Viel grausamer als die ökonomische Krise ist die weit verbreitete geistige Krise: Wir sind zu Wörtern geworden, zu Nummern, zu Herdentieren. Man kann zwar sagen, was man will, aber es ist alles bedeutungslos. Egoisten und Zyniker geben den Ton an, und dazu sind sie nicht einmal aus reiflicher Überlegung geworden, sondern einfach so. Hat man sich diese Haltung einmal zu eigen gemacht, kommt einem dann vieles gar nicht mehr so seltsam vor. Zum Beispiel, dass ein Staat seine Bürger unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung in einen Krieg führt (Großbritannien) oder seine Verbündeten in großem Stil ausspioniert (USA). Individuen wie jener junge, weiße Rechtsradikale aus Norwegen greifen zur Waffe und legen andere einfach um.
Mit Ideologie hat das nichts zu tun, es ist reine Triebbefriedigung. Wie sehen die Menschen außerhalb der einst privilegierten westlichen Welt diesen Wandel? Wenn auch in den Demokratien nur noch eine Minderheit für die Mehrheit entscheidet, was unterscheidet sie dann noch von Diktaturen? Warum sollte man seinen Traum vom Glück dort suchen, wo albtraumhafte Verhältnisse herrschen? Lohnt sich das? Ein gutes Beispiel dafür, wie freie Wahlen durch das Volk von nichts als unmittelbaren Profitinteressen geleitet werden, gibt Ungarn. Das Land, das einmal als eines der fortschrittlichsten unter den Ostblockstaaten galt, hat nun eine demokratisch gewählte, rechtspopulistische Regierung, die sich – ganz abgesehen von ihrem provinzlerischen Nationalismus – nicht einmal davor scheut, die Freiheit der Rede einschränken zu wollen. Dieses Beispiel ist symptomatisch für so genannte Demokratien, in denen nach den Kriterien des schnellen Profits gewählte Mehrheiten gebildet werden, die sich aber noch lange nicht dem Ideal einer offenen Gesellschaft verpflichtet fühlen. Im Gegenteil: Es werden „Demokratien“ hervorgebracht, in denen Macht missbraucht werden kann und auch täglich wird. Im Extremfall stützen sie sich auf die Macht mafiöser Strukturen.
Was tun? Ich sehe in diesem Albtraum eine Chance – schließlich führt das Fragezeichen hinter der Demokratie dazu, dass diese Frage heute zum ersten Mal von der ganzen Menschheit neu verhandelt werden kann. Wir denken sie neu, und die ganze Welt mischt sich ein in die Diskussion darüber, was Demokratie heißt und wie wir sie verwirklichen können.
Was tun? Ich sehe in diesem Albtraum eine Chance – schließlich führt das Fragezeichen hinter der Demokratie dazu, dass diese Frage heute zum ersten Mal von der ganzen Menschheit neu verhandelt werden kann.
Dringlich ist diese Frage jetzt dort, wo Demokratie bislang eine alte Bekannte schien, in Europa und den USA. Erst jetzt wird uns vielleicht bewusst, dass Demokratie kein Ende hat und es sich dabei um ein Thema handelt, das immer wieder neu erörtert werden muss. Es kann nicht ausreichen, die Idee der Demokratie auf ein Spiel von Mehrheiten zu reduzieren. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf ihre Grundlagen, und das bedeutet, eine wirkliche Unabhängigkeit in unserem Denken und Handeln. Kurz gesagt, eine Rückbesinnung auf die Ideen der Aufklärung. Das muss die Prämisse sein.
Sie reden von Politik und meinen Business, Parolen häufen sich auf zu einem Phrasenberg, einem Schaumbad, einer Flutwelle, unter denen die Wahrheit über unsere Lage erstickt wird.
Für mich kommt diesem grundsätzlichen Infragestellen der Bedeutung von Demokratie ein großer Stellenwert zu. Zu fragen hilft uns, von vorn anzufangen, die Fesseln in Form des ungleich verteilten globalen Profits abzuschütteln und alle Menschen am selben Horizont zu sehen, außerhalb ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Kulturen und Sprachen, außerhalb der Trennungslinien von Ost und West, und zu erkennen, wer man wirklich ist. Wo ist mein Platz in dieser Welt? Wie kann ich mit all den anderen Ichs in einen gleichberechtigten Dialog, Streit, Wettbewerb treten? Wie einigen wir uns? Dieses Ich zu nähren bedeutet, den Geist der ganzen Menschheit zu beflügeln.
Zu fragen hilft uns, von vorn anzufangen, die Fesseln in Form des ungleich verteilten globalen Profits abzuschütteln und alle Menschen am selben Horizont zu sehen, außerhalb ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Kulturen und Sprachen, außerhalb der Trennungslinien von Ost und West, und zu erkennen, wer man wirklich ist.
