Illustration: Eine Person sitzt auf einem deutschen Reisepass und fliegt über einen Stacheldrahtzaun.

Zwischen Reisefreiheit und NATO-Draht

Europa in Coronazeiten: Ist die Europäische Union nur noch eine wirtschaftliche Einheit ohne gemeinsame Identität? Wenn ein europäischer Pass auf einmal keine Reisefreiheit mehr gewährleistet.

Reisepässe verändern die Perspektive

Auch ich zögere, in die Vergangen - heit zu schauen, um daraus einen Wunsch oder gar eine Empfehlung für die Zukunft abzuleiten. Was war, hat es oft leichter als das, was ist. Doch schätze ich mich glücklich, Anfang der 1990er Jahre erwachsen geworden zu sein. Ich staunte damals, ja wirklich, ich staunte, über die plötzlichen Superkräfte, die mir ein österreichischer Reisepass verlieh; sobald ich alt genug war, um einen eigenen zu haben – als ich ein Kind war, warst du zuerst im Pass deiner Mutter oder deines Vaters eingetragen – gab es für mich keine Grenzen mehr. Alle Länder, die an das grenzten, in dem ich geboren worden war und aufwuchs, gestatteten mir ungehinderten Zugang. Sogar solche, die weiter weg waren, in die ich mit dem Schiff fahren musste, wie Albanien, waren problemlos erreichbar.

 

Karte der Länder Europas
In fremde Länder zu reisen ist eine "Superkraft", die man mit einem Reisepass erlangen kann, Illustration: Pfüderi via pixabay

Ich bestieg das Schiff in Triest, landete nach zweitägiger Reise im Hafen von Durres, ging einige hundert Meter durch staubiges Gelände. Eine geringe Gebühr für das Visum, ein kleiner Aufpreis, weil ich aus dem reichen „Europa“ kam, und ich war da. 

Ein Stempel zeugte später von meiner Anwesenheit in Albanien im Jahr 1992, wenige Monate nachdem die Statue des Diktators Enver Hoxha auf dem Hauptplatz zu Fall gebracht worden war und sich ihrer äußeren Massivität zum Trotz als hohl erwiesen hatte. Weitere Stempel bestätigten bald auch meine Anwesenheit im Iran, in Russland, in Kolumbien, in Guatemala, in Costa Rica, in Nepal, in Griechenland. In Kolumbien bezahlte ich ebenfalls einen Aufpreis für „Reiche“ bei der Einreise. Überall war ich willkommen.

1995, als Österreich der EU beitrat, hatte ich einen Pass mit so vielen Stempeln, als wäre ich Spionin (oder Diplomatin). Bei einem Visumantrag für die USA wurde ich zu diesen disparaten Reisezielen extra befragt. Doch ich bekam es. Die mir durch die österreichische Staatsbürgerschaft und seit 26 Jahren gleichzeitig auch die Europäische Unionsbürgerschaft – gibt es dieses Wort? Oder bräuchten wir eins dafür? – verliehenen Superkräfte wirken bis heute.

Weil ich ein Büchlein habe, denn besitzen darf ich es nicht, es gehört für immer dem Staat, 36 Seiten dünn, die meisten davon sind leer, aber auf der ersten steht (derzeit) in 20 Sprachen der Begriff „Europäische Union“. Weil ich dieses dunkelrot gebundene Büchlein habe, kann ich mutig sein. Weil mir noch niemals in meinem Leben, niemals, die Einreise in irgendein Land verweigert wurde. Stellen Sie sich das einmal vor! Was das bedeutet. Überall willkommen sein. Warum wollen die uns alle haben?, dachte ich als Kind, denke ich jetzt, ab und zu.

Oh. Nein, ganz stimmt es nicht, voriges Jahr Ende April 2020 musste ich an der Grenze umkehren. Als Österreicherin durfte ich damals, im Zuge der Seuchenbekämpfung, nicht von Vorarlberg nach Deutschland einreisen, um mir den Heimweg nach Wien abzukürzen. Ich war ja schon daheim. Trotzdem war ich schockiert. Meine Superkräfte versagten. Nur falls ich etwas transportierte, auslieferte, dürfte ich durch, hatte der Grenzbeamte mich freundlich, aber bestimmt informiert; nur als Warentransport hätte ich die Grenze überqueren dürfen, nicht als Person, die nach Hause fuhr.

