Illustration: Dominosteine fallen um, auf jedem Dominostein steht ein Buchstabe und zusammen ergeben sie das Wort "Democracy"

Wettstreit um Werte

Da sich Amerika in den letzten Jahren zunehmend auf Asien konzentriert, wird Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen müssen, ist der Europapolitiker und Sicherheitsexperte Gijs de Vries überzeugt. Vor allem muss Europa für Demokratie und Menschenrechte kämpfen.

Russland und China nutzen Informationen und Desinformationen als Instrumente der Außenpolitik. Sowohl Moskau als auch Peking arbeiten hart daran, die Europäische Union zu spalten, und ihre Strategie ist nicht ohne Erfolg. Doch während Russland mit Störungen und Kriegen eine immense Bedrohung ist, stellt China eine vielleicht grundlegendere, langfristige Herausforderung in Bezug auf Werte und Ideen dar. China macht systematischer Gebrauch von „Soft Power“, und Europa ist noch weit davon entfernt, effektiv darauf zu reagieren.

Die Demokratie ist ein zentrales Element der europäischen Identität, und die Regierungen der EU fördern seit Langem demokratische Reformen in der ganzen Welt. Über Jahrzehnte breitete sich die Demokratie in der ganzen Welt aus, doch in den letzten Jahren hat sich das Blatt gewendet.

Nach Angaben der amerikanischen Denkfabrik Freedom House befand sich die Demokratie 2017 in ihrer schwersten Krise seit Jahrzehnten, da 71 Länder einen Rückgang der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten hinnehmen mussten und nur 35 Länder einen Zuwachs verzeichneten. Der Freedom-House-Index für die weltweite Freiheit ist das zwölfte Jahr in Folge gesunken.

Seit 2016 haben 113 Länder einen Rückgang und nur 62 eine Verbesserung zu verzeichnen. Freedom House stuft 88 Länder (die 39 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren) als frei, 58 als teilweise frei (24 Prozent der Weltbevölkerung) und 49 als nicht frei (37 Prozent der Weltbevölkerung) ein.

 

Weniger Akzeptanz

Der Bertelsmann-Transformationsindex, der den Übergang autoritärer Staaten zu Demokratie und Marktwirtschaft misst, berichtet ebenfalls, dass demokratische Institutionen in der ganzen Welt weniger akzeptiert werden.

In Südafrika erklärten 62 Prozent der Bevölkerung, sie seien bereit [...], im Austausch für Sicherheit, Wohnraum und Arbeitsplätze auf Wahlen zu verzichten.

Seit einigen Jahren warnen Analysten vor einem globalen demokratischen Rückschritt, selbst in Nordamerika und Westeuropa. Die Politikwissenschaftler Roberto Stefan Foa und Yascha Mounk stellten fest, dass Bürger in diesen Regionen den Wert der Demokratie als politisches System immer zynischer beurteilen und eher bereit sind, autoritäre Alternativen zu unterstützen. In Europa beispielsweise lehnen nur 36 Prozent der Millennials die Vorstellung entschieden ab, dass die Unfähigkeit einer Regierung eine Machtübernahme durch das Militär rechtfertigen kann.

In einer Umfrage unter 38 Ländern in verschiedenen Teilen der Welt gaben im Durchschnitt 49 Prozent der Befragten an, eine Regierung durch Experten und nicht durch gewählte Vertreter wäre eine gute Möglichkeit, ihr Land zu regieren. In Südafrika erklärten 62 Prozent der Bevölkerung, sie seien bereit oder sehr bereit, im Austausch für Sicherheit, Wohnraum und Arbeitsplätze auf Wahlen zu verzichten. Eine Reihe von Veröffentlichungen aus jüngster Zeit befasst sich mit diesem Trend.

