Pässe, Hochzeitsglocken und Beuteltiere

Für Glenn Patterson bestand die Anziehungskraft Europas darin, dass man nicht durch eines seiner Zentren gehen musste, um Kontakte zu knüpfen. Sein Europa war das der ungehinderten Bewegung von Ideen und Menschen und nichts weniger als ein Lebensgefühl.

Mein erster irischer Pass traf an dem Januartag ein, als Premierministerin May im britischen Unterhaus aufstand, um das Gesetz anzukündigen, das Artikel 50 einleiten sollte. Ziemlich eindrucksvolles Timing, könnte man meinen, aber ich war ein bisschen spät dran.

In den Tagen nach dem EU-Referendum im Juni 2016 – Tage, an denen ich Nachbarn tatsächlich auf der Straße weinen sah – gab es einen solchen Run auf irische Pässe, dass darüber berichtet wurde, dass Poststellen in Nordirland die Antragsformulare ausgegangen waren. Selbst das Parlamentsmitglied Ian Paisley, ein prominentes Mitglied der Democratic Unionist Party oder DUP, die für den Ausstieg aus der EU kämpfte, drängte jeden, der berechtigt war, den Antrag zu stellen, als wolle er sagen, „wir hätten sowieso nicht gedacht, dass ihr das mit dem EU-Ausstieg glaubt…”

Und weil es hier natürlich um Nordirland geht, eine administrative Region des Vereinigten Königreichs, dessen Bürger in der Verfassung der Republik Irland „durch Anspruch und Geburtsrecht“ ein anerkannter Teil der irischen Nation sind, war so gut wie jeder berechtigt.

Die Frage nach dem Pass

Tatsächlich lag mein eigener Antrag auf einen irischen Pass zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast drei Jahren in einer meiner Schreibtischschubladen – seit den Tagen, in denen ein Referendum noch ein Aufblitzen im wirren Blick eines Mannes war. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich ihn mir vor einer geplanten Reise in die USA geholt. Es ist leichter, Visa mit einem irischen Pass zu bekommen, so hatte man mir immer gesagt, also hat es mich überrascht, als kürzlich jemand das genaue Gegenteil behauptete, dass nämlich viele Menschen hier, deren erste Wahl ein irischer Pass wäre, speziell für transatlantische Reisen einen britischen nahmen.

In den Tagen nach dem EU-Referendum im Juni 2016 […] gab es einen solchen Run auf irische Pässe, dass darüber berichtet wurde, dass Poststellen in Nordirland die Antragsformulare ausgegangen waren.

Das erinnert mich aus irgendeinem Grund an eine dieser wiederkehrenden Auseinandersetzungen, die meine Brüder und ich bei langen Reisen auf dem Rücksitz des Familienautos darüber hatten, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen sei, wenn Kühe sich auf ein Feld niederlegen. Ich weiß nicht mehr, wer von meinen entnervten Eltern die Auseinandersetzung schließlich mit der Aussage beendete, dass es definitiv ein schlechtes Zeichen sei, wenn die Kühe ihre Beine nach oben strecken.

Die Frage nach dem Pass war hier in Nordirland schon immer eine komplizierte Angelegenheit. Seamus Heaneys Erklärung in seinem Gedicht „Open Letter“ von 1983, „Be advised, my passport is green”, wird oft zitiert – hingeworfen würde es noch besser treffen – weniger oft wird sein reumütiges Eingeständnis in zahlreichen Interviews erwähnt, dass sein Pass in seinen jüngeren Jahren ein britischer war im „alten blauen Stil“ – typisch, wie er sagte, für die „Verflechtung und Widersprüchlichkeiten” dieser Herkunft.

Seit den späten 1980er Jahren haben natürlich beide Pässe das gleiche Bordeauxrot der EU, was Heaneys Reim von „green“ auf „Queen“ sinnlos gemacht hätte. Heutzutage unterscheiden sich lediglich die Wappen auf der Vorderseite und der Text darunter. Trotzdem habe ich auf Reisen mit nordirischen Freunden bemerkt, dass wir alle diskret wegsehen, wenn wir unsere Pässe beim Check-in vorzeigen müssen, da Pässe hier eine dieser – sehr – groben Hinweise auf die Religion eines Menschen sind.

