Dicke Bretter bohren! Der Einfluss der Wissenschaft auf die europäische Klimapolitik

Die Wissenschaft hat vorgelegt, jetzt muss die Politik handeln: Manfred Fischedick, Leiter und Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, über Herausforderungen und Anforderungen an die europäische Klimapolitik.

Das Interview führte Nathalie Saccà

ifa (Institut für Auslandsbeziehungen): Herr Fischedick, der globale Erdüberlastungstag fällt dieses Jahr auf den 2. August, Deutschland hatte bereits am 4. Mai 2023 die ihm zustehenden natürlichen Ressourcen aufgebraucht. Was fordern Sie als Wissenschaftler von der Politik, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?

Manfred Fischedick: Die Hintergründe für den frühen Zeitpunkt des Erdüberlastungstages sind vielschichtig. Insbesondere sinken die Treibhausgasemissionen nicht schnell genug, der Rohstoffverbrauch ist viel zu hoch und die Energieeffizienzfortschritte werden durch zusätzlichen Konsum zumindest zum Teil kompensiert. Die Antwort darauf kann nur eine konsequente Politik sein, die u.a.

  • darauf drängt, dass Produkte energieeffizienter werden und energetische Sanierungsmaßnahmen – vor allem in Gebäuden – schnell durchgeführt sowie Reboundeffekte vermieden werden,
  • auf einen raschen Ausbau erneuerbarer Energien setzt und auf die Abkehr von fossilen Strukturen, inklusive fossiler lock-in Strukturen,
  • energiebewusstes, nachhaltiges Konsumverhalten unterstützt und dafür motiviert, z.B. weniger Fleisch zu essen,
  • eine Abkehr der heute nach wie vor linearen Produktionsstrukturen in eine echte Kreislaufwirtschaft befördert,
  • den Mut hat, die dicken Bretter anzugehen und Widerstände zu überwinden, z.B. Verhaltensroutinen aufzubrechen oder autofixierte städtische Infrastrukturen zu überwinden,
  • auf eine echte Beteiligung an den anstehenden Transformationsprozessen ausgerichtet ist, z.B. für Anwohner:innen und Kommunen an Windkraftwerken vor Ort,
  • durch ein geschlossenes positives Narrativ überzeugt und darstellt, welche Chancen mit einer klimagerechten Entwicklung verbunden sind und damit zum Mitmachen anregt, also eine Mitmachkultur implementiert.

Als wissenschaftlicher Leiter und Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und Leitautor im Weltklimarat IPCC beraten Sie sowohl die deutsche als auch die europäische Klimapolitik. Wie bewerten Sie die aktuelle europäische Klimapolitik aus wissenschaftlicher Sicht?

Fischedick: Mit dem European Green Deal hat die Europäische Union (EU) einen ganzheitlichen Ansatz ins Zentrum gestellt, der Klima- und Umweltschutz erstmals in enger Verbindung mit wirtschaftlicher Entwicklung und der Reduktion von Verletzlichkeiten sieht und ambitionierte Ziele vorgibt. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht nachdrücklich zu begrüßen. Es ist aber notwendig, die Ziele konsequent und kontinuierlich umzusetzen und so eine hinreichende Transformationsdynamik zu erzeugen. Auch wenn man sagen kann, dass die EU die nationalen Klimaschutzpolitiken antreibt, z.B. durch das Europäische Emissionshandelssystem oder die Ökodesign-Richtlinien, muss man dennoch konzedieren, dass an verschiedenen Stellen die nötige Konsequenz fehlt. Zwei Beispiele:

  • die Regelungen der EU-Taxonomie, die nachhaltiges von nicht nachhaltigen Wirtschaften unterscheiden und damit die Hebelwirkung der Finanzwirtschaft nutzen soll, wurden deutlich verwässert als kurz vor ihrer Verabschiedung Kernenergie und Gas als Übergangstechnologien einbezogen wurden,
  • die Versuche von Teilen des EU-Parlaments Vorgaben für den Klimaschutz aufzuweichen und das Rad teilweise wieder zurückzudrehen.

Aus wissenschaftlicher Sicht sind das unverständliche Haltungen angesichts der immer sichtbareren Folgen des Klimawandels, seien es langanhaltende Hitzeperioden oder extreme Regenfälle und Stürme.

Wir brauchen mehr Pragmatismus und mehr Tempo vor allem bei der Gestaltung und Anwendung des Beihilferechts, bei der Zuweisung von Fördermitteln und bei den Genehmigungsverfahren.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen vor denen die europäische Klimapolitik momentan steht?

