Zur Verteidigung des Uni­versalismus

In einer fragmentierten Welt kann Kultur helfen, über Spaltungen hinweg in Kontakt zu treten, jedoch nur, wenn sie vielfältig und tolerant ist. Hierfür trage Europa eine besondere Verantwortung: Europa ist kein Ort, keine Regierung und keine Verwaltung. Europa ist ein Raum der Begegnung.

In „Les Miserables“ schrieb Victor Hugo: „La guerre civile? Qu'est-ce à dire? Est-ce qu'il y a une guerre étrangère? Est-ce que toute guerre entre hommes n'est pas la guerre entre frères? “ („Bürgerkrieg? Was bedeutet das? Gibt es einen ausländischen Krieg? Ist nicht jeder Krieg zwischen Männern Krieg zwischen Brüdern?“). Hugo stellt die gedanklichen Gewohnheiten infrage, die diesen Begriff des „anderen“ rechtfertigen, indem er sagt, der Weg, um über „wir“ versus „die anderen“ hinauszukommen, besteht darin, schon diese Vorstellung abzulehnen. Das hat nichts mit Pietät oder Semantik zu tun.

Wenn wir die Untrennbarkeit der Menschheit aus den Augen verlieren, wie können wir dann Konzepte wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verteidigen? Die elementare Bedeutung dieses Textes – so oft wir auch dabei versagen, diesen Verpflichtungen nachzukommen – besteht darin, dass er nicht zwischen Menschen unterscheidet.

Diese Errungenschaft, universale Werte zu etablieren, wurde teuer erkauft. Ich bin ein Kind der Generation, die unter der massiven Selbstverletzung, die der Zweite Weltkrieg darstellte, zu leiden hatte – die Globalisierung der Gewalt. Die Generation meiner Eltern waren Opfer und Täter beispielloser Verbrechen. Es war ein Bürgerkrieg zwischen Menschen, die sich von ihren Unterschieden überzeugen mussten, um einander zu töten.

Es tut mir leid, solche düsteren Überlegungen in eine Diskussion über Kultur und ihr heilendes Potenzial einzubringen, aber es ist notwendig. Denn dieser Konflikt ist der Ursprung der Vereinbarung nach dem Krieg, die sich nun auflöst. Deren Grundlage ist das Konzept der universalen Menschenrechte, die in der UNO-Erklärung von 1948 und in der Europäischen Konvention von 1950 festgehalten wurden.

Der aktuelle Aufstieg des Nationalismus ist hässlich und angsteinflößend. Aber noch schlimmer ist die Anfechtung der Vorstellung universaler Menschenrechte. Die Zeichen sind überall. Manchmal ist der Angriff formell und juristisch wie beim Vorschlag der britischen Regierung, den Human Rights Act von 1998 durch die britische Bill of Rights zu ersetzen – keine universelle, per definitionem. An anderen Stellen ist dieser Angriff kriminell und chaotisch, wie bei den außergerichtlichen Tötungen in den Philippinen seit der Wahl von Präsident Duterte. Mord ist nichts Neues, es fühlt sich präzedenzlos an, wenn ein demokratisch gewählter Politiker seine Beteiligung daran feiert. Der amerikanische Historiker David Armitage schreibt, dass „demokratische Politik in der Welt jetzt mehr denn je wie Bürgerkrieg mit anderen Mitteln aussieht.“ Gibt es in einem solchen Kontext wirklich eine Übertreibung?

Attacken gegen die Demokratie

Ich muss nicht die aktuellen Attacken gegen die Demokratie, gegen Rechtstaatlichkeit und vor allem gegen das grundlegende Konzept der Menschenrechte spezifizieren. Es ist ein globales, nur allzu vertrautes Phänomen. Die Gründe sind vielfältig, aber die durch sehr schnellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel erzeugte Angst ist ein entscheidender und entzweiender Faktor.

Viele Millionen Europäer glauben nicht nur, dass ihr Leben schlechter geworden ist, sondern auch, dass ihre politischen Anführer ihr Leiden als akzeptablen Preis für den Wohlstand betrachten. Dies wird, nicht ganz ungerechtfertigt, so interpretiert, dass sie weniger wert sind als andere Menschen. Wo ist also der Universalismus der Menschenrechtskonvention?

