In den Niederlanden beschenkt Sankt Nikolaus traditionsgemäß am Vorabend des 6. Dezember die Kinder. Mit dabei: seine schwarzen Helfer, die Auslöser eines Kulturstreits sind, der stellvertretend für andere europäische Länder grundsätzlichere Fragen aufwirft.
Keine Folklorefigur hat eine so hitzige, landesweite niederländische Debatte ausgelöst wie Zwarte Piet (Schwarzer Peter), der farbige Diener von Sinterklaas (Sankt Nikolaus). Jedes Jahr sorgt er für Kontroversen, aber 2014 war er der Gegenstand eines echten gesellschaftlichen und politischen Aufruhrs. Aber beschreiben wir doch zunächst einmal diese „erfundene Tradition“, die die niederländische Gesellschaft gespalten hat. Dann zeigen wir die größeren Zusammenhänge auf und werfen ein Schlaglicht auf die Art und Weise, wie Europa heutzutage mit seinem kulturellen Erbe und äußeren Einflüssen darauf umgeht.
Worum geht es in der niederländischen Diskussion über Zwarte Piet? Die Niederländer feiern den Geburtstag von Sinterklaas am Vorabend des 6. Dezember. Jedes Jahr im November, so will es die Tradition, kommt Sinterklaas mit dem Dampfer von seinem Unterschlupf in Spanien. Begleitet wird er dabei von einer Reihe von Helfern, Schwarzer Peter genannt. Sie alle sind gekleidet in Renaissance-Gewänder, mit schwarzen Gesichtern, Afrolocken, Ohrringen und mit leuchtend rotem Lippenstift. In den Tagen vor dem großen Fest reitet Sinterklaas über Hausdächer, die einer der Schwarzen Peter dann herunterklettert.
Wenn das Kind brav war, legt der Schwarze Peter ein kleines Geschenk in den Schuh, den das Kind neben den Kamin gestellt hat (oder heute in der modernen Zeit neben die Heizung). Die Kleinen bekommen dann, gewöhnlich zusammen mit einem Gedicht, am Vorabend des Geburtstags des Heiligen größere Geschenke.
Sinterklaas ist der Namensvetter von Santa Claus, der vom Original abweicht und keine religiösen Merkmale oder farbigen Helfer hat. Im Dezember bekommen die niederländischen Kinder eine Süßigkeit. Die meisten Familien mögen auch die stärker kommerzialisierte „Ho-Ho-Ho“-Figur, aber lassen für gewöhnlich die Geschichte aus, dass er die Geschenke bringt. Im Gegensatz dazu präsentieren sogar die niederländischen Nachrichten die Aktionen von Sinterklaas, als existiere der heilige Philantrop tatsächlich. Diese Travestie geht viel weiter als zum Beispiel in Belgien, wo Sinterklaas nur für Kinder da ist und weit weniger politisch brisant.
Lieder über Sinterklaas und Zwarte Piet sind altmodisch. Mitte der 1800er-Jahre nahm die aktuelle Tradition ihre heutige Form an, stark beeinflusst vom Buch des ehemaligen Lehrers Jan Schenkman, der sich einen Mohr als Diener für den Heiligen ausgedacht hat. Heute singen die Kinder: „Sinterklaas, komm herein mit deinem Diener“ und „Obwohl ich schwarz wie Ruß bin, habe ich gute Absichten“. Nicht besonders politisch korrekt, könnte man sagen.
Es ist eine Tradition
Nahezu niemand nimmt (bisher) Anstoß an der Tatsache, dass Sinterklaas ein männlicher Weißer mit pompösen religiösen Symbolen ist – er trägt die Kleidung eines Bischofs, zusammen mit Bischofsmütze (Mitra) und Stab. Die Erscheinung von Zwarte Piet hingegen ist nicht unumstritten, um es gelinde auszudrücken.
Bin Schwarz wie Ruß, habe gute Absichten.