Solche pessimistischen Einschätzungen sind nicht unumstritten. Zunächst einmal liefern internationale Meinungsumfragen ein gemischtes Bild. In ganz Afrika übersteigt die Nachfrage der Bevölkerung nach Demokratie die Wahrnehmung des verfügbaren Angebots, und große Mehrheiten lehnen autoritäre Alternativen wie Präsidialdiktatur, Militärherrschaft und Einparteienregierungen ab. Auch die arabischen Bürger sprechen sich deutlich für die Demokratie aus. In einer Umfrage des Pew-Forschungsinstituts in 38 Ländern stellte sich heraus: Mehr als die Hälfte der Befragten in jedem Land halten die repräsentative Demokratie für eine sehr oder eher gute Regierungsform. Es ist auch kein einheitlicher Trend in den westlichen Ländern, dass demokratische Werte immer weniger unterstützt werden. 

Autoritäre Führer lernen, wie sie das System austricksen und die Demokratie heimlich aushöhlen können – auch in Europa.

Zweitens birgt die Konzentration auf die jüngsten Entwicklungen die Gefahr, positivere, langfristige Trends zu verdecken. Tatsächlich hat die Zahl der Demokratien in der Welt im Laufe der Zeit erheblich zugenommen. Einer einflussreichen Analyse zufolge hat sich die Demokratisierung in Wellen vollzogen. Eine erste Welle folgte auf die Ausweitung des Wahlrechts im 19. Jahrhundert und brachte die Zahl der Demokratien in der Welt bis 1926 auf etwa 29. Die Rückschläge in den 1930er und 1940er Jahren ließen die Zahl auf 12 sinken, doch nach den Siegen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl der Demokratien bis 1962 auf 36 an. Eine dritte globale Demokratiewelle begann mit der portugiesischen Nelkenrevolution im Jahr 1974 und erfasste Lateinamerika, Teile Asiens, Osteuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und das Afrika südlich der Sahara ab 1989. Die Zahl der Wahldemokratien wuchs auf weit über 100.

 

Parallel dazu wurden immer mehr internationale Menschenrechtsverträge ratifiziert und (teilweise) umgesetzt. Dies gipfelte in der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 1998. Es wäre also übertrieben zu behaupten, die Demokratie liege im Sterben. Im letzten halben Jahrhundert ist die Welt deutlich demokratischer und freier geworden.

In den letzten Jahren scheint jedoch die lange „dritte Welle“ der Demokratisierung ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Der Wandel ist durch die Forschung an der Universität Göteborg gut dokumentiert. Das Projekt „Varieties of Democracy“ („V-Dem“) erstellt den größten globalen Datensatz zur Demokratie. Die Forscher nutzen die Daten, um zwischen vier Regimetypen zu unterscheiden. Sie stellten fünf interessante Erkenntnisse heraus.

 

Ein Schild mit der Aufschrift "Vote".
In den letzten Jahren scheint die lange „dritte Welle“ der Demokratisierung ihren Höhepunkt erreicht zu haben, Foto: Tara Winstead via pexels

Von Polen bis Fidschi

Erstens liegen die meisten Länder der Welt im demokratischen Spektrum (56 Prozent): 35 Staaten werden als liberale Demokratien und 62 als Wahldemokratien eingestuft. Von den übrigen Ländern sind 56 (32 Prozent) Wahl-Autokratien und 21 (12 Prozent) geschlossene Autokratien.

Zweitens hat die liberale Demokratie weltweit bis etwa zum Jahr 2005 allmählich, aber stetig zugenommen. Seitdem ist das Niveau der Demokratie weltweit relativ stabil und liegt weiterhin nahe an einem Allzeithoch. Allerdings ist seit mindestens 2008 ein deutlicher Abwärtstrend bei der Zahl der Länder zu beobachten, die demokratische Fortschritte machen; und die Zahl der Länder, die sich in Richtung Autokratie zurückentwickeln, hat etwa seit der Jahrhundertwende zugenommen.