Nordirland war immer, um es mit dem Titel von Dervla Murphys 1978 erschienenem Buch zu sagen: A Place Apart. Selbst vor der Abtrennung im Jahr 1921 – sogar vor der Besiedlung 300 Jahre früher – schreibt Murphy, waren die „Northerners“ „ein anomales Volk“, ausscherend aus dem Rest Europas – und aus dem Rest von Irland.

Die Frage nach dem Pass war hier in Nordirland schon immer eine komplizierte Angelegenheit.

40 Jahre später sind die knapp 14.200 Quadratkilometer, die lose von der (einstweilen) unsichtbaren Grenze umgeben sind – dem „Vierten grünen Feld“ sentimentaler irischer Balladen – ziemlich unsentimental der einzige Teil dieser Inseln, wo du den Menschen, den du liebst, nicht heiraten kannst, wenn dieser Mensch zufällig das gleiche Geschlecht hat wie du.

Im September 2015 führte ich im Rahmen der Belfaster Kulturnacht eine OpenAir-„Hochzeitszeremonie“ zwischen zwei Männern durch, die sich tatsächlich sehr liebten. Wenngleich es eine Aufführung war – obwohl, seien wir ehrlich, welche Hochzeit ist dies nicht? – machte ich mir die Mühe, mich vorher ordinieren zu lassen. Und eine „Mühe“ war es wirklich: Meine OnlineOrdination dauerte so lange wie die amerikanische Firma – Entschuldigung, Kirche – brauchte, um meine Bankdaten zu verifizieren: „Wenn sich diese Seite nicht in 30 Sekunden erneuert… 29, 28…“ Ping! – Da war es, da war ich, auf Empfehlung des Kirchenrats, der offensichtlich eilig zusammengetreten war, lizensiert, Hochzeiten in 43 von 50 Staaten durchzuführen und – nur für eine Nacht – auf den Stufen vor dem Merchant Hotel in Belfast. Diese Amerikaner wären eigentlich perfekt dafür gewesen, beim Rückstau zu den irischen Pässen im Juni 2016 zu helfen.

Übrigens habe ich meinen Kindern die Neuigkeit noch nicht mitgeteilt, dass sie, aufgrund dessen, wie ich wahrgenommen werde, auch Protestanten sind. Ich fürchte, der Effekt, der noch zum Brexit hinzukommt, wäre der Gleiche, wie wenn ein gedehntes elastisches Band plötzlich zurückschnalzt. Wie viele andere Kinder hier könnten sie ihre Identität zerlegen, nahezu bevor sie mit Messer und Gabel umzugehen lernen: Zunächst einmal haben sie natürlich die Ehre, aus Belfast zu kommen, ihre Mama aber stammt aus Cork, das machte sie also zu Iren, auf ihren Pässen war eine Krone zu sehen, das machte sie zu Briten und auf Flughäfen liefen sie zu dem blauen Zeichen mit dem hübschen Kreis aus goldenen Sternen, das machte sie zu Europäern.

Simpel wie Sticklebricks

Irgendwann in den frühen 2000er Jahren – im Vorfeld des Vertrags von Nizza, wie ich mich erinnere, und wie sehr sich das nun nach Staffel 1 anhört – lud mich das British Council in Brüssel ein, einen Beitrag für einen Essayband zum Thema Identität zu schreiben. Ein befreundeter Schriftsteller, der auch nach einem Beitrag gefragt worden war, sagte, für jemanden aus Nordirland sei das ein bisschen so, als ob jemand mit einer Faust voller Geldscheine an deiner Tür steht und dich nach einem alten Strick fragt. Zu diesem Zeitpunkt haben wir darüber gelacht.

Ich habe diesen Freund kurz nach dem Brexit-Ergebnis getroffen. Er erzählte mir mit finsterem Blick, dass er nun genug von diesem Ort habe. Nordirland war immer nur deshalb erträglich gewesen, wenn es Teil von etwas Größerem war, einem Gefüge ineinandergreifender Beziehungen. Wenn man nun also draußen im Atlantik steckt, wieder mit einer Grenze zum Rest der Insel und – wer weiß? – vielleicht einem unabhängigen Schottland im Osten, wäre es wie ein verlorenes Puzzleteil, ja, noch schlimmer, es wäre wie ein Teil, dem ein Puzzle fehlt, zu dem es gehören kann.