Im Juli 2013, während meines letzten Monats am Berliner Wissenschaftskolleg, standen sich gerade das ägyptische Volk und das Militär lärmend in den Straßen Kairos gegenüber, und täglich erreichten uns besorgniserregende Nachrichten. Aus diesem Grund organisierte das Wissenschaftskolleg eine Diskussionsrunde, zu der drei arabische und ein türkischer Wissenschaftler geladen waren. Über zwei Stunden lang wurde hitzig bis heftig debattiert. Im Zentrum der Debatte stand die Frage, wem die Macht im Staate zustand, dem Militär mit seinem „westlichen“ Hintergrund oder den von islamischen Fundamentalisten gestützten Massen auf der Straße.
Während die Podiumsteilnehmer sich fast so heftig bekriegten wie die Menschen in Ägypten, gerieten auch im Publikum die Gemüter zunehmend in Wallung. Ich hörte still und aufmerksam zu, doch bemächtigte sich meiner allmählich ein Zweifel, der mich nicht mehr losließ. Sicher bin ich um die Sicherheit meiner Freunde im Mittleren Osten besorgt.
Aber im Laufe der Diskussion fragte ich mich viel mehr, warum sich die vier Podiumsteilnehmer während ihrer zweistündigen Debatte zwar heftig darum stritten, wie in Ägypten die Machtverhältnisse aussehen sollten, aber niemand darüber sprach, wie sie sich die Zukunft des Landes vorstellten, auf welche ideologischen Grundlagen die Demokratie dort bauen solle. Anders gesagt: Auf welche Weise kann in einem Land, das auf uralten islamischen Traditionen fußt, durch Besinnung auf sich selbst die Transformation zu einem modernen Staat gelingen?
Wenn es nicht das war, worum es ging, warum dann überhaupt dieser offene Zusammenprall auf der Straße? Was gewinnt die „Demokratie“, wenn die Macht von einer Militärdiktatur auf eine Religionsdiktatur übertragen wird, wo läge der Erfolg dieser Transformation?
Neues kulturelles Bewusstsein
Am Ende konnte ich also doch nicht mehr an mich halten und meldete mich zu Wort. Erzählte vom neuen kulturellen Bewusstsein im China der 1980er Jahre, kurz nach der Kulturrevolution, um zu verdeutlichen, was es mit der kulturellen Modernisierung im China des 20. Jahrhunderts auf sich hat, und sprach von der Suche nach dem Wesen des chinesischen Denkens in unserer modernen Gesellschaft.
Und dann zitierte ich die Worte meines Freundes, des großen arabischen Dichter Adonis: „Ich bin gegen den Islam“. Er stellte sich mit diesen Worten einer religiösen, ihre Macht missbrauchenden Autokratie entgegen und gab mir ein lebendiges Beispiel dafür, wie die moderne Erneuerung der arabischen Kultur aussehen kann: ein großer Mann des Wortes zu sein, ein Individuum, ein Mensch, der es wagt, sich selbst herauszufordern.
Dieser selbständig denkende Mensch, jemand, der in der Lage ist, sich sein eigenes Urteil zu bilden, ein (selbst-)bewusster Mensch also ist der Ausgangspunkt für unsere Erwartungen an eine moderne Demokratie. Die Globalisierung hat dem Thema Demokratie einen neuen Kontext gegeben, sie ist nicht nur für die arabische Welt oder für China neu zu verhandeln; auch für das verwirrte Europa oder die USA, deren Selbstbewusstsein gelitten hat, muss die Frage nach Demokratie neu gestellt werden.
Es herrscht Verwirrung über globale Werte, was nicht heißt, dass es gar kein Wertesystem mehr gibt. Es stellt den Einzelnen nur vor größere Herausforderungen, zum Beispiel sich auf die eigenen Wertvorstellungen zu besinnen. Renne nicht blind hinter der lärmenden Masse her, fang an zu denken und nimm jedes Problem kritisch unter die Lupe, bevor du dir ein Urteil bildest. Die Verantwortung für die Reflexion über Volk, Kultur, Tradition und das Ziel der Geschichte liegt jetzt bei jedem einzelnen. Und das betrifft alle Ebenen, von Fragen der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur bis hin zu Sprache und Ästhetik. Vielleicht sind es vor allem die Dichter, die schon längst zu diesem selbständig denkenden Menschen gehören. Dann wäre das Zeitalter der Globalisierung das Zeitalter der Poesie.
Vielleicht sind es vor allem die Dichter, die schon längst zu diesem selbständig denkenden Menschen gehören. Dann wäre das Zeitalter der Globalisierung das Zeitalter der Poesie.
Aus dem Chinesischen von Karin Betz