Drittens sieht das Bild anders aus, wenn man das Demokratieniveau nach der Bevölkerungszahl der einzelnen Länder gewichtet. Während eine Reihe kleinerer Länder wie Bhutan, Burkina Faso und Fidschi Fortschritte bei der Demokratie gemacht haben, ist dies nur in einem großen Land (Nigeria) der Fall. In großen, bevölkerungsreichen Ländern wie Brasilien, die Demokratische Republik Kongo, Indien, Polen, Russland, die Türkei, die Ukraine und die Vereinigten Staaten ist die Demokratie am meisten zurückgegangen. Die Zahl der Menschen, die in nicht-demokratischen Ländern leben, wächst.

Viertens: Die Mehrparteienwahlen werden zwar immer besser, laufen aber Gefahr, ihre Bedeutung zu verlieren. Die Autonomie der Medien, die Freiheit der Meinungsäußerung und alternative Informationsquellen sowie die Rechtsstaatlichkeit haben in den letzten Jahren die größten Einbußen erfahren. Dieser Trend betrifft sowohl Autokratien als auch Demokratien.

Eine letzte wichtige Erkenntnis betrifft die Integration. Obwohl liberale Demokratien die demokratischen Rechte ihrer Bürger systematisch besser sichern als andere Regierungsformen, sind selbst in Demokratien Frauen, Minderheiten und Arme beim Zugang zur politischen Macht systematisch benachteiligt. Diese globalen Trends geben nicht die ganze Geschichte wieder, da sie die große länderspezifische Vielfalt bei Regimewechseln verschleiern können. In jedem Jahr ändern mehrere Dutzend Länder ihren Status. Allein im Jahr 2017 gab es in 24 Ländern Fortschritte und in weiteren 24 Rückschritte.

[...] selbst in Demokratien [sind] Frauen, Minderheiten und Arme beim Zugang zur politischen Macht systematisch benachteiligt.

In Europa überwogen in den letzten zehn Jahren die negativen Veränderungen gegenüber den Verbesserungen. Albanien wurde in die Gruppe der liberalen Demokratien aufgenommen, aber vier EU-Mitgliedstaaten – Ungarn, Litauen, Polen und die Slowakei – verloren ihren Status als liberale Demokratien und wurden zu Wahldemokratien, während Serbien noch schlechter abschnitt und zu einem autoritären Staat wurde.

 

Kostbar und verletzlich

In einem unterirdischen Gewölbe hängen mehrere Schilder an der Wand, auf denen jeweils in einer anderen Sprache "Bruderschaft" steht.
Um unsere eigenen Freiheiten zu bewahren, müssen wir helfen, die unserer Nachbarn zu schützen, Foto: Nazrin Babashova via unsplash

Die Demokratie ist zu kostbar und zu verletzlich, um sie allein der Obhut von Politikern zu überlassen. Die Rolle der Bürger ist absolut entscheidend, um zu verhindern, dass die demokratischen Freiheiten allmählich ausgehöhlt werden.

Als letzte Interessenvertreter der Demokratie ist es an den Bürgern, ihre Stimme zu erheben, um gegen die Verächter der Demokratie zu protestieren und sich mit den Opfern der Autokratie zu solidarisieren. Der Preis dafür kann hoch sein, wie Gefangene von der Türkei bis Russland bezeugen werden, und der Mut derjenigen, die sich für die Demokratie einsetzen, verdient, dass ihre Mitbürger im In- und Ausland sie aktiv unterstützen.

Nicht nur in fernen Ländern, sondern auch innerhalb der EU-Mitgliedstaaten macht sich eine Art demokratische Fäulnis breit.

Die Fäulnis breitet sich aus, weil Autokraten von ausländischen Beispielen lernen und Techniken kopieren, die funktionieren. Die Bemühungen von Präsident Trump, kritische Medienberichterstattung als „Fake News" zu diffamieren, finden weltweit Nachahmer, von Malaysia bis Turkmenistan. Die Beschränkungen für ausländische Nichtregierungsorganisationen nehmen zu, von Belarus bis Kambodscha.

