Mein Europa

Unter der Oberfläche des vielerorts friedlichen und wohlhabenden Europas hat sich Angst eingeschlichen – angesichts der vielen Flüchtlinge oder des Rechtsextremismus. Unser Autor meint, die Bürger mit Migrationshintergrund sollten den ersten Schritt machen und mit ihren Landsleuten über deren Ängste sprechen.

Sich selbst zu suchen bedeutet vor allen Dingen, sich mit Erinnerungen auseinanderzusetzen. Mit den Gedächtniskarten, auf denen die Grenzen Europas verzeichnet sind, beginnend mit der Geburtsstadt im Südwesten des Kosovo, den politischen Unruhen, mit denen ich eine ganze Jugend verbracht habe, dem zerstörerischen Krieg, der im gesamten Gebiet des ehemaligen Jugoslawien herrschte, aus dem sieben neue Staaten hervorgingen.

Und danach öffnet sich das Kapitel der Erinnerungen und Reisen auf dem Kontinent: das chaotisch-bürokratischen Brüssel oder mit Den Haag, das am kalten Meer liegt, Paris und die wahnsinnigen Terroristen, Spanien, das auf Mallorca so deutsch wie anderenorts katalanisch ist, das elektrisierte Wien oder Kafkas Prag, der Slowakei ohne Roma, die inzwischen auf dem gesamten Kontinent verstreut sind, das katholische Warschau oder dem melancholische Portugal sowie das prächtigen London. Landkarten und Grenzen, die man irgendwie nicht mehr sehen, sondern nur erinnern will. In Bildern oder in Form von Buchstaben, Buchstaben, Buchstaben.

Sich selbst zu suchen bedeutet, den Menschen zu entfliehen und die Weite der Berge in der Gegend, wo ich lebe, aufzusuchen: sich in Degerloch am Stuttgarter Fernsehturm vorbei dicht durch die Felder in Richtung Daimler-Zentrum treiben zu lassen; oder den Weg nach Waldau hinunterzulaufen zur einzigen Landeshauptstadt Europas, in der die Grünen in Land und Kommune regieren.

Um die Idylle noch perfekter zu gestalten, ist es auch die Landeshauptstadt, die die meisten Maschinen weltweit produziert, jene, in der man gerade dabei ist, einen der modernsten Bahnhöfe Europas zu errichten, eine Hauptstadt, die mit nur 600.000 Einwohnern nicht anders bezeichnet werden kann als eine unendlich heile Welt!

Die Hauptstraße der Gegend in Degerloch heißt Epple Straße. Auf 400 Metern dieser Straße, welche sich über zwei Kilometer erstreckt, gibt es fünf Apotheken, acht Bäcker, neun Einkaufsläden (mehrheitlich Bioläden!), drei Kioske, vier günstige Imbissbuden und vier sehr teure Restaurants, zwei orthopädische Schuhläden, zwei Läden für Hörgeräte, zehn Arztpraxen, vier Zahnärzte, eine Buchhandlung und eine Stadtbücherei, ein sehr schönes weißes Bürgerhaus, eine evangelische Kirche, eine christlich-orthodoxe Kirche, eine apostolische Kirche, zwei Grundschulen, eine Realschule, ein Gymnasium, zwei Wochenmärkte mit frischen Produkten, zwei Tankstellen und, und, und… Menschen aus dem ganzen Kontinent! Auf der oberen Seite von Degerloch, am Waldrand entlang, sind Sportanlagen mit Dutzenden Feldern für Fußball, Tennis, Leichtathletik, Fitness oder Gymnastik. Daran grenzen Altersheime, deren Zahl in den vergangenen zehn Jahren immer weiter und weiter stieg. So sehr, dass es einem schwerfällt, sie zusammenzuzählen.

Das chaotisch-bürokratische Brüssel oder Den Haag, das am kalten Meer liegt, Paris und die wahnsinnigen Terroristen, Spanien, das auf Mallorca so deutsch wie anderenorts katalanisch ist, das elektrisierte Wien oder Kafkas Prag, die Slowakei ohne Roma, die inzwischen auf dem gesamten Kontinent verstreut sind, das katholische Warschau oder das melancholische Portugal sowie das prächtige London. Landkarten und Grenzen, die man irgendwie nicht mehr sehen, sondern nur erinnern will.

