Das Ende des zwanzigjährigen Afghanistan-Einsatzes der NATO-Truppen führte auch zum Bruch der allgemeinen bilateralen Beziehungen zwischen Afghanistan und seinen bisherigen Partner:innen. Vertreter:innen einer deutschen und niederländischen Delegation trafen sich am 18. November mit Vertreter:innen der neuen de facto Regierung, um die künftige Zusammenarbeit zu erörtern. Themen des Treffens waren unter anderem Zugang zu Bildung und Grundrechte von Frauen und Männern. Die deutsche und niederländische Delegation bekräftigte in diesem Rahmen ihre Bereitschaft, weiterhin umfangreiche humanitäre Hilfe zu leisten. Jedoch wird zukünftiges Engagement davon abhängig sein, ob die afghanische de facto Regierung ihre Zusagen einhält, beispielsweise auch, was gleiche Rechte für alle angeht.
Wie könnte das deutsche Engagement in Zukunft aussehen? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst der Terminus Kulturbeziehungen erörtert und Fehler aus der Vergangenheit dargestellt.
Ein Aspekt des zukünftigen deutschen Engagements ist die Intensivierung der Kulturbeziehungen beider Länder. Kulturbeziehungen sind, wie der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt sagte, neben den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen die dritte Säule deutscher Außenpolitik.
Das Auswärtige Amt definiert Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wie folgt:
Im Kern der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik steht die Aufgabe, Zugang zu Kultur und Bildung über geographische, politische und soziale Grenzen hinweg zu ermöglichen und damit gegenseitiges Verständnis zu schaffen: die Basis für gute internationale Beziehungen. Auf diese Weise will die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik auch einen Beitrag dazu leisten, weltweit Krisen und Konflikte zu entschärfen oder sogar verhindern: es geht darum, im Gespräch zu bleiben, weiterhin eine gemeinsame Ebene zu haben.
– Auswärtiges Amt, 1995–2022
Dabei beinhalten Kulturbeziehungen speziell die Arbeit mit und zwischen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Journalist:innen. Diese Arbeit bezieht sich meist auf Themen wie Meinungsfreiheit, Freiheit der Kunst und Wissenschaft, Kultur und kulturelle Identität.
Weitere wichtige Themenbereiche mit globaler Dimension, die ebenfalls für das gesamte Lebensumfeld einzelner betroffener Personen relevant sind, finden sich in der Grafik. Was Afghanistan angeht, so stehen Themenbereiche aus den Kulturbeziehungen wie Zugang zu Bildung und Gendergerechtigkeit ganz oben auf der Liste.
Das "U.S. Army/Marine Corps Counterinsurgency Field Manual" aus dem Jahr 2006 beeinflusste den NATO-Einsatz in Afghanistan stark. Dieses Manual umschrieb die nun berühmte Doktrin mit "winning hearts and minds". Die Ausführung, Herzen und Meinungen für sich zu gewinnen war, im Rückblick teilweise zu sehr auf der Annahme aufgebaut, Demokratie könnte einfach "eingeflogen" werden. Der Einsatz hatte neben dem Aufbau einer Demokratie nach westlichen Vorstellungen auch das Ziel eine ebensolche Zivilgesellschaft zu entwickeln.
Demokratieaufbau ist ein langer und komplexer Prozess, der nachhaltige Unterstützung in der Bevölkerung benötigt. Die afghanische Zivilgesellschaft war nach der Invasion 2001, so beschreibt es der politische Experte Rahmatullah Amiri, hauptsächlich durch Eliten gestaltet und auch monetarisiert. Ein Großteil der Zivilgesellschaftsarbeit war projektbezogen. Die Förderung zielte nicht auf traditionelle Arten des Zusammenkommens in Gemeinschaften und mit Älteren ab und es fand eine Stärkung urbaner Zentren gegenüber den ländlichen Regionen statt.
Darüber hinaus war die Rechenschaftspflicht zuallererst nicht gegenüber dem afghanischen Volk, sondern gegenüber den Geldgeber:innen. Durch diese Strukturen war es eher ein top-down Staat als ein Staat mit bottom-up Unterstützung.
Die komplexe Geschichte Afghanistans zeigte auch: Im Laufe der Zeit trafen viele verschiedene ideologischen Vorstellungen aufeinander. Hier entwickelte sich eine Spaltung zwischen scheinbar äußeren Einflüssen und lokalem Kulturerbe.
Aus den Fehlern der Vergangenheit geht klar hervor, dass der Kontext entscheidend ist. Damit ist der historische, geografische und soziale Kontext gemeint. Darüber hinaus ist die de facto Regierung in Afghanistan eine Black Box. Es ist wichtig herauszufinden, wo die "roten Linien" der neuen de facto Regierung in Bezug auf mögliche kulturpolitische Maßnahmen liegen.
Einige Erfahrungen mit den Taliban aus der Vergangenheit zeigen: Sie sind Fundamentalisten, gleichzeitig aber auch Realisten. Sie benötigen einen einigermaßen funktionalen Staat, um regieren zu können. Jasamin Ulfat, die über Afghanistan als Ort britischer Militär- und Kolonialgeschichte forscht, erläutert, dass Schulen oder Projekte von den Taliban geduldet werden, wenn die Arbeit nicht konträr zur Lehre der Taliban ist.
Vorhaben, die als "islamische" Ideen verkauft werden, setzen sind schneller durch. Um auf das Thema "importierter" Ideen zurückzukommen, sollte also der Punkt "Frauenrechte" aus islamischer Sicht betrachtet werden. Wichtig ist eine klare Darstellung, dass Frauenrechte ebenso ein islamisches Konzept sind. Es ist im Interesse aller, wenn Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Hierfür ist die gute Ausbildung der jungen Afghan:innen enorm hilfreich. Sie sind besser ausgebildet, als es die damalige Generation unter den Taliban in den 1990er-Jahren war.
Hoffnung für zukünftiges Engagement im Medienbereich gibt es aufgrund der Förderung des Auswärtige Amts bei einem Deutsche Welle Medienprojekt in Afghanistan, "Aashti". Durch die Unterstützung eines lokalen afghanischen Medienunternehmens wird dieses weiterlaufen.
Weitere mögliche Förderungen vor Ort könnten ein strukturierter deutscher oder auch EU-weiter Fond sein, der Büchereien und Museen in Afghanistan unterstützt.
Alles in allem muss bedacht werden: Die dringlichsten Probleme in Afghanistan im Moment sind die des Hungers und der Verzweiflung. Wenn nicht genug Nahrung und Wasser für die Bevölkerung zur Verfügung stehen, wird es keine Zivilgesellschaft, nicht einmal eine Gesellschaft geben.
Das abrupte Ende des zwanzigjährigen NATO-Einsatzes, die desaströse Evakuierung und die neue Taliban-Herrschaft zeigen ebenso, dass viel Vertrauen zwischen der afghanischen Zivilgesellschaft und westlichen Akteuren wieder aufgebaut werden muss. Zukünftige Zusammenarbeit muss diesen Vertrauensverlust kompensieren und sich erst einmal auf die Glaubwürdigkeit der neuen deutsch-afghanischen Kulturbeziehungen fokussieren.