Zuhause, daheim. Zwei Wörter kennt auch das Französische für diesen Ort. Ist es einer oder wäre es eher ein Zustand, eng verbandelt mit dem Empfinden des In-Sicherheit-Seins, und daher manchen Menschen für immer verwehrt? Nur aus Zufall? Weil geboren an den falschen GPS-Koordinaten: à la maison, chez soi dans un pays hors de l'Europe. Në shtëpi, sagt die Albanerin, meint damit Frankfurt, für sie hat es geklappt, sie hat einen Deutschen geheiratet. Wie eine Blutgruppe, eine Erbkrankheit überträgt sich der Pass innerhalb der Familie. Nach-Hause-Kommen, heißt das, dorthin zu kommen, wo du dir nicht überlegst, was du tust? Wo du tun und reden darfst, was du willst? Wo niemand sieht, wenn du nackt Suppe isst? Wo nur du den Schlüssel hast und eine hohe Gewissheit: Hier spaziert nicht unangekündigt irgendwer herein?

36 Seiten dünn, die meisten davon sind leer, aber auf der ersten steht (derzeit) in 20 Sprachen der Begriff „Europäische Union“.

Litauen scheint es so zu interpretieren, ein Staat, in dem Menschen leben, die vor 17 Jahren den Blutkreislauf der staatsbürgerschaftlichen Erbkrankheit durchbrechen konnten. Über Nacht (sozusagen) erhielten sie das 36 Seiten dünne Büchlein, das auch ich habe; in der Praxis werden sie wahrscheinlich wochen- und monatelang darauf gewartet haben, aber sie haben es gekriegt. Dieses wohlverdiente Glück möchten sie – aber wer sind sie? Die 80-jährige Bäuerin im Interview der Wochenzeitung? Der Bürgermeister des Dorfes, wo plötzlich drei Mal so viele Flüchtlinge wie Einwohner hausen? – ihr Glück also wollen sie nicht mit den Tausenden Auf-der-Suche-nach-einem-neuen-Zuhause-Befindlichen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan teilen, die durch Belarus über die 680 Kilometer lange gemeinsame Grenze gelangt sind. Grüne Grenze. Weil sie aus Wäldern und Feldern besteht.

Ein Mensch steht vor einem Zaun in einem gerodeten Waldstück, das die grüne Grenze markiert
Ländergrenzen werden für politische Machtdemonstrationen benutzt, Foto: Joni Rajala via unsplash

Алекса ́ндр Лукаше ́нко, 66 Jahre alt, Despot und weißrussischer Staatsbürger, befahl seinen Grenzschützern, das Grün semipermeabel zu machen, transparent, also: die Migranten nicht an der Weiterreise in die Europäische Union zu hindern. Als Revanche für die Sanktionen der EU war diese Geste des offiziellen Belarus gemeint und geriet zum Fuchteln. Gerade diese erpresserische Drohgebärde bewilligte einzelnen Menschen eine minimale Hoffnung. Obwohl sie weit von zu Hause und noch weiter von einem Zuhause entfernt im litauischen Schlamm frieren, leben sie noch und sind nahe am heißbegehrten Europa. Nahe, noch nicht dort. Denn Europa ist für viele, Europa trägt für viele, die hinwollen, den Namen Deutschland. Bevor die winzige Hoffnung Funken schlägt, stellt die Europäische Union – diese Union als Institution, aber irgendwer muss es ja tragen, heben, transportieren, bringen, Roboter, denke ich, können das noch nicht – stellen wir NATO-Draht zur Verfügung: um die grüne Grenze zu versilbern.