Dies ist die heile Welt von Degerloch, in der ich nun seit mehr als zehn Jahren lebe und in der ich mich täglich bewege, besonders in den letzten drei Jahren, ohne mich im Geringsten von ihr zu entfernen, mit Ausnahme von dem gelegentlichen Urlaub in Italien, in Österreich, in Holland, oder der einen oder anderen Reise innerhalb Deutschlands. Dies ist gleichermaßen die heile Welt nahezu jeder Gegend im Süden Deutschlands, aber auch im Norden, Westen oder Osten. Dieses Land ist schließlich weltweit bekannt für seine gleichwertigen Lebensstandards in verschiedenen Regionen.

Unsichtbare Flüchtlinge

Der heilen Welt in Degerloch mit 16.351 Einwohnern haben sich seit einigen Monaten 306 weitere hinzugesellt. Diese neuen Einwohner sind aber so gut wie unsichtbar, weil sie in den umgebenden Wäldern untergebracht worden sind: die Flüchtlinge. Einigen sind sie willkommen – und anderen nicht so sehr.

Oder sollte vielleicht die genaue Verteilung der Stimmen der Degerlocher bei den letzten Bundestagswahlen erwähnt werden? Oder muss es etwa so sein, dass sich die Gnade oder Gnadenlosigkeit gegenüber jenen Menschen, die Hilfe brauchen, in den Bäckereien, Apotheken, Supermärkten, Straßen, Schulen und Wahlurnen in Angst überträgt? Oder ist es eher die Politik, ihre Manipulation, der Krieg gegen den Terror und die verrückten Islamisten, die ein Volk und eine Gesellschaft in das Lager der Populisten zurückwerfen, die nur eine „reine“ Rasse wollen? Grauenerregend, die Landkartenteilung von Vierteln in Städten und Dörfern, von Staaten und Kontinenten, in Rassen. Unerträglich die Angst. Und unverzeihlich die Verwirrung.

Die Grenzen der Ortschaften müssen eingerissen werden für die Menschen, die sich nun hier niedergelassen haben. In den Randbezirken unserer Quartiere, in Containern, Altbauten, verlassenen Gegenden. Das wird nicht einfach sein. Aber es ist allemal einfacher, mit der Arbeit anzufangen. Es wird ein großes Wunder geschehen: Sie werden sich wie ein Teil dieser Gesellschaft fühlen, wie jeder von uns, der nach dem Zweiten Weltkrieg hierhergekommen ist, zum Wiederaufbau Deutschlands, zum Wunder von „Made in Germany“, beim Fall des Eisernen Vorhangs und der Arbeit an der Wiedervereinigung, zur Zeit der grauenhaften Kriege Ex-Jugoslawiens. Und nun während des entsetzlichen Syrien-Krieges, dessen Folgen auch Degerloch mit seinen 306 neuen Einwohnern spürt.

Und Stuttgart ist nicht weit entfernt von den Orten, an denen Terrorattacken auf Menschen verübt wurden: Istanbul, Brüssel, wieder Istanbul, Nizza, Saint-Étienne-du Rouvray, Würzburg, Ansbach, München, London, Berlin.

Machtlose Buchstaben

Normalerweise verbindet man mit diesen Städten Begriffe wie Sightseeing, Strandurlaub, Shoppingtrip oder Wandertour. So wäre es zumindest in gewöhnlichen, ruhigen Zeiten. Unglücklicherweise aber nicht in diesen letzten Monaten und Jahren.

Deshalb sind Buchstaben leider machtlos gegenüber all dem Schmerz und können die Tragödie nicht beschreiben, welche Unbekannte angerichtet haben und die ahnungslose Opfer getroffen hat in all diesen Städten. Die hinterlistigen Morde, das Leid, das diese schreckliche Auseinandersetzung der Religionen und Zivilisationen, der Kulturen und Sprachen, Staaten und Völker erfasst hat: Es ist sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, eine Diagnose der Krankheit zu formulieren, die die Menschheit gerade durchmacht.

So wie das Internet keine Grenzen kennt, wird es auch für die Sicherheits- und Geheimdienste schlichtweg unmöglich sein, die Gefahren und hinterhältigen Angriffe der Frustrierten und Ausgetricksten gänzlich abzuwenden, die im Namen eines Gottes, der nicht existiert, sich selbst und die Menschen um sich herum in die Luft sprengen.

Und es sind die Politiker, die noch mehr als je zuvor die Aufgabe haben, ihren Bürgern Sicherheit zu bieten, wenn diese zur Arbeit gehen oder in den Urlaub fahren. Und die Bürger sind es, die durch ihre Stimmen jenen Politikern ihr Vertrauen schenken müssen, die mit Aufmerksamkeit und Visionen hart daran arbeiten, Frieden herzustellen in diesen so fragilen und unsicheren Zeiten.