Ungarns Einschränkungen der richterlichen Unabhängigkeit haben ähnliche Beschränkungen in Polen inspiriert. Dies sind keine Einzelfälle; sie sind Teil eines wachsenden, internationalen Trends, und internationale Maßnahmen sind unerlässlich, um die Ansteckung zu stoppen. Da die Demokratie grenzüberschreitend ausgehöhlt wird, müssen Initiativen, um demokratische Freiheiten zu verteidigen und zu stärken, ebenfalls grenzüberschreitend organisiert werden. Wo Probleme auftauchen, müssen auch Lösungen folgen. Um unsere eigenen Freiheiten zu bewahren, müssen wir helfen, die unserer Nachbarn zu schützen.

 

Angriff auf die Menschenrechte

Dies bedeutet unter anderem, dass wir neu darüber nachdenken müssen, was es heißt, ein Bürger in einer Demokratie zu sein. In der heutigen interdependenten Welt kann die Staatsbürgerschaft nicht mehr ausschließlich national gedacht werden. Die Staatsbürgerschaft des Nationalstaats wird zunehmend eine grenzüberschreitende Dimension erhalten müssen. Die Herausforderung wird darin bestehen, diese Dimension so zu entwickeln, dass die Menschen sie als Erweiterung der nationalen Staatsbürgerschaft und nicht als Gegensatz zu ihr begreifen. 

Als letzte Interessenvertreter der Demokratie ist es an den Bürgern, ihre Stimme zu erheben, um gegen die Verächter der Demokratie zu protestieren [...].

Diesen Wandel werden viele mitgestalten, auch Lehrer und andere Erzieher. Künstler und kulturelle Organisationen können viel dazu beitragen, innovative Praktiken in den Vordergrund zu stellen, Freiräume für Dialog zu schaffen und den Ton der Debatte zu bestimmen. Geht die Ära der internationalen Institutionen und des internationalen Rechts nach 1945 zu Ende? Sind wir vielleicht sogar in die „Endzeit“ der Menschenrechte eingetreten? Auf den ersten Blick sind die Anzeichen bedrohlich. Offene Gesellschaften, in denen die Bürger frei sprechen, schreiben, sich treffen und ihre Führer kritisieren können, sind unter Beschuss geraten.

Man weiß seit Langem, dass in Diktaturen Journalisten getötet werden. Im Jahr 2018 wurden Journalisten, die über Korruption recherchierten, sogar in Malta und der Slowakei ermordet. Dutzende von Ländern auf der ganzen Welt haben Gesetze erlassen und Maßnahmen ergriffen, um die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen einzuschränken. Auf Druck der Regierung musste die Konrad-Adenauer-Stiftung ihre Büros in Ecuador schließen; der British Council musste seine Präsenz in Moskau reduzieren. Menschenrechtsgruppen erleben eine beispiellose weltweite Razzia.

Gleichzeitig werden internationale Institutionen, die Rechte und Freiheiten schützen, von innen heraus unterminiert. Russland hat als Vergeltung für die Aussetzung seines Stimmrechts in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, nachdem es die Krim illegal annektiert hatte, seine Beitragszahlungen an den Europarat eingestellt. Burundi hat sich aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zurückgezogen; andere Länder ignorieren 15 ausstehende IStGH-Haftbefehle und Übergabeersuche, darunter das des sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir, dem Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.

 

Nicht nur düster

Das britische Außenministerium warnt, dass Russland und China „die Schaltstellen für Menschenrechte innerhalb des UN-Systems angreifen“ und dass China den Menschenrechtsrat nutzt, um seine „alternative Vision von Menschenrechten“ zu fördern. In Ägypten kommt Präsident al-Sisi mit Folter und Unterdrückung davon, wohl wissend, dass EU-Ratspräsident Tusk die Tatsache zu schätzen weiß, dass die illegale Migration aus Ägypten nach Europa von fast 13.000 im Jahr 2016 auf fast null im Jahr 2018 zurückgegangen ist.