Vor einigen Monaten war ich im Lyric Theatre in Belfast zu einer Doppelaufführung von Musik-Theaterstücken von Conor Mitchell, dem künstlerischen Leiter eines neuen Musik-Theater-Kollektivs, dem Belfast Ensemble. Die Stücke – „Die HabsburgTragödien Teile 1 & 2”, ein Vers-Zyklus gefolgt von einem Melodram – drehten sich um Katharina von Aragon beziehungsweise ihre Schwester Johanna von Kastilien, auch bekannt unter dem Namen Johanna die Wahnsinnige, und waren, wie ihr Autor sagt, ausdrücklich ausgedacht, um über Europa zu sprechen.

Nordirland war immer nur deshalb erträglich gewesen, wenn es Teil von etwas Größerem war, einem Gefüge ineinandergreifender Beziehungen. Wenn man nun also draußen im Atlantik steckt, […] wäre es wie ein verlorenes Puzzleteil.

Mitchell ist so besorgt um die Zukunft wie wir alle. Wenn wir, wie er sagt, in der Zukunft nicht in der Lage sind, einen Lastwagen von Marks and Spencer von Belfast nach Dublin zu schicken ohne strenge Zollkontrollen, wie um Himmels Willen holen wir dann die Dänische Staatsoper hierher? Das Theater in Nordirland, hat sich, so sagt er, entwickelt wie ein Beuteltier und ich bin versucht, hinzuzufügen: nur das Theater?

Nach der Vorstellung kam ich mit einigen Leuten ins Gespräch, die von Dublin gekommen waren, um die Vorstellung zu sehen und die ihre Pässe – sie nahmen sie heraus und zeigten sie mir – mitgebracht hatten, für den Fall, dass man sie an der Grenze anhalten würde. Das dritte Mitglied ihrer Gruppe hob skeptisch die Augenbrauen. „Dazu ist es nicht gekommen“, sagte sie dann und fügte dann ein bisschen weniger zuversichtlich hinzu, „und mit etwas Glück wird es auch nie dazu kommen.“

Ich persönlich setze meine Hoffnungen auf das Beispiel des nordirischen Friedensprozesses, womit ich, wie ich gleich ergänzen will, nicht meine, dass die Brexit-Verhandlungen eine überall gepriesene Orientierung für den Rest der Welt sein werden, sondern vielmehr, dass sie sich so lange hinziehen, dass sie zu einem Ding für sich werden, einem Kapitel in den Geschichtsbüchern von 2117, beinahe so lang wie das, was sie einfach abschließen wollten. Lassen wir sie es lange genug hinziehen und es besteht die Chance, dass die Verhandlungsführer aus den Augen verlieren, woher sie kamen und wohin sie gehen wollten. Oder wenn sie dies nicht aus den Augen verlieren, dann, dass sie beides endgültig so umdrehen, dass nichts mehr zu erkennen ist, wie es die Politiker hier vor langer Zeit getan zu haben scheinen.

Der Brexit und wie man darauf reagiert, kam auf die Agenda der jüngsten Runde der hier stattfindenden Krisengespräche. Unsere zwei größten Parteien und frühere Koalitionspartner Sinn Fein und die DUP, die beim Referendum in gegensätzlichen Lagern Wahlkampf betrieben hatten, was übrigens damit endete, dass 56 Prozent dieser nordirischen Wähler für den Verbleib stimmten.

Unter uns gesagt: Ich habe immer gedacht, dass London und Dublin heimlich ineinander verliebt sind.

Und doch haben die Menschen hier, wie Dervla Murphy vor 40 Jahren feststellte, welche Religion oder Wahlgewohnheiten sie auch immer haben, mehr miteinander gemeinsam als sie anerkennen oder zugeben – viel, viel mehr als mit ihren Partnern in Dublin oder auch London. Unter uns gesagt: Ich habe immer gedacht, dass London und Dublin heimlich ineinander verliebt sind. Klar hatten sie irgendwann einmal ihren großen Krach, aber jeder der beiden, so denke ich, erkennt im anderen etwas von sich selbst – im Hinblick auf die Architektur oder das Temperament – und beide blicken mit einer Mischung aus Verzweiflung und Abneigung nach Norden.