„Zwarte Piet ist Rassismus“, hieß es 2013 auf dem Plakat eines Protestierenden, als Sinterklaas in die Stadt kam, worauf der Demonstrant schnell verhaftet und kurz darauf mit Entschuldigungen wieder freigelassen wurde. Im Jahr 2014 eskalierte die Diskussion und die Niederlande spalteten sich in zwei Lager: Das eine meinte, die Tradition müsse verändert werden, um die politische Kontroverse zu bereinigen, das andere meinte, sie müsse so erhalten bleiben, wie sie ist: „Es ist nicht politisch, es ist einfach ein Fest für die Kinder“, sagen die Menschen, oder konservativer: „Es ist eine Tradition!“
Der englische Komiker Russell Brand nannte es einen „kolonialen Kater“. Das hört sich sehr grenzwertig an, da die Veröffentlichung von Jan Schenkmans Buch mit dem Höhepunkt des niederländischen Kolonialismus zusammenfiel. Das war nur zehn Jahre bevor die Sklaverei in Suriname, einer damals niederländischen Kolonie, endgültig abgeschafft wurde. Aber wie das auch bei echten Katern ist: Die Einen leiden viel mehr darunter als die Anderen. Communitys in Suriname und von den Antillen sind gewöhnlich dafür, Zwarte Piet anzupassen, wie auch viele progressive niederländische „Ureinwohner“ großer Städte. Dagegen wollen Menschen in den Provinzen die Tradition im Allgemeinen so erhalten, wie sie ist. Wir selbst werden von beiden Seiten attackiert.
Die angebotenen Lösungen, um das Dilemma zu lösen – ein Regenbogen-Zwarte Pieten und ähnliches – erscheinen alle schrecklich künstlich. Zudem ist die Gesellschaft voller Rituale und Traditionen, die ihren Ursprung in einer unehrenhaften Vergangenheit haben; diese auszulöschen, lässt uns nur vergessen, lehrt uns aber nicht, mit ihnen umzugehen. Doch auch die Argumente des traditionalistischen Lagers sind nicht besonders ansprechend. Sie klingen konservativ, sogar xenophob und populistisch. Einige Menschen gehen so weit, dem reformistischen Lager vorzuwerfen: „Ihr wollt uns unsere Kindheit stehlen!“
Diese letzte Bemerkung ist so absurd wie interessant. Wie können Menschen nur die Evolution einer Tradition als Beschädigung ihrer Erinnerungen verstehen?
Der Lauf der Zeit
Die niederländische Bevölkerung scheint, wie der doppelgesichtige römische Gott Janus geworden zu sein. Eines seiner Gesichter schaut nach hinten und das andere nach vorne. Janus ist der Gott der Innovation und der Übergänge, etwa von Krieg zu Frieden. Schließlich führt jeder Konflikt unweigerlich zu einer neuen Situation in der Zukunft und niemals zu einer vollständigen Wiederherstellung der Vergangenheit. Das ist der Lauf der Zeit. Und in diesem Licht betrachtet, haben die Konservativen Pech. Alle Traditionen sind, unabhängig von ihrem Alter, fest verbunden mit ihrer aktuellen Auslegung und gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Selbst an Zwarte Piet hat der Zahn der Zeit in den letzten Jahrzehnten seine Spur hinterlassen. Von einer furchterregenden Figur, deren Aufgabe es war, unfolgsame Kinder mit der Rute zu züchtigen oder sie in einen Leinensack zu stecken und mit zurück nach Spanien zu nehmen, entwickelte er sich zu einem spielerischen Charakter, der die Autorität von Sinterklaas ein bisschen untergräbt und mit dem sich Kinder leicht in Beziehung setzen und identifizieren können.
Alle Traditionen sind, unabhängig von ihrem Alter, fest verbunden mit ihrer aktuellen Auslegung und gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Zum ersten Mal hat sich die Diskussion über den sogenannten Rassismus von Zwarte Piet wirklich schnell im Netz verbreitet. Moderne Technologie hat die Resonanz der Argumente multipliziert, sowohl jener für als auch gegen das traditionelle Modell. Tausende Twitter-Nutzer haben ihre Stimme erhoben. Online-Petitionen in beide Richtungen erhalten großen Zulauf. Jeder glaubt zu wissen, worum es bei dem Fest geht; es scheint so, als ob jeder seine eigene private Version hat, die dann zufällig das einzig mögliche Modell für das Fest ist. Sinterklaas und Zwarte Piet sind kein gemeinsames Ritual mehr, sondern jedermanns persönliches Eigentum.