Das Bild ist jedoch nicht nur düster. Die Gesetze zu Menschenrechten zeigen Wirkung. Im Jahr 2016 befand ein Ad-hoc-Tribunal in Dakar den ehemaligen tschadischen Präsidenten Hissène Habré der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen für schuldig. Die internationalen Gerichtshöfe für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien haben den Opfern von Kriegsverbrechen und Völkermord eine Stimme gegeben. Der Internationale Strafgerichtshof erinnert künftige Täter von Massengewalt und Aggressionen daran, dass sie individuell zur Verantwortung gezogen werden. 1977 hatten nur 17 Länder die Todesstrafe abgeschafft, heute sind es 140 – fast zwei Drittel aller Länder der Welt.

Auch die langfristigen Entwicklungen sollten nicht übersehen werden. So schwach und enttäuschend die internationalen Normen im Hinblick auf Menschenrechte auch sein mögen, wir leben nicht mehr in einer Welt ohne Regeln, in der Welt, die Thomas Hobbes als dazu verdammt sah, in einem ständigen Kriegszustand zu leben. In nur wenigen Jahrzehnten haben sich die meisten souveränen Staaten der Welt darauf geeinigt, Verträge einzuhalten, in denen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben verankert ist. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.

Eine Minderheit von Staaten entzieht sich dem globalen Reglement zu Menschenrechten teilweise oder vollständig.

Dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sind 172 Staaten beigetreten. China hat ihn zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sind 164 Staaten beigetreten; Indien hat unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) sind bisher insgesamt 123 Staaten beigetreten. China, Indien, Pakistan, Russland, die Türkei und die USA gehören zu den Ländern, die sich geweigert haben.

Wie dieser kurze Überblick zeigt, gibt es eine Minderheit von Staaten, die sich dem globalen Reglement zu Menschenrechten teilweise oder vollständig entziehen. Zu dieser Gruppe zählen Autokratien wie Saudi-Arabien und China.

Die wichtigsten internationalen Menschenrechtsverträge wurden jedoch von der Mehrheit der Staaten ratifiziert, die alle Regionen der Welt vertreten. Es mag sein, dass Regierungen die Verträge nicht einhalten, aber wenn sie dies tun, berufen sich die Opfer immer auf die globalen Standards. Die Menschenrechte sind eindeutig nicht nur ein europäisches Konstrukt ohne Legitimität jenseits des Westens.

Gleichwohl gibt es nach wie vor einige bemerkenswerte Anomalien. Unter den demokratischen Ländern ist die Abwesenheit Indiens von der Konvention gegen Folter und dem Internationalen Strafgerichtshof besonders auffällig, ebenso wie das Zögern der Vereinigten Staaten, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu ratifizieren und dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, dass die europäischen Regierungen ihren Bürgern im Bereich Menschenrechte keinen Zugang zu internationalen Mechanismen für Beschwerden gewähren wollen. Wenn demokratische Länder international erfolgreich Menschenrechte schützen wollen, müssen sie mit gutem Beispiel vorangehen. Glaubwürdigkeit beginnt im eigenen Land.

Die Menschenrechte sind ein zentraler Bestandteil der europäischen Identität. Die Europäische Union gründet sich auf die Werte der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören (Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union). Diese Werte teilen die Mitgliedstaaten laut Vertrag.

Die Menschenrechte sind von zentraler Bedeutung dafür, wie die Europäer ihre Rolle in der Welt sehen. Die Mitgliedstaaten wollen, dass sich die Union bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene „von den Grundsätzen leiten lässt, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren (...): Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.“ (Art. 21, EUV) 

Nach dem Völkerrecht haben die Staaten die Pflicht, die Menschenrechte zu achten, zu erfüllen und zu schützen. Sie müssen darauf achten, die Rechte nicht zu verletzen, alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, damit ihre Bürger in den Genuss der Rechte kommen, und Maßnahmen ergreifen, um andere Staaten daran zu hindern, sie zu verletzen. Wie schneidet die EU ab? Das europäische Reglement zu Menschenrechten ist eines der strengsten der Welt.

