Illustration zeigt eine Gruppe von Menschen vor einer Spalte, gegenüber liegt eine große Euromünze.

Unser globales Durch­einander

Was tun gegen Populismus und Extremismus? Wenn es darum geht, eine zivilisierte Gesellschaft zu organisieren, spielt der Zugang zu Wissen die Hauptrolle. Ein Plädoyer für eine radikale Open-Access-Politik.

Falls Sie es nicht bemerkt haben: Unsere Herausforderungen sind lächerlich einfach. Wir zerstören den einzigen Planeten, den wir haben, zum Wohle einiger weniger Glücklicher und die Ressourcen, um etwas dagegen zu tun, verweilen in Steueroasen und anderen spekulativen Abzweigungen. Es sind nicht nur der Klimawandel und die Dramen, die er hervorruft – ich denke mal, Sie haben den Stern-Bericht nicht gelesen – sondern die generelle Verschmutzung von Süßwasser, die Abholzung der Wälder, die Sterilisierung des Bodens durch Monokultur, übermäßige Bearbeitung des Bodens und Chemie, die Zerstörung der biologischen Vielfalt (zwischen 1970 und 2010 haben wir 52 Prozent der Wirbeltiere verloren), die Zerstreuung der Bienen und Insekten im Allgemeinen, das Drama der Überfischung, die Antibiotika in unserem Essen und das Auftreten resistenter Bakterien und so weiter – all dies wird Ihre Phantasie anregen.

Als mein Vater im Jahr 1900 geboren wurde – ich spreche von meinem Vater, nicht von alter Geschichte – waren wir 1,5 Milliarden Menschen. Seitdem haben wir die 7,6 Milliarden erreicht und wachsen jedes Jahr um weitere 80 Millionen. In einigen Dingen sind wir tatsächlich gut. Aber wenn wir diese Bevölkerungsexplosion mit der Tatsache zusammenbringen, dass unser Ehrgeiz im Leben im Allgemeinen darin besteht, mehr Dinge zu kaufen, dann ist offensichtlich, dass wir bald an eine Wand fahren werden. Wir haben keine sanfte Landung vor uns, es ist eine Frage der Trägheit. Wie ein brillanter amerikanischer Gelehrter meinte, kann nur ein Idiot oder ein Ökonom denken, dass wir unseren Konsum auf einem begrenzten Planeten auf unbestimmte Zeit ausdehnen können. So weit zum Planeten.

Der Schneeballeffekt

Lassen Sie mich auf die wenigen Glücklichen kommen; hier ist die Crédit Suisse großzügig mit Zahlen über Ungleichheit und Oxfam damit, die Botschaft zu verbreiten. Der Elefant im Raum ist natürlich die Tatsache, dass ein Prozent der reichsten Familien mehr Reichtum haben als die verbleibenden 99 Prozent. Und 26 Familien haben mehr als die 3,8 Milliarden in der unteren Hälfte unserer Weltgesellschaft, wie in Davos vorgestellt wurde. Sie müssen immens produktiv sein, denn wir könnten uns nicht vorstellen, dass sie all diese Vermögen angehäuft haben, ohne sie verdient zu haben. Haben Sie „Unjust Deserts: How the Rich Are Taking Our Common Inheritance“ von Gar Alperovitz und Lew Daly gelesen? Sehr anregend.