Hier kommt einem das Werk von Walter Benjamin in den Sinn. In seinem brillanten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschreibt er, wie moderne Reproduktionstechnologien die Aura des Kunstwerks verschwinden lassen. Denn Authentizität ist kein entscheidender Faktor mehr. Einzigartigkeit und Fortbestand weichen der Vergänglichkeit und Reproduzierbarkeit.
Weder Zwarte Piet noch Sinterklaas sind Kunstwerke – sie sind eine Tradition. Aber es ist interessant, sich Benjamins Einsichten in einer Zeit anzusehen, in der Reproduzierbarkeit das Kennzeichen jedes kulturellen Ausdrucks ist.
Es macht heute noch weniger Sinn als zu Benjamins Zeit, nach einem Original zu fragen. Keine Fotografie hat mehr ein Originalnegativ; Authentizität ist das, was ein Betrachter in jeder beliebigen Version sehen kann, die in irgendeinem Medium existiert. Modern ausgedrückt: Künstlerische Ausdrucksformen werden an die Wünsche der Masse angepasst. Etwa wenn sich ein bemerkenswertes Foto rasend schnell verbreitet und Hunderte soziale-Medien-Süchtige ihm eine neue lustige Bildunterschrift geben. Walter Benjamin bewies einige Voraussicht in den krisengeschüttelten 1930er Jahren. Er meinte, dass angesichts der Irrelevanz der Authentizität eines Kunstwerks die Verbindung zwischen Kunst und Tradition unterbrochen sei. Wir würden gerne noch weiter gehen: Heutzutage, da kein Modell, das von der Spitze irgendeiner Hierarchie heruntergereicht wird, die Integrität der ihm zugrunde liegenden Tradition belegen kann, wird Tradition selbst zu einem fluiden Konzept, das jeder für sich beanspruchen und verändern kann. Wir zitieren hierzu eine Schlüsselpassage in Benjamins Essay:
„Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas außerordentlich Wandelbares.“ Walter Benjamin
„Die Reproduktionstechnik [...] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Massenbewegungen unserer Tage. Ihr machtvollster Agent ist der Film. Seine gesellschaftliche Bedeutung ist auch in ihrer positivsten Gestalt, und gerade in ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe.“
Erneuerung der Menschheit
Wir kommen gerade aus einer anderen Krise, rund 80 Jahre später, und beobachten eine andere Erneuerung der Menschheit. Mindestens drei Entwicklungen haben eine nie dagewesene Eigendynamik entwickelt.
Erstens hat der technische Fortschritt das soziale Geflecht unserer Gesellschaft verändert. Aufgrund der Geschwindigkeit und Zahl der Beziehungen zwischen uns allen werden Verbindungen zwischen beliebig vielen Menschen in Lichtgeschwindigkeit aufgebaut und unterbrochen. Flexible Kommunikation und Kooperation ist die zweite Natur der Digital Natives, jener Glücklichen, die in eine Welt hineingeboren sind, in der es schon das Internet und soziale Medien gab.
Zweitens, teilweise als Ergebnis einer früheren Entwicklung, sind traditionelle soziale Strukturen kurz davor, zunichte gemacht zu werden. Traditionelle, hierarchische Organisationsmethoden weichen Flexibilität und ad-hoc-Arrangements, die spontan an neu entstehende Umstände angepasst werden können. Mittlere Manager und politische Entscheidungsträger leiden unter den Auswirkungen: Sie sind immer weniger relevant, da horizontal organisierte Vermittler und Do-it-yourself-Initiatoren übernehmen.
Drittens ist der Ort immer weniger relevant. Die Welt ist ein globalisierter Marktplatz und sogar die härtesten Grenzen werden immer durchlässiger. Massenhafte Einwanderung ist heute eine Realität und auch ein Muss für die Zukunft.
In diesem Licht betrachtet, könnte man die Worte Walter Benjamins etwas anders interpretieren. Was er „die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe“ nannte, muss man nicht als „Zerstörung“ deuten. Das kulturelle Erbe wird liquide, also verflüssigt, statt liquidiert: Es wird zu einem wahrhaft fluiden Konzept. Kulturelles Erbe, das die Aura der Authentizität verloren hat, hat nur Bedeutung in den Augen der vielen Betrachter, das heißt: in unzähligen sozialen Realitäten.