Fischedick: Neben der bereits geforderten Konsequenz und Kontinuität ist es eine der ganz großen Herausforderungen, trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen innerhalb der Mitgliedsstaaten schnell zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen. Am Ende profitieren alle von einem klimaverträglichen, resilienten, auf erneuerbaren Energien basierenden Energiesystem, das auf der engen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten aufbaut. Dafür bedarf es an der einen oder anderen Stelle des Muts, das gemeinsame Ziel über nationale Egoismen zu stellen.

Eine weitere Herausforderung ist angesichts des immensen Handlungsdrucks deutlich mehr Pragmatismus im Handeln. Wir haben schlicht keine Zeit mehr, auf die zu hundert Prozent besten Lösungen zu warten und uns nach allen Seiten mehrfach abzusichern. Wir brauchen mehr Pragmatismus und mehr Tempo vor allem bei der Gestaltung und Anwendung des Beihilferechts, bei der Zuweisung von Fördermitteln und bei den Genehmigungsverfahren.

Welche Instrumente würden Sie sich wünschen, um auf die Politik einwirken zu können?

Fischedick: Wir brauchen meines Erachtens stärkere Mandate für wissenschaftliche Beiräte oder Begleitkreise, die Defizite in der Umsetzung der Emissionsminderungspfade klar benennen und konkrete Vorschläge für zusätzliche Maßnahmen machen. Und wir müssen die bestehenden Regelungen konsequent einhalten.

Das deutsche Klimaschutzgesetz sieht einen Automatismus vor, der Ministerien, die innerhalb ihrer Sektoren die Minderungsvorgaben nicht erreichen, dazu verpflichtet Sofortprogramme aufzulegen, um wieder auf den Zielpfad zu kommen. Sowohl der Gebäudesektor als insbesondere auch der Verkehrssektor haben die Sektorvorgaben in den letzten Jahren regelmäßig „gerissen“, ohne dass seitens der Ministerien hinreichend umfassende Sofortprogramme entwickelt und umgesetzt worden sind. Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit sehen anders aus.

Im IPCC Report 2023 steht, dass für wirksame Klimaschutzmaßnahmen politisches Engagement, gemeinsame Richtlinien und Wissensaustausch notwendig sind. Wo sehen Sie diese Voraussetzungen als gegeben an und wo fehlen sie noch?

Fischedick: Auf europäischer Ebene gibt es durch zahlreiche Formate und Gremien einen gut etablierten Wissensaustausch. Dabei ist es wichtig, Erfolgsbedingungen und die Abhängigkeit spezifischer Maßnahmen von den nationalen Rahmenbedingungen offen anzusprechen. Europäische Richtlinien sind für alle Länder verpflichtend und erzeugen so ihre Wirkmächtigkeit.

Auf regionaler Ebene muss der Austausch dringend verbessert werden, vor allem zwischen Regionen, die mit ähnlichen Anforderungen hinsichtlich des Strukturwandels zu kämpfen haben. Aber auch auf internationaler Ebene gibt es noch Entwicklungsbedarf. Der IPCC berichtet wie auch die Internationale Energieagentur über das Portfolio geeigneter Politikmaßnahmen. Ergänzend brauchen wir aber einen intensiveren bi- oder multilateralen Austausch und einen Prozess gemeinsamen Lernens. Dabei müssen unterschiedliche Bezugsgruppen, die jeweils mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, eingebunden und zum Austausch befähigt werden (peer to peer learning).

Am Ende profitieren alle von einem klimaverträglichen, resilienten, auf erneuerbaren Energien basierenden Energiesystem. Dafür bedarf es an der einen oder anderen Stelle des Muts, das gemeinsame Ziel über nationale Egoismen zu stellen.

Blicken wir noch auf Deutschland: Die Wissenschaft hat bereits Lösungsansätze zur Energiewende formuliert, Sie selbst haben an einem Sechs-Punkte-Sofortprogramm für die Wärmewende mitgewirkt. Mit welchem Gefühl verfolgen Sie die aktuellen Debatten im Deutschen Bundestag?

Fischedick: Mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits ist es gut zu sehen, dass jetzt endlich mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und Geschwindigkeit an Lösungen gearbeitet wird. Dass es dabei „rumpelt“, ist angesichts des enormen Handlungsdrucks und des immensen Nachholbedarfs wenig verwunderlich. Seit 2010 wurden zwar die Klimaschutzziele stetig angepasst und verschärft, eine hinreichende Transformationsagenda wurde jedoch nicht entwickelt, geschweige denn umgesetzt.

