Moralischer Relativismus
Die Kehrseite des Balanceakts der Realpolitik ist der moralische Relativismus, und dieser entfaltet sich in einem Raum, der durch zwei komplexe Prozesse ermöglicht wird, die zur Einzigartigkeit dieser Weltmeisterschaft beitragen. Beide Prozesse sind nicht direkt auf den Sport zurückzuführen.
Erstens haben sich die globale politische Kultur und die Art und Weise, wie sie diskutiert wird, stark verändert; zweitens bedeutet die dominierende Position des globalen Kapitalismus, dass viele ideologisch gegensätzliche Regime immer stärker voneinander abhängen (beispielsweise ist der Westen von Gas und Öl aus dem Nahen Osten abhängig).
Eine politische Kultur besteht aus weit verbreiteten Überzeugungen und Haltungen, die prägen, ordnen und untermauern, wie wir politische Institutionen und Systeme verstehen. Dazu zählt auch, wie sich Politikerinnen und Politiker verhalten, was sie sagen und was sie tun. Wir denken, dass die Fragmentierung unserer politischen Kultur – durch Halbwahrheiten, Betrug, Doppelzüngigkeit und Lügen (beispielsweise Donald Trumps Behauptung, die Wahlen in den USA seien „gestohlen“ worden) – einen Raum für moralischen Relativismus eröffnet hat, der es sehr erschwert, rational zu debattieren.
Die Fragmentierung verstärkt auch eine „Sie“-und-„Wir“-Mentalität, die Schwarz-Weiß-Darstellungen von anderen Kulturen Vorschub leistet.
Die Fragmentierung unserer politischen Kultur hat einen Raum für moralischen Relativismus eröffnet, der es sehr erschwert, rational zu debattieren.
Die FIFA verteidigt den Gastgeber Katar vehement gegen eine Flut kritischer Medienberichte. Dies zeigte sich in zweierlei Hinsicht: Erstens machte die FIFA in letzter Minute eine Kehrtwende und verbot den Mannschaftskapitänen, während des Spiels eine Regenbogen-Armbinde zu tragen (ein Symbol der Solidarität mit der LGBT+-Gemeinschaft, da Homosexualität in Katar illegal ist).
Dies wurde als klares Zeichen dafür verstanden, dass die FIFA Katar unterstützt; zweitens hielt der FIFA-Präsident Gianni Infantino in einer Pressekonferenz einen bizarren einstündigen Monolog, in dem er im Wesentlichen Europa und dem „Westen“ Heuchelei und grobe Doppelmoral vorwarf, da sie selbst in der Vergangenheit für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gewesen seien.
Die Vorstellung von „Doppelmoral“ der Kritiker Katars ist der zentrale Punkt, an dem sich der globale Kapitalismus und eine fragmentierte politische Kultur begegnen, denn diejenigen, die die Heuchelei herausstellen, verweisen darauf, dass der Westen von Energie und deren Einfuhr abhängig ist (wodurch sich Katar weiter bereichert).