Und um es Ihnen zu ersparen, die 720 Seiten von Thomas Pikettys Studie über das Kapital in unserem Jahrhundert durchzugehen, komme ich gleich auf die grundlegende Tatsache: Das eigene Geld in Finanzpapieren anzulegen, zahlte sich mit ungefähr sieben bis neun Prozent in den letzten Jahrzehnten aus, während die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, wie in den weltweiten BIP-Zahlen berechnet, nur einen Fortschritt zwischen zwei und 2,5 Prozent zeigt. Und bedenken Sie freundlicherweise: Ein Milliardär, der seine Milliarde in Papieren anlegt, die lediglich fünf Prozent pro Jahr einbringen, verdient 137.000 Dollar pro Tag. Und am nächsten Tag wird er Zinsen für eine Milliarde plus 137.000 Dollar verdienen und so weiter. Im Finanzwesen nennt man das den „Schneeballeffekt“. Und der Typ muss nichts herstellen, sondern einfach nur hin und wieder den Hedgefonds oder die Leute in Panama anrufen, um zu hören, wie es läuft. Nun, dies ist eine freie und demokratische Welt und jeder kann teilnehmen, es sei denn, es fehlt das Geld dazu, was buchstäblich ziemlich ungünstig ist. Natürlich ist dies bei der großen Mehrheit der Fall.

Das sind also unsere Dramen: die Herausforderung der Umwelt und die soziale Herausforderung. Wir müssen damit aufhören, unsere natürliche Welt zu zerstören und wir müssen die soziale und wirtschaftliche Einbindung der Milliarden von Abgehängten organisieren. Wir wissen, was wir tun sollten. Die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) haben dies in 17 und 169 Unterzielen sehr gut zusammengestellt. Die Gipfel in New York und Paris im Jahr 2015 waren ein Erfolg und sorgten für Begeisterung, bis der dritte Gipfel in Addis Ababa versuchte, die entsprechenden finanziellen Mittel aufzutreiben. Sie haben es erraten, es war ein Fiasko. Aber Paris konnte der Entscheidung zustimmen, jedes Jahr 100 Milliarden Dollar zu generieren, um sich dem Umweltdrama zu stellen. Ich erinnere mich, dass meine erste Reaktion war, dies für eine ziemliche Verpflichtung zu halten.

Aber dann verglich ich das mit den Zahlen der Steueroasen. Im Jahr 2012 haben wir laut dem Tax Justice Network zwischen 21 und 32 Billionen Dollar verschwinden lassen. Der „Economist“ hat es abgerundet auf 20 Billionen, aber dies ändert nichts an meinem Argument: 20 Billionen sind 200 Mal so viel wie die 100 Milliarden, die in Paris so ehrgeizig als Ziel postuliert worden sind.

Das Geld in Steueroasen kommt im Wesentlichen aus Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Korruption und Spekulation. Die Verpflichtung, 100 Milliarden aufzubringen, erforderte die Teilnahme von Staatsoberhäuptern der ganzen Welt mit lobenswerten Zielen. 200 Mal so viel in Steueroasen zu stecken, dafür brauchte es lediglich Hinterzimmer in Banken, die man großzügig „Abteilungen für Steueroptimierung“ nennt. Direkt neben den Compliance-Abteilungen.

Das sind also unsere Dramen: die Herausforderung der Umwelt und die soziale Herausforderung. Wir müssen damit aufhören, unsere natürliche Welt zu zerstören und wir müssen die soziale und wirtschaftliche Einbindung der Milliarden von Abgehängten organisieren.

Dies ist alles ein Witz. Ein schlechter. Wir wissen, was wir tun müssen, um die Umweltkatastrophe einzudämmen, wir wissen, was wir tun müssen, um Ungleichheit zu verringern, wir wissen, wo das Geld ist, und wir unternehmen kaum etwas in dieser Hinsicht. Ich nenne es das moderne Bermuda-Dreieck, und der Begriff ist hier durchaus angemessen. Unsere größte Herausforderung besteht nicht darin, herauszufinden, was zu tun ist, oder was wir tun sollten, sondern den Entscheidungsprozess in Gang zu setzen und die Zügel wieder in unsere Hände zu bekommen.