Stachelbandrolle oder Widerhakensperrdraht, lese ich im Lexikon, werde NATO-Draht genannt, weil dieser Typ Stacheldraht einst vom NATO-Verbündeten USA eingeführt worden ist, für US-Gefängnisse stellte die Stachelbandrolle in den 1960er und 1970er Jahren eine wichtige Innovation des Ausbruchsschutzes dar. Die heutige, noch effektivere Form wird als Rolle mit einem Meter Durchmesser geliefert und kann leicht auf 15 Meter Länge auseinandergezogen werden, rasiermesserähnliche Klingen darin verursachen stärkere Verletzungen als herkömmliche Stacheldrahtdornen. Mano namai – tavo namai, wäre ein Satz auf Litauisch, mein Haus ist dein Haus; und „namuose“ hieße „zu Hause“.

 

Mit abgelaufenem Pass nach Italien

Weil ich das unverdiente Glück habe, Österreicherin zu sein, bin ich diesen Sommer mit einem abgelaufenen Pass nach Italien gefahren. Erst am Tag nach meiner Rückkehr habe ich mir dann den neuen Ausweis geholt, denn um im Wiener Prater unter dem Riesenrad mit der Wildalpenbahn fahren zu dürfen, musste ich ihn herzeigen; wo du in einem gelben Plastikboot aus 25 Metern Höhe in die Tiefe geschmissen wirst, gedreht wirst wie ein Kreisel und schließlich in einen Wasserfall plumpst – pitschnass, sogar die Schuhe, aber hey, am Ende steht ein Ganzkörperföhn bereit. Weil ich Österreicherin bin, konnte ich anstelle des offiziellen Reisedokuments überall, außer im Vergnügungspark Prater, den Grünen Pass herzeigen und niemand fragte weiter.

Eine Hand hält ein Smartphone, auf dem der QR-Code für den Impfnachweis zu sehen ist.
Die Bedingung für einen Grünen Pass ist eine Impfung gegen Corona, Foto: Bezanger Jeremy via unsplash

Im Gegensatz zur Grünen Grenze ist am Grünen Pass nichts grün. Ja, jeder stellt ihn sich anders vor, sagte die Apothekerin, die ihn mir ausdruckte, obwohl er eigentlich nicht einmal ein Blatt ist, kein Papier braucht, um zur Geltung zu kommen. Als schwarz-weißer scannbarer QR-Code stellt er seit einigen Monaten in großen Teilen des EU-umgrenzten Europa das Passepartout für fast alles, was in Gesellschaft Freude, macht dar. Hier stoßen wir auf eine vielversprechende Eigenschaft des Grünen Passes, anders als die grüne Grenze betrifft er nicht den Geburtsort, nicht die Verwandtschaft, sondern den Aufenthaltsort.

Auch jemand ohne europäischen Pass könnte in Europa den Grünen Pass erhalten und damit „unkomplizierten Zutritt zum Beispiel in Restaurants, Cafés, ins Wirtshaus, in Theater, Kinos oder zum Frisör“, wie mir das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, ansässig am Stubenring 1, 1010 Wien schrieb, als es sich „ganz herzlich“ bei mir bedankte, dass ich mich gegen Corona impfen hatte lassen. Anders als für den Erwerb des Reisedokuments Pass konnte ich etwas tun, um den Grünen Pass zu erhalten, ich habe „aktiv geholfen“ und „mich und meine Mitmenschen geschützt“.

Das Gute am Grünen Pass wäre, dass er uns dauernd daran erinnert, wie es ist, keinen Pass zu haben. Wir sagen: Deine Freiheit endet, wo meine beginnt. Wir fügen hinzu: Was heißt überhaupt frei sein? Wir sprechen von Gesten-verantwortlicher-Freiheit-im-Sinne-Jaques-Derridas (Der Derrida, der sich nackt vor seiner Katze schämte). 

Und trotzdem sind nicht einmal die Grünen Pässe für alle gleich. Es gibt jene Personen, denen sie „fast unbeschwerte Reisefreiheit“ ermöglichen. Und jene, bei denen der Freiheitsdrang mit einem Frisörbesuch gestillt sein muss.