An den jüngsten Abstimmungen fällt am stärksten auf – ob man sich nun den Brexit anschaut, die amerikanischen und französischen Präsidentschaftswahlen oder das türkische Verfassungsreferendum – wie knapp die Ergebnisse sind und wie sehr sich die Wahl der Menschen an sozioökonomischen Bedingungen orientiert wie Standort, Klasse, Bildung und Alter. Diese scharfe Trennung sorgt nicht nur für ein moralisch und rechtlich falsches Denken entlang der Kategorien „wir und die anderen“, sondern auch für ein gefährliches. Um es noch einmal zu sagen: Man kann universale Rechte nicht verteidigen, indem man Bürger in Gruppen aufteilt. Ich stimme Martin Luther King zu. Wir müssen beurteilt werden anhand unseres Handelns, nicht aufgrund ethnischer Zughörigkeit, Religion, Kultur und unserer Überzeugungen. Nur unsere Handlungen bilden eine legitime Grundlage für Unterscheidungen.

Wir müssen beurteilt werden anhand unseres Handelns, nicht aufgrund ethnischer Zughörigkeit, Religion, Kultur und unserer Überzeugungen. Nur unsere Handlungen bilden eine legitime Grundlage für Unterscheidungen.

Wie können wir also in solch einer gespaltenen Welt gut handeln? Und kann Kultur in der aktuellen Krise eine Rolle spielen? Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe der Kunst ist, solche Probleme zu lösen. Abgesehen von anderen Überlegungen liegt es jenseits ihrer Möglichkeiten. Aber sie spielt eine wichtige Rolle als Raum für Begegnung, Dialog und – vielleicht – für größeres Verständnis. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen, wie Künstler – professionelle und nichtprofessionelle – heute nach Wegen zur Überbrückung dieser Spaltungen suchen und sie oft auch finden.

Kunst als Überbrückung von Spaltung nutzen

In Friesland, dem Zentrum der Landwirtschaft im nördlichen Teil der Niederlande, arbeitete Titia Bouwmeester mit Bauern, um eine interaktive Theateraufführung auf die Beine zu stellen, die ihr Wissen und ihre Arbeit in der Milchwirtschaft feierte, während sie mit der Abschaffung der Milchquoten der EU zu tun hatten. „Lab Molke“ spielte auf einem Bauernhof und der Prozess der Recherche, kreativen Arbeit, des Probens und Aufführens war ein offener Dialog über verschiedene Lebensweisen zwischen Menschen aus städtischen und ländlichen Communitys.

In Porto arbeiten Hugo Cruz und Maria João im Theater mit Menschen aus verschiedenen Teilen der Stadt, darunter Arbeiter aus der Korkindustrie, taube Menschen, Senioren, Roma und Sinti, Flüchtlinge und Kinder. Nach mehreren Theateraufführungen mit jeder Gruppe und für jede Gruppe brachten sie fünf von ihnen in MAPA zusammen, einem spektakulären Community-Stück über die Vergangenheit und Zukunft der Stadt, in dem ihre unterschiedlichen Perspektiven dargestellt waren und zwar am Teatro Nacional im Stadtzentrum.

In Alexandria brachte Hatem Hassan Salama sehr persönliche Aufführungen in die Nachbarschaftscafés der städtischen Arbeiterviertel. In Zusammenarbeit mit einem Geschichtenerzähler, einem Fotografen, einem Tänzer und einem Musiker kreierte er spontane Events an Orten, deren traditionelle und maskuline Kultur nicht an eine solch moderne Kunst gewöhnt war. Aber es kam zu so intensiven Unterhaltungen über Kunst, Politik und Moral, dass sie noch zwei oder drei Stunden nach der Vorstellung weitergingen.

In Stoke-on-Trent nutzt Anna Francis ihre Fähigkeiten in visueller Kunst, um mit ihren Nachbarn in der heruntergekommenen Gegend, in der sie lebt, ins Gespräch zu kommen. Im letzten Sommer gründete sie ein zeitlich begrenztes Gemeinschaftszentrum in einem alten Pub und rund 600 Menschen kamen zu 50 verschiedenen Aktivitäten im Monat: Nun gibt es Pläne, die zu einer permanenten Einrichtung zu machen. An einem sehr benachteiligten Ort, der nicht wirklich gehört wird, wird dies neue Möglichkeiten eröffnen.