Ich stelle mir vor, wie die Titanic den Eisberg entdeckt. Sollen wir ihm links oder rechts ausweichen? Sollen wir den Kapitän wecken? Umkehren oder beschleunigen, um besser manövrieren zu können? Lasst uns darüber diskutieren. Fügen Sie Politiker und viele Anwälte hinzu, die verschiedene Sprachen sprechen und gegensätzliche Interessen vertreten und Sie haben unseren weltweiten Entscheidungsprozess. Wir befinden uns nicht nur in einem ökologischen, sozialen und finanziellen Schlamassel, wir erleben einen Missklang der Entscheidungsfindung. Wir haben nicht nur die Probleme, uns fehlen auch die Instrumente, um ihnen entgegenzutreten.

Das untere Ende der Pyramide

Lassen Sie mich das Beispiel Venezuelas anführen. Nach Ihrem sogenannten Bauchgefühl sind Sie entweder über die Maduro-Diktatur empört oder über eine weitere ölraubende amerikanische Initiative. Es gibt natürlich eine ganze Menge von beidem, aber machen Sie ein paar Schritte zurück. Warum tauchte Chávez überhaupt auf? Die venezolanische Elite hat nie einen Finger bewegt, um in die Wirtschaft ihres Landes oder in die Wohlfahrt ihrer Bevölkerung zu investieren. Sie lebten bequem von den Ölexportgebühren. Und „bequem“ ist natürlich eine Untertreibung. Sie hatten ihre politische Unterstützung in den USA, nicht in Venezuela.

Als die Bevölkerung wuchs, verschlechterte sich die Regierungsführung. Die Wohlstandsblase platzte, Chávez übernahm und begann, die Ölressourcen zu nutzen, um Genossenschaften, Technologie und so weiter zu finanzieren. Aber in Lateinamerika kann man die Eliten nicht einfach beiseiteschieben, insbesondere, wenn man riesige Ölreserven und strategische amerikanische Interessen nebenan hat. Die Eliten kämpften sich zurück, wie in Brasilien, in Argentinien und anderen Ländern. In gewisser Weise kannst du nicht mit ihnen regieren, weil sie sich selbst so weitgehend dienen, und du kannst nicht ohne sie regieren, weil sie starke Zähne haben, mit denen sie sich an ihren Privilegien festbeißen.

Die grundlegende Frage ist also nicht, wen wir am meisten mögen, unabhängig von den ausgeklügelten politischen Argumenten, die wir erfinden, um unsere Bauchgefühle zu beruhigen. Das Problem ist, dass man ein Land mit einer schrecklichen Ungleichheit nicht regieren kann. Die Armen der Welt sind keine Masse uninformierter Individuen mehr, und sie ärgern sich über die offensichtliche Absurdität, dass sie ihre Kinder nicht ernähren können oder keinen Zugang zu anständigen Gesundheitseinrichtungen oder zu angemessener Bildung und so weiter haben. Die Massen sind kein gefügiger, schlafender Pool mehr. Sie sind verrückt und stimmen für jeden, der verspricht, das System zu treffen, der sich als Politiker außerhalb der Politik präsentiert. Und die Reichen sind mächtig und so vernetzt, dass jeder Versuch der Wirtschaftsdemokratie sabotiert wird. Es ist eine Pattsituation.

Dieser Planet ist zu klein geworden, und die Reichen und Armen sind sich zu nahe, und die Informationen sind zu undicht, als dass wir uns vorstellen könnten, dass wir diese ungleiche Welt in Frieden halten können. Ihr, die ihr diese Arbeit lest und wahrscheinlich einen Universitätsabschluss habt, denkt bitte daran, dass jedes dunkle Kind in Soweto oder in der Rocinha Favela in Rio die gleiche Intelligenz hat wie ihr, aber nicht nur keine Chancen, sondern auch das Bewusstsein, dass sie ihm verweigert werden.

Die Massen sind kein gefügiger, schlafender Pool mehr. Sie sind verrückt und stimmen für jeden, der verspricht, das System zu treffen.