Flüchtige Moderne
Hier kommt einem der Philosoph Zygmunt Bauman in den Sinn, der den Begriff „flüchtige Moderne“ („liquid modernity“) geprägt hat. Bauman glaubt nicht an die Postmoderne als radikalen Bruch mit der Vergangenheit, sondern betont stattdessen die Kontinuität: Liquidität als ein Zusatz zu den bestehenden modernen Beziehungen. Das ist angesichts der von ihm genutzten Metapher ziemlich seltsam. Denn der Übergang von etwas Festem zu einer Flüssigkeit ist ziemlich abrupt. Wenn man eine feste Materie der Hitze aussetzt, wird zu einem genau bestimmbaren Punkt die ganze Struktur der Substanz plötzlich so verändert, dass man sie nicht mehr wiedererkennt. Die Partikel in einer festen Substanz können ihrer strengen Anordnung nur mit viel Kraft entkommen, wohingegen sie sich in einer Flüssigkeit frei bewegen können.
Wir haben diesen Prozess im Zusammenhang mit der Bedeutung Europas beschrieben. Das Bild einer Festung mit klar festgelegten Strukturen zu ihrer Unterstützung und Verteidigung hat keine große Relevanz mehr. Europa ist vielmehr ein anpassbares Konzept, das alle nach ihren eigenen Vorstellungen nutzen. Wir sagten bereits:
Europa ist gleichzeitig eine politische Struktur, ein künstlerischer Kontinent und das Zuhause vielfältiger Menschen – ein wahrhaft fluides Konzept.
Jetzt wollen wir ein bisschen weiter gehen. Unserer Meinung nach besteht der einzig erfolgreiche Weg für Europas Zukunft darin, Liquidität zu begrüßen, nicht zu versuchen, dagegen anzukämpfen. Wir kommen jetzt auf drei Risiken zu sprechen, aber enden mit einer Chance.
Zunächst einmal müssen wir uns vor kultureller Entropie hüten, in der alle einzigartigen Traditionen sich der politischen Korrektheit unterordnen und einen gemeinsamen Nenner finden, mit dem jeder leben kann. Wäre Europa ein Cocktail, dann sollte man ihn besser geschüttelt servieren, nicht gerührt: eher wie einen B52 mit seinen verschiedenen Schichten von Kaffee-, Sahne- und Orangenlikör als wie einen Long Island Iced Tea, bei dem alle Bestandteile so vermengt werden, dass man sie hinterher nicht mehr unterscheiden kann.
Nicht alle Traditionen sollten den gleichen Weg nehmen wie zum Beispiel das Moulin Rouge in Paris. Von einer zwielichtigen, unkonventionellen Lokalität für nonkonformistische Künstler und Freigeister hat es sich zu einer gemäßigten Touristenfalle für die alternde Bourgeoisie gewandelt.
Insbesondere an den Rändern unseres Kontinents gibt es immer noch viele solcher Traditionen. Und mit dem Zustrom von Einwanderern kommen neue Einflüsse. Wir sollten uns für sie interessieren, im Zweifel zu ihren Gunsten entscheiden und erkennen, dass so etwas wie eine „europäische Kultur“ nicht existiert. Viele Traditionen sind aber so sehr eine Realität wie auch eine Chance.
Ein zweites Risiko ist die Politisierung unseres Erbes. Walter Benjamin bemerkte schon: „In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.“
Die Sichtweisen, sowohl des Nazi-Regimes als auch der kommunistischen Regimes zu Benjamins Zeit, auf die Kunst lassen tief blicken: Kunst wurde tatsächlich ein staatliches Instrument und veränderte sich willkürlich, je nachdem, wer gerade an der Macht war. In anderen Worten: Es ist eine sehr schlechte Idee, die Verbindung zwischen einem künstlerischen Ausdruck sowie der Tradition und dem Ritual, auf dem dieser basiert, zu durchtrennen.
Diese Aussage lässt sich auch auf Tradition an sich übertragen. Wenn man zulässt, dass eine Tradition völlig unabhängig wird, wird sie zu einem Objekt für jedes politische Bestreben, etwas zu behaupten, anzupassen, Menschen zu versklaven. Europa, die Farce eines Nationalstaats ohne irgendwelche erkennbare Embleme, läuft Gefahr, der größte Leidtragende zu sein. Jeder formt sich Europa nach der eigenen Vorstellung und es gibt keine originale, keine authentische Quelle um dieses Bild zu widerlegen.