 

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wacht darüber, dass die 28 EU-Mitgliedstaaten die Menschenrechte als allgemeine Grundsätze des europäischen Rechts achten und sich an die EU-Menschenrechtscharta halten. Einige der bemerkenswertesten Fälle hatten mit Terrorismus zu tun. In einer Reihe bahnbrechender Fälle hat der Gerichtshof entschieden, dass Regierungen und die EU im Kampf gegen den Terrorismus das Recht auf Privatsphäre respektieren müssen und dass Terrorismusverdächtige Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren haben. Der EuGH prüft auch, ob Regierungen die Rechtsstaatlichkeit einhalten. Im Oktober 2018 wies er Polen an, Änderungen an seinem Obersten Gerichtshof auszusetzen, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Der EuGH lässt sich von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte leiten, der für die 47 Länder des Europarats zuständig ist.

Auf einem Laternenpfosten klebt ein Sticker mit der Aufschrift "Every Human has a Right".
Die Menschenrechte sind von zentraler Bedeutung dafür, wie die Europäer ihre Rolle in der Welt sehen, Foto: Markus Spiske via unsplash

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann die Menschenrechte nicht allein wirksam schützen. Seine Urteile müssen von den nationalen Behörden umgesetzt werden, die oft nur schleppend vorankommen. Tausende von Menschenrechtsurteilen warten noch immer darauf, umgesetzt zu werden. Oft bedarf es des Drucks der Zivilgesellschaft und der Medien, um die Behörden dazu zu bewegen, einzulenken.

Die EU könnte helfen, indem sie lokale Nichtregierungsorganisationen und Journalisten dabei unterstützen, die europäischen Menschenrechtsvorschriften zu überwachen. Europäische Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und Kulturinstitute könnten zur Sensibilisierung beitragen – aber einige von ihnen müssten sich erst einmal dafür interessieren. Nehmen wir zum Beispiel den Fall des türkischen Verlegers Fatih Tas. Tas veröffentlicht seit Langem Bücher und Zeitschriften, die die türkischen Behörden verärgern, die versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen. Fünfmal hat er die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt, und fünfmal hat der Gerichtshof zu seinen Gunsten entschieden. Eine Geste der Unterstützung durch den Europäischen Verlegerrat oder eine ähnliche Nichtregierungsorganisation wäre hier nicht fehl am Platz.

Alle EU-Mitgliedstaaten haben das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung angenommen. Sie sind daher verpflichtet, alle Formen der Rassendiskriminierung und der Aufstachelung zum Rassenhass zu verhindern und zu beseitigen. Es gibt immer mehr EU-Dokumente, die ihre Entschlossenheit bezeugen, dies auch zu tun und für die europäischen Werte einzutreten. Aber es gibt Belege dafür, dass die Europäer versagen. Das kollektive Versagen Europas, Diskriminierung zu bekämpfen, beeinträchtigt seine Glaubwürdigkeit in der Welt.

 

Rassendiskriminierung an der Tagesordnung

Auf einer grauen Wand steht in dicken, schwarzen Buchstaben "Who is watching?".
Autoritäre Machthaber, die Kritik unterdrücken wollen, greifen oft auf europäische Überwachungstechnologie zurück, und europäische Unternehmen sind gerne bereit, diese zu liefern, Foto: Claudio Schwarz via unsplash

Rassendiskriminierung und Belästigung sind in Europa an der Tagesordnung. Menschen afrikanischer Abstammung sind systematischem Rassismus und Diskriminierung in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Gesundheitswesen ausgesetzt.

Auch Muslime werden diskriminiert und belästigt und sind Opfer von Hassverbrechen. Antisemitische Übergriffe sind in Europa so alltäglich geworden, dass sich viele Opfer nicht mehr die Mühe machen, die Vorfälle zu melden. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ergab: 28 Prozent der jüdischen Befragten in 12 Mitgliedstaaten haben Belästigungen erlebt, 40 Prozent befürchten körperliche Angriffe und 89 Prozent halten Antisemitismus im Internet für ein Problem in ihrem Land.