Das funktioniert nicht. Nicht mit Billionen, die versuchen, ein anständiges Leben zu führen, während Idioten in der Wall Street enthusiastisch singen „Gier ist gut“. Sie haben auch Universitätsabschlüsse und verschwenden Geld genau so, wie es Idioten tun sollten. Dies ist das Raumschiff Erde und die Förderung des Erfolgs als Fähigkeit zur Abzocke von Reichtümern anstatt Aktivitäten zu fördern, die zu unseren gemeinsamen Interessen beitragen, führt in eine Sackgasse. Man kann keine funktionierende Demokratie und freie Gesellschaften haben ohne inklusive Politik und nachhaltige Entwicklung.

Ungleichheit ist ein offensichtlicher ethischer Skandal. Es ist ein Skandal aus der Sicht der Armen der Welt, denn mit 850 Millionen, die Hunger leiden, 2,1 Milliarden mit schwer zugänglichem Zugang zu sauberem Trinkwasser, 4,5 Milliarden ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen, ganz zu schweigen von den etwa 20.000 Kindern, die jeden Tag an Hunger und damit verbundenen Ursachen sterben. Da kann einem einfach schlecht werden.

Wir produzieren 80 Billionen Dollar an Waren und Dienstleistungen pro Jahr in der Welt, was 3.500 Dollar pro Monat pro vierköpfige Familie entspricht. Das mag den Kardashians lächerlich erscheinen, aber 59 Prozent der Weltbevölkerung, 4,3 Milliarden Menschen, leben von weniger als fünf Dollar pro Tag. Sie sind nicht für ihre Not verantwortlich. Auf der anderen Seite der ethischen Medaille ist die Tatsache, dass die meisten der riesigen Vermögen nicht durch einen Beitrag zum weltweiten Wohlstand verdient werden, sondern im Grunde durch finanzielle Anhäufung von Reichtum. Parasitenkapitalismus nannte dies der Soziologe Zygmunt Bauman.

Aber in Lateinamerika kann man die Eliten nicht einfach beiseiteschieben, insbesondere, wenn man riesige Ölreserven und strategische amerikanische Interessen nebenan hat.

Es ist auch eine politische und soziale Absurdität. Wir haben das venezolanische Beispiel hervorgehoben, aber die Gilets Jaunes in Frankreich folgen der gleichen Grundlogik. Arm zu sein in einem reichen Land ist verheerend. In den USA hat sich das Einkommen der einfachen Arbeiter in zwei Jahrzehnten kaum verändert, und sie haben nicht gegen Clinton gestimmt, sondern gegen das System und für jemanden, der schrie, dass sie das Recht hätten, sauer zu sein. Der Brexit versprach den Briten, sie würden „die Kontrolle zurückgewinnen", was auch immer das bedeutet. Den Polen wurde versprochen, dass sie Recht und Gerechtigkeit haben würden. Den Ungarn wurde Schutz vor den barbarischen Horden aus armen und umkämpften Ländern versprochen. So vielen muslimischen Bevölkerungen wurde die Herrschaft Gottes versprochen, und wer würde behaupten, dass dies schlimmer wäre als die Herrschaft ihrer korrupten Eliten? Auf den Philippinen mobilisierte Duterte Massen mit seinem Versprechen, die für ihre Probleme verantwortlichen Drogenhändler zu töten, die thailändischen Generäle versprechen Ordnung, wir können sogar gewählte Diktaturen haben.

Die Liste kann so weitergehen. Der gemeinsame Nenner ist, dass die Eliten, anstatt auf die Bedürfnisse ihrer Bevölkerungen zu reagieren, gegen den Feind mobilisieren, der sichtbarer ist. Sündenböcke und nicht das Fehlen von Wirtschafts- und Sozialpolitik werden als Schuldige dargestellt. In Brasilien haben wir sogar Kommunisten neu erfunden. In der Politik scheint es, dass das Reiten auf der Welle von Hass und Ängsten viel produktiver ist, als für die notwendige Politik zu kämpfen. Nicht zuletzt ist die Aufrechterhaltung und Reproduktion von Ungleichheit wirtschaftlich dumm.

