [haben] eher zu intellektueller Verblüffung und Arroganz als zu Klarheit, Bescheidenheit und Einsicht geführt.
Aber wir können unsere Augen nicht vor der alten politischen und moralischen Herausforderung des Kontinents verschließen: dem Umgang mit sozialen und kulturellen Unterschieden. Schon vor den Grausamkeiten des frühen 20. Jahrhunderts war die Bilanz Europas auf diesem Gebiet entmutigend.
Wie mein Buch zeigt, sahen die eifrigsten Nachahmer in Asien – anglophile Inder und frankophile Vietnamesen – sich schon bald mit rassischen und religiösen Barrieren konfrontiert. Dauerhafte Unterlegenheit schien selbst das Schicksal der Japaner zu sein, die von allen Asiaten noch am schnellsten und eifrigsten die scheinbar überlegenen rationalen Rechtssysteme und Institutionen der europäischen Zivilisation übernahmen. Erst in jüngster Zeit haben die Türken die bittere Erfahrung eines gescheiterten Versuchs gemacht, in den rassisch-exklusiven Klub Europas aufgenommen zu werden.
Der gegenwärtige Aufstieg rechtsextremer Parteien zeigt, dass Europa heute erneut um den Umgang mit seinen Minderheiten kämpft, die vielfach als billige Arbeitskräfte aus ehemals beherrschten Ländern geholt wurden. Es ist nicht nur verblüffend, sondern auch entmutigend, wenn man sieht, dass nicht nur Rechtsextreme, sondern auch viele liberale Politiker und Intellektuelle in Europa mit einem Mehrheitsnationalismus flirten, als Reaktion auf eine zumindest nach asiatischen Maßstäben äußerst begrenzte Erfahrung mit sozialer Vielfalt und politischem Extremismus.
Wir beobachten heute eine seltsam paradoxe Entwicklung. Die Auswirkungen und Folgen der Globalisierung, der ökonomischen und geistigen Vereinigung der Welt, treten klarer zutage als jemals zuvor, aber das hat eher zu intellektueller Verblüffung und Arroganz als zu Klarheit, Bescheidenheit und Einsicht geführt.
Versuche, das europäische Selbst durch die gewaltsame Abgrenzung gegenüber dem Anderen und durch Gegensätze (…) zu definieren, können keinen Erfolg haben (…).
Großbritannien, das einen unwiderruflichen Niedergang erlebt und sich absondert, ist immer noch in steriler Weise besessen von seinen großen Siegen über Deutschland in den beiden Weltkriegen. Inzwischen bringt ein im Aufstieg begriffenes Asien seine eigenen Teilnarrative hervor. Die Führer des aufsteigenden China verweisen auf ein „Jahrhundert der Demütigung“ durch westliche Mächte und betonen zugleich ihre lokale und internationale Macht.
Die politische Selbstbehauptung der islamischen Länder und der Aufstieg des chinesischen Nationalismus führen uns die vernetzte, aber äußerst ungleiche Welt vor Augen, die der europäische Imperialismus geschaffen hat. Versuche, das europäische Selbst durch die gewaltsame Abgrenzung gegenüber dem Anderen und durch Gegensätze – zivilisiert und rückständig, Kolonisator und Kolonisierter – zu definieren, können keinen Erfolg haben in einem Zeitalter, in dem der Andere ebenfalls die Macht hat, Geschichte zu schreiben und zu machen. Der Boden ist bereitet für komplexere Formen des Selbstverständnisses, frei von Selbstgefälligkeit, nationalistischer Mythenbildung und Rassendünkel.
Ich möchte den großen europäischen Denker Paul Valéry zu Wort kommen lassen, der schon früh im 20. Jahrhundert spürte, dass anders, als Hegel glaubte, kein Kontinent oder Land der alleinige Motor der Weltgeschichte sein kann: „Da sich das Ursachensystem“, schrieb er, „das die Geschicke eines jeden von uns bestimmt, nunmehr über den gesamten Erdball erstreckt, wird dieser auch bei jeder Erschütterung als ganzer in Mitleidenschaft gezogen; Fragen, die umgrenzt blieben, weil sie auf einen Punkt begrenzt waren, gibt es nicht mehr.“ Wenn wir Valérys Erkenntnis akzeptieren, muss unser Selbstverständnis all jene Gesellschaften und Völker einbeziehen, die so fern und losgelöst von uns erscheinen: vormoderne ebenso wie moderne, asiatische und afrikanische ebenso wie europäische.