Am Anfang eines Vortrags, vor allem wenn ich mein Publikum nicht kenne, stelle ich gerne eine einfache Frage. In Chişinău lautete sie: Welches ist das erste Gefühl, das wir als Mensch fühlen können? Die Antwort kam schnell:
Das Zurückgewinnen von Kontrolle funktioniert als politischer Slogan, weil er auf der Tatsache beruht, dass wir in unserer Entscheidungsgewalt als Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigt sind. Tatsächlich ist es so, dass die supranationalen Institutionen den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts noch nicht gewachsen und die nationalen Demokratien ihnen nicht mehr gewachsen sind. Wir sehen noch keine echte Verschiebung der Gestaltungsmacht auf die EU-Ebene.
Für eine Politik der Nähe
Als Bürgerinnen und Bürger müssen wir unsere Entscheidungsbefugnis auf supranationaler Ebene ausbauen. Das soll nicht heißen, dass wir Entscheidungen nur noch auf höherer Ebene treffen sollten, im Gegenteil: Wir müssen dringend eine methodische und sinnhafte Verbindung knüpfen zwischen dem lokalen Umfeld, wo eine "Politik der Nähe" und Begegnung reibungslos funktionieren kann, und der transnationalen Ebene, auf der eine Koordination immer dringlicher wird. Nur so können wir der Angst begegnen, die sich populistische Parteien zu eigen machen.
Das Konzept der "Politik der Nähe" wurde von der Bürgermeisterin Barcelonas Ada Colau geprägt. Es ging darum, die Institutionen der Stadt den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner anzupassen – nicht umgekehrt. Darauf baut das Netzwerk der "Solidarity Cities" auf. Städte verbinden sich europaweit, um eine Politik der Nähe lokal umzusetzen und transnational zu fördern. Einige haben sich entgegen der eher feindlichen Einstellung der Nationalstaaten bereiterklärt, Geflüchtete aufzunehmen. Das Netzwerk sucht die Lösung in der Förderung von Solidarität statt in der Abschottung.
Wir müssen dringend eine methodische und sinnhafte Verbindung knüpfen zwischen dem lokalen Umfeld, wo eine "Politik der Nähe" und Begegnung reibungslos funktionieren kann, und der transnationalen Ebene, auf der eine Koordination immer dringlicher wird.
Europa kann und sollte ein Experimentierfeld für diese Beteiligungsformate sein. Noch ist auch die Zivilgesellschaft in Europa häufig national organisiert. Es gibt aber Initiativen wie jüngst das Bündnis "Citizens take over Europe", das anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft an die Bundeskanzlerin appelliert, die geplante "Konferenz zur Zukunft Europas" nicht zu einer Scheinbeteiligung der Bürgerinnen und Bürger verkommen zu lassen, sondern echtes Mitspracherecht zu ermöglichen.
Deutschland kommt in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle zu. Es ist wünschenswert, dass gerade jetzt, wo aufgrund von COVID-19 jegliche Finanzquellen in den Wirtschaftsaufbau gesteckt werden, der Blick für die Förderung von Demokratie, Kultur und bürgerschaftlichem Engagement nicht verlorengeht. Die Bürgerinnen und Bürger zu fördern, sich selbst zu organisieren und Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen, ist für die Demokratie mindestens ebenso wichtig wie der Erhalt des Arbeitsplatzes. Experimentierfreudigkeit ist gefragt, wenn wir neue Wege gehen wollen. Auch das hat uns diese Pandemie gezeigt: Der Austausch im digitalen Raum ist nicht perfekt, aber er ist möglich und er lässt Grenzen und Hierarchien einfacher durchbrechen als so manch analoge Konferenz.
Was gibt uns Hoffnung auf diesem Weg? Am letzten Abend meiner Reise sprach ich mit Vertreterinnen und Vertretern von zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Region Transnistrien. Ich war zuvor gewarnt worden, dass es möglicherweise schwierig sein könnte und sich niemand trauen würde, Fragen zu stellen. Es kam anders. Ich wurde mit Fragen überrannt, nachdem ich eine Stunde über europäische zivilgesellschaftliche Initiativen gesprochen hatte, über die Krisen in der EU, über die mit dem Brexit verbundenen Emotionen, den xenophoben Nationalismus, die anhaltende Katastrophe im Mittelmeer, der Unsicherheit vieler Menschen und der Hoffnung, die von neuen Bewegungen ausgeht.