Der einzig erfolgreiche Weg für Europas Zukunft besteht darin, Liquidität zu begrüßen, nicht zu versuchen, dagegen anzukämpfen.
Dies lässt uns nach einer Komplementierung dieses Trends rufen, dem logischen Gegenstück zur Verflüssigung der Gesellschaft, um das kulturelle Erbe weiterhin als verbindende Kraft in unserem sozialen Gewebe zu erhalten: die Wiedereinbettung von Traditionen und Kultur.
Wie würde der paneuropäische Zwarte Piet aussehen? Er würde sich zweifellos in Luft auflösen. Kein Amalgam von Traditionen um einen kinderlieben Märtyrer wird jemals etwas so Spaßiges (wenn auch politisch Inkorrektes) hervorbringen wie den Possen reißenden assistierenden Mohr von Sinterklaas.
Wir müssen allerdings den Ursprung dieser Figur im Lichte der aktuellen Realitäten und des Verständnisses unserer Vergangenheit betrachten. Diese Tradition, die eine Mehrheit der Niederländer nicht aufgeben will, sollte deutlich erläutert werden. Diejenigen, die möchten, dass die Geschichte in einer anderen, angepassten Version erzählt wird, sollten dies selbstverständlich tun dürfen. Ich bin zuversichtlich, dass es den Kindern nichts ausmachen würde, wenn Zwarte Piet mit einmal vielfarbig würde – wie auch die Gesellschaft selbst in den letzten Jahrzehnten.
Man kann beide Bewegungen verstehen als das Wiedereinbetten einer Tradition: mit einem Bein in einem besseren Verständnis der Vergangenheit und mit dem anderen in einer Zukunft, die wir gemeinsam angehen wollen. Beide miteinander in Einklang zu bringen, ist die schwierigste Aufgabe eines jeden Übergangs – um dies zu schaffen, braucht man mindestens einen Heiligen und vielleicht sogar einen Gott wie Janus.
Leider musste sich Europa 2014 von seinem ältesten Traditionsanspruch verabschieden. Nämlich dem, die Wiege der Kunst zu sein. Ausgrabungen in Asien zeigen, dass die ersten Artefakte der Menschheit nicht in Europa auftauchten. Die Silhouette einer Hand auf einer Höhlenmauer auf Sulawesi war bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert entdeckt worden, konnte aber erst vor kurzem genau datiert werden. Man fand heraus, dass sie 40 000 Jahre alt ist, beinahe 3 000 Jahre älter als die Höhlenkunst im spanischen El Castillo, die bis dahin als die älteste galt.
Ein Fest für Erwachsene
Wenn man diese Erkenntnis im Auge behält, ist keine Tradition vor einer Neuinterpretation sicher. Was „unser“ war, erweist sich vielleicht als „ihres“. Der Zustrom neuer Menschen und Ideen wird sich deshalb vielleicht als gar nicht so neu erweisen, sondern vielmehr als eine Fortführung und Beschleunigung eines jahrtausendealten Prozesses. Für die einen ist dies vielleicht beängstigend, für andere bereichernd, einfach ist es aber nie.
Zygmunt Bauman drückt es so aus: „Nur eine dünne Linie liegt zwischen Bereicherung und dem Verlust der kulturellen Identität; damit das Zusammenleben von Autochthonen und Allochthonen kein kulturelles Erbe zerstört, muss es auf dem Respekt vor den Prinzipien beruhen, die dem europäischen ‚Gesellschaftsvertrag‘ zugrunde liegen [...] und zwar von beiden Seiten“. Und dieser Gesellschaftsvertrag – nicht die unwichtigste der europäischen Traditionen – muss neu bewertet und eingebettet werden in die aktuellen politischen und sozialen Realitäten.
Wir würden gerne mit einer erfundenen Tradition schließen, die im letzten Jahrzehnt in den Niederlanden aufgekommen ist und Zulauf bekommen hat, als die sparsame und rigide Ära des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg einer wohlhabenderen und individualisierten Gesellschaft Platz machte. In einer liquiden Gesellschaft sind die mit dieser Tradition verbundenen Chancen am höchsten und ermöglichen es Menschen, sich fortwährend anderen gegenüber neu zu definieren.
