Arme und Hände in verschiedenen Farben vor der Weltkugel

Ist Kultur Europas Schlüssel zu nachhaltiger Entwick­lung?

2015 haben die UN-Mitgliedstaaten die Agenda 2030, einen globalen Plan für nachhaltige Entwicklung, angenommen. Ist die Europäische Union auf dem richtigen Weg? Was kann Kultur zu einer widerstandsfähigen Zukunft für Menschen und den Planeten beitragen?

Im September 2015 feierten die Vereinten Nationen ihr siebzigjähriges Bestehen mit einer universellen Agenda für nachhaltige Entwicklung. Die Agenda 2030, die von allen UN-Mitgliedstaaten angenommen wurde, war ein beispielloser Aktionsplan, der sich, zur Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen und zum Schutz des Planeten, zu mutigen und transformativen Maßnahmen verpflichtete.

Im Mittelpunkt der Agenda standen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs), die rund 169 Unterziele umfassen. Diese Ziele beziehen sich auf drei Hauptdimensionen der nachhaltigen Entwicklung: auf die wirtschaftliche, soziale und ökologische. Wichtig ist, dass sie sich in einem Rahmen globaler Partnerschaften an alle Länder in gleicher Weise, als Gleichberechtigte, richten.

Kultur in der Agenda 2030: Eine inoffizielle vierte Säule?

In den Monaten vor der Verabschiedung der Agenda setzten sich die UNESCO und mehrere andere Kulturnetzwerke dafür ein, die Kultur als vierte Säule der Nachhaltigkeitsziele zu integrieren. Diese Forderung wurde in der endgültigen Agenda nicht ratifiziert. Dennoch, so stellt Gijs de Vries in einer neuen Studie des ifa-Forschungsprogramms "Kultur und Außenpolitik" heraus, ist Kultur ein integraler Bestandteil der Vision und Strategie der Agenda. "Die Ziele für nachhaltige Entwicklung eröffnen Wege, die auch der Kultur Möglichkeiten bieten, sich zu entfalten", schreibt de Vries. "Zugleich trägt die Kultur ebenfalls zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele bei."

Wie de Vries dokumentiert, gibt es in den SDGs und den damit verbundenen Zielen ausdrückliche Verweise auf Kultur – vor allem im Hinblick auf menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum (SDG 8), einschließlich der Förderung von Kreativität und Innovation, und in Bezug auf nachhaltige Städte und Gemeinden, inklusive der Erhaltung des Natur- und Kulturerbes (SDG 11). Nicht zuletzt spielt Kultur für das Ziel der einfachen Zugänglichkeit von qualitativ hochwertiger Bildung, die "eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, der globalen Staatsbürgerschaft und der Wertschätzung der kulturellen Vielfalt" fördert (SDG 4), eine wesentliche Rolle.

Viele andere Ziele der Agenda – einschließlich der Ziele in Bezug auf Gleichstellung, Klimaschutz, Frieden, Gerechtigkeit und starken Institutionen – beinhalten auch Teilziele mit einem deutlich kulturellen Schwerpunkt.

Die EU: Eine doppelte Verpflichtung und ein entscheidender Moment

Als selbsternannter "Spitzenreiter" bei der Umsetzung der Agenda 2030 sei die Europäische Union, so de Vries, in der einzigartigen Lage, diese in den Zielformulierungen enthaltenen kulturellen Triebkräfte und Komponenten für eine nachhaltige Zukunft zu nutzen.

Der Europäische Rat hat sich nicht nur klar dazu verpflichtet, die Agenda 2030 "vollständig, kohärent, ganzheitlich und wirksam" umzusetzen, sondern er hat sich auch wiederholt der Kultur und dem Kulturerbe verpflichtet. Kultur und Kulturerbe sind integrale Bestandteile der europäischen Identität und der "Schlüssel für den Aufbau inklusiver und kohärenter Gesellschaften und für die Erhaltung unserer Wettbewerbsfähigkeit".

Kulturerbe und Kreativität sind für EU-Bürger von großer Bedeutung. Laut Eurobarometer aus dem Herbst 2017 gilt Kultur als wichtigster Faktor für die Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls in den EU-Mitgliedstaaten. Auch für viele Nicht-Europäer spielt die Kultur eine wesentliche Rolle in Bezug auf die Attraktivität Europas und seines weitgehend positiven Rufes. Für die EU ist es sowohl Chance als auch Herausforderung, die Kultur- und Nachhaltigkeitsverpflichtungen miteinander zu verbinden, und zwar derart, dass sich darin die Grundlage der Agenda 2030 für internationale Gerechtigkeit widerspiegelt.

Da der Kultursektor rund um den Globus von den Auswirkungen von COVID-19 stark getroffen ist, ist diese Aufgabe umso komplexer – und dringender. Durch die sogenannten Lockdowns während der Pandemie haben 89 Prozent der Länder ihre Weltkulturerbestätten geschlossen und 95 Prozent der Länder schlossen Museen teilweise oder sogar komplett. Kulturelle Darbietungen aller Art wurden abgesagt. Künstlerinnen und Künstler sowie gastgebende Institutionen sahen sich mit schwindenden Einnahmen konfrontiert. Trotz dieser erdrückenden Umstände muss der Platz der Kultur in der Pandemie nicht nur von Kampf und Verlust geprägt sein. Wie de Vries betont, kann Kultur eine Schlüsselkomponente bei der Erholung nach COVID sein, so wie sie auch die Ziele für nachhaltige Entwicklung vorantreiben kann. Dies erfordert jedoch zunächst, dass die EU im Rahmen ihres neuen REACT-EU-Systems über ein Kulturrettungspaket entscheidet und die Kultur in ihren Next Generation Plan mit einbezieht.