Das muss sein. Wobei nichts sein muss, wenn niemand will. Daher denke ich, dass wir in eine Zeit schlittern, die noch furchterregender sein wird als diejenige, in der wir leben. Nach dem Brexit-Votum und dem Sieg Trumps im Jahre 2016 sowie Abstimmungen in den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, Österreich stehen wir da – als wäre nichts passiert. Die Wahlen in diesen Ländern waren auch Referenden: für Nationalstaaten und die Diskriminierung von Ausländern oder für eine Verbesserung der Rechtsgrundlage in der Migrationspolitik und die europäische Zusammenarbeit im Krieg gegen den Terror.

Diese Krankheit, die die Menschheit nicht im Griff hat, kennt weder Propheten noch Ärzte. Weder Politiker noch Geheimdienste können den Unwissenden schützen: Vor dem, der sich mit einem LKW oder einer Bombe auf dem Markt für sein Unglück zu rächen glaubt. Für diesen Sturm, der jederzeit und allerorts losbrechen kann, ob im Kaufhaus, im Fußballstadion, an Bahnhöfen oder anderen öffentlichen Plätzen, findet sich kein Soziologe, Philosoph, geschweige denn ein Schriftsteller mit dem Wissen oder der Macht, der eine hinreichende Antwort auf die Ohnmacht hat. Und das lässt die Menschen noch die letzte Hoffnung verlieren, etwas zu finden, was sich wahrhaftig „menschlich“ nennt.

Unser europäisches, westliches Zivilisationskonzept wird von dem einer anderen Welt angegriffen. Es sind dafür vorbereitete oder manipulierte Individuen, entweder Flüchtlinge oder Migranten der zweiten oder dritten Generation, von denen manche nun als Gefährder gelten, die in Europa aufgewachsen sind, diesem aber dennoch einen Schlag versetzen wollen. Wo und wann auch immer. In dem Jahr, das wir hinter uns lassen, oder jenem, in welches wir nun eintreten.

Somit ist die Angst ein untrennbarer Bestandteil unseres Lebens. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck sagte in einer Ansprache, wir sollten uns nicht fürchten: „Wir spüren die Angst – aber: Die Angst hat uns nicht. Wir spüren die Ohnmacht – aber: Die Ohnmacht hat uns nicht. Wir spüren die Wut – aber: Die Wut hat uns nicht“. Welche Erleichterung! Und dennoch bleibt die Angst. Weil es doch gerade diese Angst ist, die in jeder Rede die Oberhand behält. Auch beim ranghöchsten Repräsentanten des Landes und Kontinents.

Erfundene Ministerien

Und nicht nur Europas. Zwei Beispiele. Die eine Europäerin und die andere aus Asien. Dubravka Ugrešić und Arundhati Roy. Die erste Autorin des Romans „Ministerium der Schmerzen“, die zweite Autorin des Romans „Das Ministerium des äußersten Glücks“. Diese beiden Autorinnen, die ich immer lese, bedienen sich schon im Titel ihrer fiktiven Werke mit inexistenten, erfundenen Ministerien. Und sie erzählen von den Tragödien ihrer Heimatländer. Erstere von Ex-Jugoslawien, einem Staat, den es nicht mehr gibt. Die andere von Indien, einem Land, das gerade mal so überlebt. Erschütternde Erzählungen, geprägt von Jahrhunderte alter individueller und kollektiver Geschichte.

Schriftsteller errichten und zerstören. Heimaten und Imperien. Reale und erfundene. Damit sind sie wie Propheten, die keine Regierung kennen, keine Verfassung, Gesetze oder Zeiten. Und sie nehmen sich das Recht heraus, ihre eigenen „Ministerien“ zu erschaffen. Wie die Frauen, um die es hier geht.

Schriftsteller errichten und zerstören. Heimaten und Imperien. Reale und erfundene. Damit sind sie wie Propheten, die keine Regierung kennen, keine Verfassung, Gesetze oder Zeiten.

Ob es wohl auch einen Roman mit dem Titel „Heimatministerium“ gibt? Oder „Vaterlandsministerium“? Die beiden Bezeichnungen für das Herkunftsgebiet unterscheiden sich nicht nur im Geschlecht – die Heimat und das Vaterland. Der Begriff Heimat klingt viel heimeliger und wurde auch in der Vergangenheit eindeutig weniger missbraucht als das „Vaterland“.