Der Reiz in Europa zu sein

Für mich bestand der Reiz, in Europa zu sein, unter anderem darin, dass man nicht durch eines dieser Zentren – Dublin oder London – gehen musste, um Kontakte zu knüpfen. Das Europa, zu dem ich mich zugehörig fühlte, war nicht so sehr das Europa der großen Hauptstädte – wenngleich ich in jeder beliebigen von ihnen ganz gut leben könnte, danke schön –, sondern das Europa der provinziellen Industriestädte Essen, Posen, Debrecen, sogar jener Städte, die nicht auf „n“ enden. Es war der Unterschied zwischen einem Leben in der Peripherie und dem in einer Art trans-europäischen Version des Paris Périphérique: Der ständige Verkehr zog mich an, die ungehinderte Bewegung von Ideen und Menschen. Und dann wurde auf die Bremsen getreten.

Ein Freund hatte mich angerufen, bevor ich anfing, an diesem Essay zu arbeiten. Er, der für den Verbleib in der EU gestimmt hatte und ein geborener Londoner ist, hat seine Familie ins County Fermanagh gebracht, das eine Grenze – die Zukunft ist noch unbestimmt – auf drei Seiten hat. „Habe ich das Richtige getan?“, fragte er, „indem ich hier lebe?“ Ich wollte etwas Beruhigendes sagen, aber er war genau die Person, die ich zur eigenen Beruhigung anrufen wollte, wenn die ganze Unsicherheit zu viel werden würde und ich muss sagen, ein paar Tage später kam es beinahe dazu.

Es war der Unterschied zwischen einem Leben in der Peripherie und dem in einer Art trans-europäischen Version des Paris Périphérique.

Und dann erhielt ich ganz plötzlich eine Einladung zu einer Hochzeit von zwei Freunden – von denen ebenfalls keiner in Nordirland geboren war – ein bereits glückliches Paar, das sich zur Heirat entschlossen hatte, nachdem die Verabschiedung des Gesetzes zum Artikel 50 an dem Tag verkündet worden war, an dem auch mein irischer Pass eintraf.

„Ich bin die zweite mir bekannte Brexit-Braut” erzählte mir die Frau (nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ich, wenn sie in 43 von den 50 Staaten heiraten wolle, dazu lizensiert war), und sie nannte einen anderen unserer Bekannten, der sich für genau das Gleiche zur gleichen Zeit entschieden hatte und – wenig überraschend – aus exakt dem gleichen Grund, nämlich dem Gefühl, dass, wenn die eine Union in einer Atmosphäre schwelender Feindseligkeit aufgelöst wird, eine andere mit Liebe gefestigt werden sollte.

Ich weiß nicht, ob es zwangsläufig ein Bekenntnis zu diesem Ort sowie zueinander ist – obwohl ich es wirklich hoffe. Aber gleichwohl weiß ich auch nicht, ob die Tatsache, dass ich zu Beginn des Jahres schließlich den Antrag für einen irischen Pass aus meiner Schreibtischschublade holte, einfach Teil meines Vorfrühlingsputzes war, als das ich es ausgab, oder etwas Mehrdeutigeres, das Äquivalent des Zweibeiners zu einer auf dem Gras liegenden Kuh, oder ob es letztlich ein Zeichen dafür ist, dass ich unbewusst fürchte, dass dieses „Vierte grüne Feld“ nach dem Brexit vielleicht wirklich die Hufe nach oben streckt.

Über den Autor
Glenn Patterson
Schriftsteller

Glenn Patterson ist ein Schriftsteller aus Belfast, der vor allem Romane schreibt. Er drehte bereits Dokumentarfilme für die BBC und schrieb Theaterstücke für die BBC-eigenen Sender Radio 3 und Radio 4. Patterson ist seit 2017 Direktor des Seamus Heaney Centre und Professor für Kreatives Schreiben an der Fakultät für Kunst, Englisch und Literatur der Queen’s University Belfast. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen „The Last Irish Question“ (2021), „Where Are We Now?“ (2020) und „Backstop Land“ (2019).

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