Koordiniertes Handeln und gleichberechtigte Partnerschaften

Für de Vries hängt die Wirksamkeit der EU bei der Erfüllung dieser Forderungen vor allem von der Koordinierung ab: Eine wirksamere Koordinierung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und eine bessere Koordinierung zwischen der Kommission und dem diplomatischen Arm der EU, dem Europäischen Auswärtigen Dienst. Eine Erhöhung der Haushaltsmittel ist dabei ebenso entscheidend wie ein Perspektivwechsel. Die Ziele für nachhaltige Entwicklung laden Länder dazu ein, Partnerschaften zu schließen; die EU muss einen Rahmen schaffen, der geeignet ist, neues Wissen zu erschließen und Erkenntnisse zu teilen. Insbesondere können in gleichberechtigten Partnerprogrammen Initiativen zum Abbau des Eurozentrismus – der in der EU nach wie vor sowohl die Kulturproduktion als auch die Schullehrpläne durchdringt – zum Tragen kommen. Auf diese Weise lassen sich inklusive, transnationale Geschichten erschaffen – einschließlich eines Bewusstseins für das Vermächtnis des europäischen Antisemitismus und Kolonialismus.

Im Hinblick auf den Klimaschutz muss der EU-Kultursektor seine eigenen Aktivitäten umweltfreundlicher gestalten und gleichzeitig seine Sichtbarkeit nutzen, um das Klimabewusstsein zu schärfen. Künstler, Schauspielerinnen, Archäologen, Architektinnen, Historiker, Kuratorinnen, Musiker, Bibliothekarinnen, Naturwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen, Lehrer und Schriftstellerinnen – sie alle verfügen über ein außerordentlich wertvolles Wissen. Gleichzeitig haben sie mit ihrer unmittelbaren Nähe zur Öffentlichkeit die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse zu teilen und somit die Dringlichkeit und Notwendigkeit des Klimaschutzes zu betonen.

Unter den Mitgliedstaaten und ebenso in umfassenderen globalen Partnerschaften muss die EU die standortnahe Beobachtung von und Forschung an Naturerbestätten verbessern. Jedoch sollte sie die Expertise von Kulturschaffenden ebenfalls mit einbeziehen, wenn es darum geht, Maßnahmen zu entwerfen, zu finanzieren und umzusetzen, die den Klimawandel mindern und den Übergang zu einer CO2-armen, nachhaltigen Zukunft unterstützen können. Schlussendlich muss die EU die Verankerung der Kultur im Grundrecht auf freie Meinungsäußerung – das in vielen Ländern der Welt innerhalb und außerhalb der EU nach wie vor Angriffen ausgesetzt ist – anerkennen. Erst in diesem Jahr warnte die UN-Sonderberichterstatterin zu kulturellen Rechten, Karima Bennoune, dass in Polen die Bezeichnung "antipolnisch" auf polnische Staatsbürger angewandt werde, die andere Ansichten als die der Regierung oder der Regierungspartei zum Ausdruck bringen – auch durch Kunst und Kultur. Die EU muss ihr Engagement für den freien und künstlerischen Ausdruck verstärken: Nicht nur durch "stille Diplomatie", sondern auch durch lautstarke öffentliche Erklärungen – wie kürzlich vom Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell am Welttag der Pressefreiheit demonstriert – und durch praktische Initiativen, wie das Einrichten von Schutzräumen für unterdrückte und zum Schweigen gebrachte Künstler, Wissenschaftlerinnen und Journalisten.

Zu oft werde Kultur, so de Vries, als "Luxus" behandelt – als irrelevant oder sogar überflüssig für das Funktionieren der Welt. Doch tatsächlich ist es der Kultur- und Kreativbereich, der wesentlich dazu beiträgt, die in der Agenda 2030 anvisierte ambitionierte neue Zukunft zu gestalten: Kultur und Kreativität inspirieren zu neuen Perspektiven, verändern Werte und Verhaltensweisen und ermöglichen Veränderungen. Ob es um Bildung, Gleichstellung, Klimaschutz oder um eine informierte und mündige Bürgerschaft geht – die EU sollte die Kultur als Hauptbotschafter für die Umsetzung ihrer Nachhaltigkeitsziele nutzen.

Über die Autorin
Eliza Apperly
Autorin, Produzentin und Herausgeberin

Eliza Apperly produziert und moderiert für Organisationen wie die BBC, Thames and Hudson, das Global Public Policy Institute, die Max-Planck-Gesellschaft oder das European Council on Foreign Relations. Ihre Texte wurden in zahlreichen Medien, darunter The Guardian, The Atlantic, Internazionale und Reuters veröffentlicht oder zitiert, unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der New York Times. Eliza studierte moderne Sprachen und Literatur an der Universität Cambridge und am Courtauld Institute of Art. Am Bard College Berlin, der Universität Bristol und an der Universität Cambridge leitete sie Workshops über Journalismus und Produktion.

Forschungsprogramme

Im Forschungsprogramm "Kultur und Außenpolitik" und der Programmlinie "Forschung" der Martin Roth-Initiative untersuchen Expert:innen aktuelle Fragestellungen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Die Forschungsprogramme setzen Themen und erarbeiten Empfehlungen, um die internationalen Kulturbeziehungen zu stärken und weiterzuentwickeln. Begleitet werden die Forschungsaufträge durch Konferenzen und Workshops. Die Forschungsergebnisse werden in der ifa-Edition Kultur und Außenpolitik, als ifa-Input oder als Policy Brief veröffentlicht.
Weitere Informationen auf der Website des ifa.