Am adriatischen Meer, etwa 50 Kilometer nördlich von Pescara, zu Füßen des Gran Sasso, hatte ich Gelegenheit, die mir mittels meines abgelaufenen österreichischen Passes verliehenen Superkräfte zu beweisen. Ich stand an einer endlos wirkenden vierspurigen hellblauen Rutsche. Sie war steil. Fortwährend strömte Wasser darin. Um hinunterzukommen, musste ich mich in das Wasser hineinsetzen, vom Wasser mittragen lassen. Schneller und schneller und schneller und schneller und schneller und schneller und schneller und schneller. Blind stürzte ich hinunter, das Wasser spritzte mir ins Gesicht, in die Augen, ich verlor die Kontrolle über meinen Körper, wurde in die Luft katapultiert und platschte in die Tiefe, tauchte unter, tauchte wieder auf. Ein Riesenspaß! Mein Begleiter, er ist vor zwei Monaten sechs geworden, wollte sofort noch einmal. Rutsche Nr. 8!

Wir sagen: Deine Freiheit endet, wo meine beginnt. Wir fügen hinzu: Was heißt überhaupt frei sein?

Im Land, wo die Zitronen blühen, war er, anders als in Wien, jung genug, keinen Grünen Pass für derartige Vergnügungen zu brauchen. Nur ich durfte den QR-Code herzeigen. Die Zitronen hingen schon als Früchte an den Bäumen. Wir steigen den Hügel hinauf. Warten in der vierspurigen Schlange, bis wir drankommen. Via! Das ist das Codewort. Keine Kunst, es zu verstehen. Aber trotzdem. Wie würde jemand am Wolfgangsee das formulieren? Uuuuund, owe middia?

Ich weiß es offen gestanden nicht. Ich weiß, dass um 11 Uhr, um 15 Uhr und um 16 Uhr die Blaue Welle kommt, Onda Blu; sie rollt daher wie ein glitzerndes Unheil aus flüssigem Kristall, hebt dich auf, macht dich schwerelos. Du verlierst den Boden unter den Füßen, wirst dann, überraschend sanft, wieder abgesetzt; aber bevor du dir die Augen gerieben hast, bevor du wirklich Atem geholt hast, kommt die nächste und dann noch einmal, oder ist es doch dieselbe. Eine Welle ist (dem Duden zufolge) zuallererst „der aus der Wasseroberfläche sich für kurze Zeit herauswölbende Teil bei bewegtem Wasser“, in einer etwas seltener verwendeten Bedeutung wird die Welle als „wellige Stelle des Kopfhaars“ definiert.

Wir können uns auch durch Gestik verständigen, siehst du so, ganz ohne Ton, sagte der junge Superheld; nachdem er gerutscht war, konnte er urplötzlich schwimmen. Wir standen zum vierten Mal oben; vor uns der steile hellblaue Wasserfall. Die Frau, die bestimmte, wann wir losrutschen durften, erkannte uns mittlerweile und unterstützte ihren Ruf Via! mit einer kräftig schiebenden Armbewegung durch die Luft. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit auf Deutsch „via!“ zu sagen? Sie werden jetzt vielleicht an das Wort „los“ denken. Aber wie fühlen Sie sich, wenn Sie „los“ denken? Steckt da nicht irgendwo ein Ballon drin in dem Wort, der sich aufbläht, während ich es denke, auf meinen Magen drückt, den Eindruck erweckt, ich würde gleich platzen, wenn ich jetzt los – gehe?

 Und „via“ katapultiert mich auf die Via Appia Antica, 312 v. Chr. und schickt mir einen Laserstrahl durch den Körper, der mich lang macht, elastisch, unverwundbar?