 

Am Tag der Veröffentlichung des Berichts gab die Polizei in Rom bekannt, dass sie den Diebstahl von 20 Gedenktafeln zur Erinnerung an den Holocaust untersucht. Die kleinen Messingtafeln, die Mitgliedern einer jüdischen Familie, De Consiglio, gewidmet sind, waren aus dem Bürgersteig gerissen worden.

Es gibt noch weitere unerledigte Aufgaben für Europa. Autoritäre Machthaber, die Kritik unterdrücken wollen, greifen oft auf europäische Überwachungstechnologie zurück, und europäische Unternehmen sind gerne bereit, diese zu liefern. Der britische Rüstungskonzern BAE Systems exportierte über seine dänische Tochtergesellschaft Cyber-Überwachungssysteme nach Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Oman, Marokko und Algerien. Das „Evident“-System von BAE war zuvor von Tunesiens Machthaber Ben Ali eingesetzt worden, um die Opposition zu unterdrücken. Die Türkei und Bahrain haben Berichten zufolge Software des deutschen Unternehmens FinFisher eingesetzt, um Kritiker zu überwachen. Wenn Regierungen Cyber-Überwachungssysteme in Auftrag geben, behaupten sie, sie seien notwendig, um Terrorismus zu bekämpfen.

Doch diese Technologie ist zweckentfremdet und kann genauso gut eingesetzt werden, um friedliche Opposition zu unterdrücken. Im Jahr 2016 schlug die Europäische Kommission vor, die europäischen Vorschriften für die Exportkontrolle zu ändern, um zu verhindern, dass die Technologie für Menschenrechtsverletzungen zum Einsatz kommt. Im Jahr 2018 diskutierten die EU-Regierungen immer noch über diese Idee. Was kann Europa sonst noch tun, um sich gegen Unterdrückung in der ganzen Welt zu wehren? Eine erste Priorität für EU-Diplomaten könnte darin bestehen, mehr Länder dazu zu bewegen, den wichtigsten internationalen Vereinbarungen zu Menschenrechten beizutreten.

Eine erste Priorität für EU-Diplomaten könnte darin bestehen, mehr Länder dazu zu bewegen, den wichtigsten internationalen Vereinbarungen zu Menschenrechten beizutreten.

Es ist schwer vorstellbar, warum Länder wie Indien oder Singapur nicht davon überzeugt werden könnten, der UN-Konvention gegen Folter beizutreten, oder warum Malaysia außerhalb des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte bleiben sollte. Und ungeachtet gelegentlicher Ausbrüche von Washingtoner Granden gibt es keinen Grund, warum die EU ihre Partner nicht weiterhin dazu drängen sollte, der Straffreiheit für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord ein Ende zu setzen, indem sie dem Internationalen Strafgerichtshof beitritt.

Überall auf der Welt bitten Opfer von Unterdrückung Europa um Unterstützung, aber allzu oft lassen die Europäer sie im Stich. Es mangelt nicht an politischen Erklärungen der EU zu den Menschenrechten, aber bei der Umsetzung hapert es. In Ländern, die die Menschenrechte verletzen, gehen die EU-Regierungen und die europäischen Institutionen manchmal nach dem Prinzip „good cop, bad cop“ vor, wobei die nationalen Diplomaten über Handel und Sicherheit diskutieren, aber kontroversere Themen wie die Menschenrechte der Europäischen Kommission überlassen. Ausländische Regierungen sind mit diesem Ritual vertraut und lassen die Europäer gnädig gewähren, wenn sie unter ihren Möglichkeiten bleiben. Es gibt eine Zeit für stille Diplomatie, aber es gibt auch eine Zeit, in der man seine Stimme erheben muss, um Opfer von Unterdrückung zu unterstützen, und die europäischen Diplomaten sollten dies öfter tun. 

Über den Autor
Gijs de Vries
Politiker

Gijs de Vries ist Senior Visiting Fellow an der London School of Economics and Political Science (LSE). Er ist ein ehemaliges Mitglied der niederländischen Regierung und des Europäischen Parlaments. Er war Vorstandsmitglied der Europäischen Kulturstiftung und Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations, sowie des Transatlantic Policy Network.