Das Vaterland

Deutsche Politiker der Christlich Demokratischen Union (CDU) fordern, dass in Deutschland nach bayrischem Vorbild ein Heimatministerium gegründet wird, auch als Antwort auf das Ergebnis der jüngsten Wahlen, bei denen die rechtsgerichtete AfD zum Teil zweistellige Ergebnisse erzielte. Ich nehme an, dass sich auch die AfD-Führung unter Herrn Gauland & Co. mit dieser Vorstellung anfreunden kann. Nur, dass sie eben weitergehen würden. Sie würden es Vaterlandsministerium nennen!

Zu diesem Thema schrieb ich vor zehn Jahren ein Gedicht mit dem Titel „Das Vaterland” das Michael Krüger in der Literaturzeitschrift „Akzente“ veröffentlicht hat:

Von dir Vaterland sagen viele du seist für sie/ Vater und Land. Für dich werden viele tränen vergossen/ von wissenden und unwissenden du hast die macht/ alles dir eigen zu machen. deine erde ist alt, dein himmel/ unendlich, die menschen gehören niemand als Gott und dir/ so auch vögel, die flüsse, die ebenen, die meere,/ die schmerzen, die kinder, die träume… die eroberer/ die poeten, die verliebten, die verratenen, die vergreisten…/ alle gehören dir… so auch das leben, der tod./ nur eins ist mir nicht klar/ Vaterland/ wem gehörst du?

Ich meine, dass es ziemlich schwer ist, die politischen Situationen zu klären, durch welche kleine und große Völker gehen – ob mit Romanen, in denen Ministerien kreiert werden, oder mit Gedichten, die etwas vom Vaterland verlangen. Besonders nicht in der Zeit, in der wir leben.

Stumme Nachbarn

Denn die AfD ist mittlerweile Realität in Deutschland. Manch einer mag es Normalität nennen, die zum restlichen Europa passt, in welchem die Rechtsextremen ihre Wähler schon längst gefunden haben, und sie immer wieder fischen mit den geeigneten Ködern für all ihre Ressentiments und Ängste, die da eine Rolle spielen.

Ich behaupte: Wir sind es, die Bürger mit Migrationshintergrund, die daran ebenso sehr schuld sind wie die Parteien der Mitte, der Rechten oder der Linken. Denn wir haben es nicht geschafft, mit diesen Millionen von Menschen, unseren Nachbarn, den Arbeitskollegen, den Wartenden in der Bäckerschlange oder den Hartz IV-Sozialhilfe-Beziehern in der Arbeitsagentur, über ihre Ängste zu sprechen, die sie angesichts der vielen Flüchtlinge haben. Die Diskussionen unserer Mitbürger, die zur Rechten hin- „migrierten“ und ihre Schuldzuweisungen an Millionen Mitmenschen wirken so tragisch wie angsteinflößend. Und so beunruhigen auch die Diskussionen über ein Heimatministerium bei den Rechten und der Begriff der Heimat bei den Linken umso mehr.

Sollen wir nun auch anfangen über ein Migrationsministerium zu reden, oder gar ein Integrationsministerium fordern? Nein! Das, was wir – die neuen Deutschen, die neuen Europäer, die Millionen Bürger dieses Landes und Kontinents mit Migrationshintergrund – machen müssen, ist ganz einfach: anfangen mit unseren Landsleuten über ihre Angst zu sprechen. Das Tabu brechen und sie fragen „Warum habt ihr Angst? Wovor genau?“ Wir müssen ihnen sagen, dass auch wir Angst haben. Dass wir unter Umständen sogar mehr Angst haben als sie. Angst vor Gauland, aber auch vor denjenigen Neuankömmlingen in diesem Land, die nicht kommen, um Schutz zu suchen, sondern um uns in den Innenstädten anzugreifen, in Zügen oder auf Flughäfen.

Wir müssen anfangen mit unseren Landsleuten über ihre Angst zu sprechen. Das Tabu brechen und sie fragen „Warum habt ihr Angst? Wovor genau?

Wir leben ohne Heimat – aber für diesen neuen Staat, Deutschland, und für diesen Kontinent, Europa, in dem unsere Kinder geboren sind, müssen wir den ersten Schritt machen. Ich für meinen Teil habe begonnen mit meinen Bekannten und Freunden über ihre Ängste zu sprechen. Und meine Angst sowieso!

Über den Autor
Beqë Cufaj
Autor, Botschafter a. D.

Beqë Cufaj, 1970 im Kosovo geboren, ist langjähriger Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ ). Daneben hat er Romane und Essay-Bücher veröffentlicht. Cufaj war 2018 bis 2021 Botschafter der Republik Kosovo in Deutschland. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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