Die Debatte um das Gebäudeenergiegesetz (GEG) hat deutlich gemacht, dass es bei aller Eile auf gute Kommunikation und gutes Erklären – wozu brauchen wir das Gesetz und warum gibt es dazu keine Alternativen? – ebenso ankommt wie auf die richtige Schrittigkeit. Weitreichende ordnungspolitische Maßnahmen vorzugeben, z.B. das Verbot, fossil befeuerte Heizungssysteme einzubauen, ohne zeitgleich die Ängste vor der Umsetzung durch ein adäquates Förderprogramm und Übergangsregelungen zu nehmen, hat zu einem hohen Maß an Verunsicherung und Frustration geführt. Klimaschutzpolitik ist komplex und muss die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen mitdenken. Daher müssen geschlossene Maßnahmenpakete statt Einzelinstrumente formuliert werden. Vorschläge aus der Wissenschaft lagen auf dem Tisch.

Im September reisen Sie für das Vortragsprogramm der Bundesregierung nach Budapest und sprechen über die Möglichkeiten und Herausforderungen der Energiewende. Was erhoffen Sie sich von der Reise?

Fischedick: Ich erhoffe mir deutlich machen zu können, dass angesichts des sich dramatisch verändernden Klimas effektiver Klimaschutz alternativlos ist und eine europäische Gemeinschaftsaufgabe darstellt. Ich erhoffe mir zudem deutlich machen zu können, dass wir heute auf der Basis wissenschaftlicher Studien und Szenarioanalysen sehr gut wissen, wie die notwendigen Transformationspfade gestaltet werden müssen, auch wenn wir dazu (noch) nicht auf etablierte Blaupausen zurückgreifen können.

Ich erhoffe mir schließlich deutlich machen zu können, dass umfassender Klimaschutz zwar eine große Herausforderung, aber auch mit Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft verbunden ist. Nicht zuletzt erhoffe ich mir einen offenen Austausch und einen kritischen Dialog. Nur dadurch lassen sich Argumente schärfen, Widerstände überwinden und Maßnahmen in geeigneter Weise anpassen.

Klimaschutzpolitik ist komplex und muss die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen mitdenken. Vorschläge aus der Wissenschaft lagen auf dem Tisch.

Wie beurteilen Sie die Anliegen und das Vorgehen der jungen Aktivist:innen von „Fridays for Future“ oder der „Letzten Generation“?

Fischedick: Die junge Generation hat jegliches Recht auf den Handlungsdruck hinzuweisen und die politischen Entscheidungsträger:innen in die Pflicht zu nehmen. Dies erfordert aber nicht nur die Formulierung notwendiger Zielpfade, z.B. das Einhalten des 1,5 °C Pfades, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem „wie“: wie kann dieses Ziel erreicht werden? Welche Veränderungen sind in den einzelnen Sektoren notwendig? Wo braucht es eine massive Beschleunigung bestehender Dynamiken und wo eine drastische Trendumkehr? Und schließlich: mit welchen Instrumenten können die Ziele sozial verträglich umgesetzt werden?

Wir im Wuppertal Institut haben 2020 über mehrere Monate hinweg einen intensiven Diskurs mit „Fridays for Future“ über diese „wie-Fragen“ geführt und die Ergebnisse in einem Gutachten zusammengestellt. Wenn man so will, ist seitdem bekannt, wie dick die Bretter sind, die es zu durchbohren gilt, um den 1,5 °C Pfad einhalten zu können. Und es ist seitdem möglich, eine aufgeklärtere Debatte über die Umsetzungsmöglichkeiten und -hürden zu führen.

Protest ist wichtig und Protestaktionen müssen auch anecken, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Protestaktionen der „Letzten Generation“ oder anderer Gruppen haben mittlerweile jedoch ein Niveau erreicht, das die Gefahr birgt, eher kontraproduktiv für den Klimaschutz zu sein. Das Störgefühl ist in weiten Teilen der Bevölkerung inzwischen so groß geworden, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für den Klimaschutz zurückgeht. Dem Klimaschutz gegenüber positiv eingestellte Menschen beginnen sich abzuwenden.

Über
Portrait von Manfred Fischedick
Manfred Fischedick
Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie

Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick ist seit Januar 2020 Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer und seit 2010 Mitglied der Geschäftsführung des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. 2008 wurde er zum außerplanmäßigen Professor des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal berufen. Er ist zudem einer der Leitautoren des 6. Sachstandsberichtes des Weltklimarates (IPCC). Zu Fischedicks Arbeitsschwerpunkten gehört besonders dieTransformations- und Nachhaltigkeitsforschung, für die er sich v.a. durch seine Mitgliedschaften in verschiedenen Beiräten zum Klimaschutz einsetzt.

Vortragsprogramm der Bundesregierung

Expert:innen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien informieren in Vorträgen und Podiumsdiskussionen aktuell und vielschichtig über Deutschland. Das ifa organisiert das Vortragsprogramm der Bundesregierung zusammen mit den deutschen Botschaften und Konsulaten im Ausland. Es richtet sich an Multiplikator:innen der Zivilgesellschaft in diesen Ländern. Weitere Informationen auf der Website des ifa.