Ein ethischer Marktplatz

Ex-Präsident Lula hat eine Vielzahl interministerieller Strategien zur sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung ins Leben gerufen, die die Konsumkapazität am unteren Ende der sozialen Pyramide erweiterten. Zehn Millionen hatten zum ersten Mal drei Mahlzeiten am Tag. 20 Millionen formelle Arbeitsplätze wurden geschaffen. Die Zerstörung des Amazonaswaldes fiel von 28.000 auf 4.000 Quadratkilometer pro Jahr, immer noch ein Skandal, aber eine Revolution nach brasilianischen Begriffen. Die Lebenserwartung schnellte in die Höhe, die Kindersterblichkeit ging radikal zurück. Und siehe da, die Konzentration der Wirtschaft auf das Wohlergehen der Familien und nicht der Banken funktionierte tatsächlich.

Die effektiv produktiven Unternehmen florierten, die Nachfrage wuchs. Sie provozierte keine Inflation, weil die Unternehmen weit unter ihrer Kapazität gearbeitet hatten. Die Produzenten brauchen keine ideologischen Diskurse über „freie Märkte“, sie brauchen Nachfrage nach ihren Produkten und billige Kredite für ihre Investitionen. Geld am unteren Ende der Pyramide erzeugt Nachfrage, welche die Produktion ankurbelt, was wiederum Arbeitsplätze schafft. Die Arbeitslosigkeit sank auf 4,3 Prozent. Die Weltbank nannte diesen Zeitraum von 2003 bis 2013 „das goldene Jahrzehnt Brasiliens“. Es zeigte sich kein Defizit, denn eine stärkere Nachfrage führte zu mehr Steuern auf den Konsum, während mehr Wirtschaftstätigkeit mehr Produktionssteuern erzeugte und der Abbau der Arbeitslosigkeit die Sozialausgaben verringerte.

Sündenböcke und nicht das Fehlen von Wirtschafts- und Sozialpolitik werden als Schuldige dargestellt.

Die Politik war gut für die Bevölkerung, gut für die Wirtschaft und gut für die öffentlichen Finanzen. Nun, nicht gut genug für die Finanzeliten, die das System durch einen nur notdürftig getarnten Putsch zu Fall brachten. Sie behaupteten, sie hätten übernommen, um das Defizit zu beheben. Das ist jetzt vier Jahre her und das brasilianische BIP ist wieder auf dem Niveau von 2010. Lulas einziges erwiesenes Verbrechen ist, dass er die Wahl 2018 gewann. So viel zur Demokratie. In anderen Zeiten brauchten wir Generäle, um eine Regierung zu stürzen. Mit der gegenwärtigen weitverbreiteten Erosion der Demokratie stellte sich ein Anführer dieser Aufgabe. Nun ja, Cambridge Analytica und Fake News im industriellen Maßstab haben geholfen. Wir haben derzeit technologiegestützte elegante Krawattendiktaturen.

Suchen Sie Schuldige? Wenn Sie ein strukturell dysfunktionales System haben, gibt es keine individuellen Schuldigen, der Schuldige ist genau das System. Sind die deutschen Manager bei Volkswagen Banditen oder Idioten? Oder bei der Deutschen Bank? Wells-Fargo? HSBC? British Petroleum? Billiton? Big Pharma? Facebook? Der gemeinsame Nenner ist hier ganz klar: Die effektiv funktionierende Philosophie in den großen Konzernen ist nicht die Zufriedenstellung des Kunden, sondern das Beste für die Finanzsysteme, die sie kontrollieren. Der amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz hat es klar erfasst: Wir müssen die Regeln umschreiben. Marjory Kelly, stellvertretende Generaldirektorin von The Democracy Collaborative (TDC), einer US-amerikanischen Non-Profit-Organisation, zeigt, dass es keine göttlichen Gesetze gibt, die Unternehmen daran hindern würden, sich um den dreifachen Gewinn herum zu organisieren, wirtschaftlich lebensfähig, aber auch ökologisch nachhaltig und sozial gerecht zu sein, und sich stattdessen nur auf die kurzfristige Maximierung der finanzielle Gewinne zu konzentrieren. Die amerikanische Zukunftsforscherin und Evolutionsökonomin Hazel Henderson zeigt sogar, dass wir einen ethischen Marktplatz haben könnten.