Die Rede ist von der Sinterklaas-Feier für Erwachsene, die zu unserer Freude sehr in Mode gekommen ist. In einer Gruppe von Familienmitgliedern oder Freunden zieht jeder ein Los mit dem Namen einer anderen Person aus der Gruppe. Er oder sie kauft dann für gewöhnlich ein kleines Geschenk für diese Person und denkt sich etwas Originelles aus. Einige Gruppen entscheiden sich für eine „surprise“ (ausgesprochen wie im Französischen), eine originelle Verpackung für das Geschenk, und nehmen dabei gewöhnlich auf Charaktereigenschaften oder Hobbys des Empfängers Bezug.
Das eine Gesicht [Europas] blickt mit Respekt auf die Vergangenheit, das andere schaut optimistisch in die Zukunft.
Vor allem aber geht das Geschenk oder die surprise mit einem personalisierten Gedicht im Namen von Sinterklaas (und manchmal auch Zwarte Piet) einher. Dieses Gedicht konfrontiert den Empfänger möglicherweise mit Schwächen oder Fehltritten des vergangenen Jahres: eine persönliche Kritik von einer anonymen Quelle, die der Empfänger während der Feier laut vorlesen muss. Spott und Neckerei sorgen für viel Spaß, obwohl sie für den Adressaten manchmal schwer zu schlucken sind.
Es überrascht nicht, dass diese erfundene Tradition in den Niederlanden bei Ausländern, die unsere Offenheit verstehen lernen wollen, höchst beliebt ist. Wir empfehlen sie für ganz Europa – sie passt gut zu einem gereiften, aber sich verändernden Europa mit zwei Gesichtern. Das eine Gesicht blickt mit Respekt auf die Vergangenheit, das andere schaut optimistisch in die Zukunft.
Über die Autoren
Rindert de Groot
Unternehmer, Moderator und Geschichtenerzähler
Rindert de Groot ist Unternehmer, Moderator und Geschichtenerzähler. Er gründete die Firma Empowerplant, deren textuelle und visuelle Produktionen sich auf internationale Kooperation, nachhaltige Kultur und die Wissensgesellschaft konzentrieren. Er ist außerdem Partner und Forscher bei Studio Zeitgeist, wo er sich auf Führung, Unternehmertum und Bildung in der liquiden Gesellschaft konzentriert. Zudem ist de Groot ein Mitglied des Runden Tisches der Worldconnectors, einem hochrangigen Think Tank für die internationalen Angelegenheiten der Niederlande.
Farid Tabarki
Zeitgeist- und Trendforscher
Farid Tabarki ist Zeitgeist- und Trendforscher. Als Gründer von Studio Zeitgeist konzentriert er sich auf die Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft. Radikale Transparenz, radikale Dezentralisierung und die liquide Gesellschaft gehören zu den Konzepten, über die er schreibt und spricht. Er hat eine Kolumne in der niederländischen Tageszeitung „Financieele Dagblad“, er war 2012-2013 Trendforscher des Jahres und stand auf der Volkskrant-Liste der einflussreichsten Niederländer seit 2013, als Einziger unter 40 Jahren.
Kulturreport Fortschritt Europa
Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.
Illustration: Westend61/Gary Waters via picture alliance
Sinterklaas' Ankunft, Foto: ANP/Phil nijhuis via picture alliance.
Zwarte Piet, Foto: ANP/Ramon van Flymen via picture alliance.
Ein Buch mit Sinterklaas und Zwarte Piet, Foto: ANP/Ramon van Flymen via picture alliance.
„Zwarte Piet ist Rassismus“, Foto: NurPhoto/Oscar Brak via picture alliance.
Nikolaus' Helfer ohne Schminke und mit eleganten Kostümen, Foto: NurPhoto/Romy Arroyo Fernandez via picture alliance.
Europa: Festung oder Sehnsuchtsort? Kultur und Migration. Kulturreport Fortschritt Europa 7/2015
Europe: Closed Doors or Open Arms? Culture and Migration. Culture Report Progress Europe 7/2015
Rana Yazaji, Marion Schmidt: An Exercise in Sitting with Discomfort. Towards more equitable support for relocation in North-South contexts, Berlin: MRI, 2022 (ifa Edition Culture and Foreign Policy)