Vertrauen fördern

Diese Projekte und hunderte andere in und außerhalb Europas sehen Kunst als einen Ort, an dem Gespräche darüber beginnen, wo wir stehen und was wir tun können. Aber es sind künstlerische Aktionen, keine politischen oder gar sozialen Interventionen. Sie fördern Vertrauen, Fähigkeiten, Wissen, Selbstvertrauen und Netzwerke, weil sie eben nicht versuchen, diese Dinge zu produzieren. Es kommt ganz natürlich dazu, wenn Menschen an einem gemeinsamen künstlerischen Projekt arbeiten, das eine Verbindung zu ihrem Leben hat.

Tatsächlich heißt Kunst […] Unterschiede, Komplexität, sogar Konflikt willkommen. […] Kunst erlaubt es uns, unsere unausgesprochenen, sogar unbewussten Gefühle zu inszenieren und anderen Menschen zu begegnen.

Kunst ist ein Raum, in dem immer noch Begegnungen möglich sind, insbesondere, wenn die anderen Plattformen für Dialog wie Politik, Medien und die Online-Welt so polarisiert sind, dass wir einander dort nicht mehr hören – oder tolerieren können. Kunst ist sicher, weil sie beim Eintritt nicht unsere Ausweise kontrolliert. Sie trennt nicht uns von den anderen.

Tatsächlich heißt Kunst, wie diese Beispiele zeigen, Unterschiede, Komplexität, sogar Konflikt willkommen – innerhalb der schützenden Möglichkeiten für Charakter, Symbol, Metapher und Nicht-Realität. Kunst erlaubt es uns, unsere unausgesprochenen, sogar unbewussten Gefühle zu inszenieren und anderen Menschen zu begegnen, darunter dem gefürchteten Ausländer oder verhassten Nachbarn.

Sie ermutigt und ermöglicht Reflexion. Kunst hat Platz für uns alle und sie toleriert alles, was wir fühlen, denken und sagen wollen – nicht, weil alles gut oder auch nur akzeptabel ist, sondern, weil es da ist. Kunst weiß, dass es gefährlicher ist, unsere Gefühle zu verleugnen, als etwas Kreatives mit ihnen zu machen.

Aber dies ist nur eine Vorstellung von Kunst. Das weiß ich. Sie ist weder unausweichlich noch unumstritten. Ich respektiere, aber teile nicht die Ängste vor Instrumentalisierung, die Künstler manchmal zum Ausdruck bringen. Kunst ist nicht selbstgenügsam. Ich glaube an Kunst um der Menschen willen, denn ohne Menschen hat Kunst keine Bedeutung. Sie hört auf, zu sein.

Aber die Falle der Propaganda – insbesondere der wohlmeinenden Propaganda – ist gefährlich. Sie zieht jene an, die Kunst ihrer komplexen Mehrdeutigkeit, die ich schätze, berauben wollen, und die Kunst zum Sklaven ihrer Vision machen. Das Risiko ist real und am besten zu verhindern, indem man denen zuhört, wirklich zuhört, deren Stimmen für uns am unbequemsten sind. Wie der polnische Philosoph Leszek Koławkowski schrieb: „Toleranz wird am besten nicht so sehr durch das Gesetz geschützt als durch den Erhalt und die Stärkung einer toleranten Gesellschaft.”

Wenn Kunst darin besteht, in unserer fragmentierten Welt über Spaltungen hinweg miteinander in Kontakt zu treten, wird sie dies nur tun, indem sie demokratisch, vielfältig und tolerant ist – eine Kultur, die dem Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenreche gerecht wird: „Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben.“ Das wäre eine wirklich universale Kultur. Europa ist kein Ort. Es ist keine Regierung oder Verwaltung. Es ist eine Kultur, deren größte Werte geprägt wurden als Antwort auf seine größten Traumata. Wir brauchten sie 1945; wir brauchen sie heute.

Über den Autor
François Matarasso
Künstler, Autor und Berater

François Matarasso ist freiberuflicher Künstler, Autor und Berater und spezialisiert auf die soziale Dimension der Kultur. Seine Arbeit als Berater umfasst Evaluation, Organisationsentwicklung, Lehre und öffentliche Vorträge. Er arbeitet auch an seiner eigenen Community-Kunst und hat viel veröffentlicht über die Teilhabe in der Kunst.

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.