Besser als Mauern zu bauen

Was ist Kultur? Es bedeutet sicherlich nicht nur, Mozart zu genießen und über Picasso zu staunen. Meiner Meinung nach heißt es, im Grunde reiche, ausgewogene und unterstützende Beziehungen zu unseren Mitmenschen herzustellen. Wir sind sicherlich sehr gut darin, neue Technologien zu erfinden, aber äußerst begrenzt, wenn es darum geht, uns als zivilisierte Gesellschaft zu organisieren. Kein Fatalismus hier. Wir müssen uns diesem Strukturwandel stellen.

Genauso tiefgreifend wie der Übergang von der ländlichen zu einer industriellen Gesellschaft ist der gegenwärtige Übergang zu einer Gesellschaft, in der Wissen zum Hauptfaktor der Produktion geworden ist. Branchenführer werden von Bankern und institutionellen Investoren kontrolliert, Fabriken und ihre Maschinen von den so genannten Plattformen, Schulden- und Finanzsysteme werden zum Hauptmechanismus für die Aneignung von Sozialüberschüssen. Und natürlich verwirren globale Ströme die nationalen wirtschaftlichen und kulturellen Grenzen. Die nationalen Regierungen sind teilweise hilflos, und das allgemeine Gefühl der Unsicherheit ist politisch sehr gefährlich. Manipulationen von Wahlen sind zur Routine geworden, Folter und Mord sind zurück – sie haben uns nie verlassen, aber wir haben sie nicht als Werte verkündet.

Und doch haben wir mit so viel Technologie und wissenschaftlichem Fortschritt und so viel angehäuftem Reichtum einen weiten Horizont von Möglichkeiten.

  • Wir müssen uns den Verzweifelten zuwenden. Die Sicherstellung des Grundeinkommens für alle ist nicht nur billig, sondern wenn das Geld die Armen erreicht, vervielfacht es sich, stimuliert die lokale und nationale Wirtschaft durch Nachfrage und generiert positive Renditen. Besser als Mauern zu bauen.
     
  • Zweitens müssen wir den Zugang zum wichtigsten Produktionsfaktor, dem Wissen, durch allgemeine Open-Access-Politik erweitern. Das bringt auch keine zusätzlichen Kosten mit sich, wie der US-Soziologe Jeremy Rifkin so gut gezeigt hat. Patente, Urheberrechte und andere Formen von Paywalls sollten die Ausnahme und nicht die Regel sein.
     
  • Und natürlich muss die Finanzkontrolle demokratisiert werden, damit das Geld, derzeit nur in Bits auf Computern, wieder in seine Grundfunktion zurückgebracht wird: das zu finanzieren, was notwendig ist.

Träume ich? Sicherlich nicht, ich versuche, den Alptraum zu vermeiden. Und die Veränderungen sind zu tiefgreifend, die Herausforderungen zu dramatisch, als dass wir uns mit Kosmetik begnügen können.

Über den Autor
Foto von Ladislau Dowbor auf einem Podium
Ladislau Dowbor
Professor für Wirtschaft und Verwaltung an der Päpstlichen Katholischen Universität São Paulo

Professor  Dr. Ladislau Dowbor lehrt Wirtschaft und Verwaltung an der Katholischen Universität São Paulo. Er ist Berater der Vereinten Nationen, verschiedener Regierungen und Kommunen wie das Polis Institute, CENPEC, IDEC und das Paulo Freire Institut. Im Rahmen seiner Forschungen beschäftigt er sich mit der Entwicklung dezentraler Verwaltungssysteme, insbesondere für kommunale Verwaltungen.
Veröffentlichungen

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.