 

Zögern vor dem Glück

„So lernte der Deutschösterreicher alles, was er in bezug auf den Gesamtstaat dachte und aussprach, in soundsoviele andere Sprachen übersetzen und begegnete dabei der geheimnisvollen Tatsache, daß jeder Satz der eigenen Sprache, ob auch in der fremden dem Sinne nach gleich, dennoch in dieser nicht nur phonetisch, sondern auch seelisch einen anderen Klang hat. So wurde er zu einem Menschen, der sich hineindenken konnte, ja, hineindenken mußte in fremde nationale Gefühlswelten, in fremde Volksseelen, so wurde er Völkerkenner, Menschenkenner, Seelenkenner, mit einem Wort: Psychologe.“ Der Schriftsteller, der das schrieb und aussprach, war vor einem Jahrhundert der erste Direktor des Wiener Burgtheaters. Er bekam den Job, als das Theater nicht mehr von der Gnade des Kaisers, sondern der politischer Parteien abhing. Er hieß Anton Wildgans und formulierte die zitierten Sätze im Jahr 1929 in einer „Rede über Österreich“, die er vor dem schwedischen Königshaus in Stockholm halten hätte sollen, zum Geburtstag der Österreichischen Republik, aber krankheitsbedingt nur schriftlich abgeben konnte.

Er schrieb sie in der Absicht, den, wie er ihn nannte, „österreichischen Menschen“ zu definieren. Vieles in dieser Rede kann man als Plädoyer für ein vielsprachiges, friedliches Europa lesen und war auch so beabsichtigt.

Wäre es, denke ich beim Lesen der 92 Jahre alten Sätze, gerade das Zögern vor der eigenen Sprache, das mich zu einer Paradeösterreicherin macht, die ich nie zu sein beabsichtigte? Wäre das zugleich das Europäische an mir? Wildgans war Dichter, seinerzeit als Dramatiker sehr angesehen und gehörte keiner Partei an. Das war einer der Gründe, weshalb ihm die Position des Theaterdirektors angetragen worden war, und auch der Grund, warum er sie nach nur anderthalb Jahren wieder verlor. Weder das sozialdemokratische noch das bürgerliche Lager unterstützte ihn, er fand sich zerrieben zwischen den schier unüberbrückbaren Diskrepanzen der politischen Anschauungen. 1930 übernahm er dennoch neuerlich die Führung des Burgtheaters. Er ließ sich dazu überreden, seine idealistische Liebe zum Haus scheint groß gewesen zu sein. Kaum zwei Jahre später kündigte er; diesmal endgültig, denn er starb kurz danach.

Es war die Zeit der (damaligen) Weltwirtschaftskrise und es gab Überlegungen, das Burgtheater in ein Kino umzuwandeln. Wildgans' überzeugte Parteidistanziertheit half nicht gerade, effektiv gegen diese Bestrebungen aufzutreten. Doch das Burgtheater ist noch immer ein Theater, sogar nach 307 Schließtagen, der längsten Schließzeit in seiner Geschichte, steht es allen gegen Corona Geimpften, Getesteten und von der Krankheit Genesenen wieder offen. Offen, aber unter einer Bedingung.

Der sechsjährige Superheld aus dem italienischen Wasserpark kann sich an keine Zeit erinnern, in der er spontan in eine Vorstellung gehen hätte können. Für ihn bedeutet ein Theaterbesuch Planung, PCR-Test, Grüner Pass – der dann nur zwei Tage gilt. Ohne den bleibt ihm das Theater verwehrt, nur die geimpften Erwachsenen dürfen hinein. Der Zugang zu Theatern müsse unbedingt für alle gleichberechtigt möglich sein, hieß es eine Weile. Dann, unversehens, wurde es anders.

Schon sechsjährige Europäer werden heute (besonders wenn sie in Wien leben), tagtäglich daran erinnert, dass ihre Superkräfte nur bedingt sind. Das macht womöglich bescheiden und vielleicht rücksichtsvoll, vielleicht ist es auch nur ein Indiz dafür, dass manche (mittel-?) europäischen Regierungen ihre Bürgerinnen und Bürger gerne wie Internatszöglinge behandeln und es überaus schwierig ist, Regeln zu definieren, die eine große Gruppe Menschen als gerecht empfindet. Mein potenzieller Supereuropäer jedenfalls visiert das Auswandern nach Amsterdam an, wo Kinder ohne PCR-Ausweis in alle Theater dürfen, und auch in den Eissalon.

 

Spinnennetz im Gegenlicht
Europa ist mehr denn je miteinander verbunden, Foto: Bas van den Eijkhof via unsplash

 

Ich bin mir nicht sicher, ob sich Menschen, die heute erwachsen werden, das Glück Europäerin zu sein, so intensiv offenbart wie mir damals; während es dem offiziellen Europa mehr denn je und in größerem Stil denn je darum geht, Menschen physisch aus gewissen Gebieten auszusperren: sei es aus Litauen, sei es aus Deutschland, sei es aus Theatern oder Kinos. Ich habe den Verdacht, der empfundene Vorteil des Als-Europäerin-geboren-Seins erschöpft sich oft im materiellen Reichtum, der sich daraus derzeit ergibt. Und vielleicht beweist das ja schlicht, dass funktioniert, was einst der Motor der Erweiterung der EU war: eine wirtschaftliche Einheit sein und damit gemeinsam reicher werden als jeder einzelne Staat bisher.

„Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist der EU-Binnenmarkt der größte gemeinsame Wirtschaftsraum der Erde“, finde ich im Online-Lexikon. Alle Waren dürfen unkompliziert und rechtlich abgesichert überallhin innerhalb der Europäischen Union transportiert werden. Genau. Andererseits – ich gebe zu, ich hätte es selbst fast vergessen – wurde die EU im Jahr 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wer wäre friedlich genug, ihn ihr abzuerkennen?

„Führerschaft“, schrieb Wildgans in seiner Rede, die ihm vielleicht dazu verhalf, ein zweites Mal Direktor zu werden, „Führerschaft [...] erfordert hinwiederum ein Über-den-Parteien-stehen, welches im gegebenen Falle identisch war mit einem Stehen über den Nationalitäten.“ Mit dem gegebenen Falle meinte er die Österreichisch-Ungarische Monarchie und gewiss idealisiert er, mangels zeitlichen Abstands und weil er in sie und in eine bürgerliche Familie hineingeboren wurde, die Zustände in der Monarchie. Er spricht aus der Sicht des deutschsprachigen privilegierten gebildeten Mannes, und er spricht 92 Jahre vor mir. Trotzdem möchte ich noch eine Stelle aus seinem Text wiederholen, „Das Unheil“, heißt es da, „das immer wieder in Gestalt von Kriegen oder Klassenkämpfen die Welt überflutet, es stammt zumeist [...] von der Trägheit der Geister und der Herzen, die sich mit bloßen Gerüchten über den anderen und mit Lügen über den anderen begnügen, anstatt ihn zu erkennen und dadurch in seiner Wesensart, in seinen Leidenschaften, Empfindlichkeiten und Ansprüchen zu begreifen.“

Als europäische Menschen, die deswegen nicht unbedingt in Europa zu leben brauchen, Menschen, die sich ein Zögern vor der eigenen Sprache erlauben.

„Wos woins“, sagte ein Mann hinter mir, als ich nicht zurechtkam mit dem Scannen des Barcodes auf dem kleinen Papierstreifen, der mir zur Benutzung der öffentlichen Toilette auf dem Hauptbahnhof ausgehändigt worden war. Ich drehte mich um und sagte leise erklärend, „Hij bedoelt ik moet opschieten“. „Du musst aufschließen“, würde mein junger Begleiter das lachend übersetzen, wohlwissend, dass in Wien niemand so zur Beeilung aufgefordert wird, Niederländisch ist seine Vatersprache. Wir waren dem Nachtzug aus Rom entstiegen und wieder umringt von „österreichischen Menschen“.

Die Frage ist, hat denn der österreichische Mensch 92 Jahre nach Anton Wildgans' Definition noch dieses sprachliche Potenzial zur Psychologin und Unheilsvermeiderin? Oder ist sie zur internationalen englischsprechenden Menschin geworden, die nicht mehr weiß, wovor sie zögern sollte, weil es vor dem Englischen kein Zögern gibt? Sind wir unversehens schon in der präbabylonischen Zukunft angekommen, in der Sprachen als benennbare und trennende Einheiten aufgehoben sind, wie in dem alttestamentarischen Mythos des Turmbaus zu Babel oder dem neutestamentarischen Pfingstwunder?

 

Europa heute

Und fällt es daher umso leichter, „no“ zu sagen, wenn jemand bei uns anklopft, hereinwill? Please? No! Ich habe die Hoffnung, es könnte den „österreichischen Menschen“ einmal geben. Als europäische Menschen, die deswegen nicht unbedingt in Europa zu leben brauchen, Menschen, die sich ein Zögern vor der eigenen Sprache erlauben, den Zweifel, ob „grün“ der richtige Ausdruck ist für so viel Verschiedenes, Menschen, die neugierig sind auf die Sprachen der anderen und daher auch auf die anderen als Personen, begeistert von der Vielfalt, es nicht nur normal finden, viele Sprachen zu sprechen und zu lesen, sondern schön, auch solche, die als tot gelten, aber so lange leben, wie sie von jemandem gelesen werden.

Menschen, wie ich sie kenne, manche von ihnen sind noch kaum 140 Zentimeter groß, wachsen aber ständig. Schon jetzt können sie vier oder fünf Sprachen, lesen „De grote glazen lift“ von Roald Dahl auf Niederländisch, Michael Endes „Unendliche Geschichte“ auf Französisch, träumen auf Portugiesisch und essen – selbstverständlich – Italienisch, sie wissen, wo Minsk liegt, weil sie Schokolade von dort gegessen haben, verpackt in Papierschleifen mit unterschiedlichen Katzen drauf, sie hören persische Lieder, schauen Peppa Pig auf Rumänisch. Bald werden sie chinesische Zeichentrickfilme im Original sehen und wissen, was es bedeutet, wenn ein Grieche dich „kollitari“ nennt; die Erkenntnis, dass das Wort neben „Klette“ oder „Klebstoff“ auch „Freund“ bedeutet, wird den europäischen Menschen helfen, wenn sie darüber verhandeln, ob Autos in Städten für immer verboten werden sollen, ob Fliegen oder doch das Reisen als Hologramm energiesparender ist.

Stellen Sie sich vor, wir würden in der Schule die saugenden Zungenbewegungen einer aussterbenden afrikanischen Klicksprache lernen, wie Häkeln oder Stricken; dass ein leichtes Kopfschütteln in Albanien Einverständnis bedeutet, das griechische „ναϊ“ allerdings „ja“ meint. Dass die in Afghanistan gesprochene Sprache Paschtunisch heißt und ähnlich nah verwandt mit dem Deutschen ist wie das Griechische und „danke“ in dieser Sprache wie „manana“ klingt. „Sprache ist Strafe“, sagte Ingeborg Bachmann, als sie sich 42 Jahre nachdem Anton Wildgans über den österreichischen Menschen gesprochen hatte, für den nach ihm benannten Literaturpreis bedankte. Da will ich ihr widersprechen. Sprache ist Möglichkeit, das Potenzial zu verstehen, was die andere, der andere braucht, wünscht, träumt. Sprachen kennen keine Grenzen. Vor allem in Europa.

Über die Autorin
Portrait von Andrea Grill
Andrea Grill
Biologin und Schriftstellerin

Andrea Grill studierte Linguistik, Biologie, Italienisch und Spanisch. 2003 promovierte sie an der Universität Amsterdam über die Schmetterlinge Sardiniens. Über mehrere Jahre war sie in der wissenschaftlichen Forschung tätig und schrieb daneben Bücher. Nach Aufenthalten in Amsterdam, Neuchâtel, Bologna, Tirana und Bern lebt sie heute in Wien. Ihr Roman "Cherubino" stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019.

Bücher (Auswahl):

  • Sam und die Evolution: Eine kurze Geschichte der Evolutionsbiologie. Tyrolia, Innsbruck 2022
  • Cherubino. Roman. Zsolnay, Wien 2019
  • Schmetterlinge: Ein Portrait (Naturkunden). Matthes & Seitz, Berlin 2016
  • Das Paradies des Doktor Caspari. Roman. Zsolnay, Wien 2015

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.