Illustration: Die Weltkugel liegt auf einem Buchrücken ein Scheinwerfer scheint auf sie.

Sprachlos in die Zukunft

Macht die westliche Literatur einen Bogen um Klimawandel? Der indische Autor Amitav Ghosh fordert von Schriftstellern und Autoren, ihn in Romanen und Erzählungen stärker zu berücksichtigen. Noch gebe es zum Klimawandel auch keinen Weltroman.

Dass der Klimawandel auf die Landschaften der literarischen Fiktion einen noch wesentlich kleineren Schatten wirft als auf die öffentlichen Arenen, ist unschwer festzustellen. Um es zu erkennen, brauchen wir bloß durch ein paar hoch angesehene Literaturjournale zu blättern: die Londoner Review of Books, die New Yorker Review of Books, die Los Angeles Review of Books, das Literary Journal oder die New York Times Review of Books. Denn wenn das Thema Klimawandel in solchen Publikationen überhaupt zur Sprache kommt, dann fast immer nur im Zusammenhang mit Sachbüchern; Romane und Kurzgeschichten sind vor diesem Horizont nur sehr selten zu entdecken.

Es scheint, als werde das Thema Klimawandel von der literarischen Imagination als irgendwie geistesverwandt mit Außerirdischen oder interplanetarischen Reisen empfunden.

Man könnte sogar sagen, dass Erzählungen über den Klimawandel faktisch per definitionem nicht zu der Art von Belletristik zählen, die seriöse Literaturzeitschriften ernst nehmen. Allein die Erwähnung dieses Themas reicht oft schon aus, um einen Roman oder eine Kurzgeschichte in das Genre der Science-Fiction zu verbannen.

Es scheint, als werde das Thema Klimawandel von der literarischen Imagination als irgendwie geistesverwandt mit Außerirdischen oder interplanetarischen Reisen empfunden. Diese merkwürdige Rückkopplungsschleife ist irritierend.

Man kann sich doch schwerlich ein Konzept von Ernsthaftigkeit vorstellen, das potenziell lebensverändernde Bedrohungen ausblendet. Und machte man die Dringlichkeit eines Themas tatsächlich zum Kriterium für dessen Ernsthaftigkeit, dann würde der Klimawandel angesichts der Omen, die er für die Zukunft der Erde parat hält, doch gewiss Schriftsteller in aller Welt dazu veranlassen, sich vordringlich ihm zu widmen.

Doch das ist, wie ich feststellte, ganz und gar nicht der Fall. Warum nur?

Buch mit der Aufschrift "World Changing. A users's guide for the 21st century".
Romanciers, die sich mit dem Thema Klimawandel befassen, tun dies fast immer außerhalb des erzählerischen Rahmens, Foto: Greg Bakker via unsplash

Sind die Strudel der globalen Erwärmung zu wild, um mit den gewohnten Barken der Narration navigiert werden zu können? Dabei ist die inzwischen weithin akzeptierte Wahrheit doch, dass „wild“ in unserer Zeit zur Norm wurde. Wenn bestimmte literarische Formen außerstande sind, durch diese Wildwasser zu navigieren, dann werden sie Schiffbruch erleiden – und in diesem Scheitern wird man ein tieferes Versagen von Imagination und Kultur im Zentrum der Klimakrise erkennen müssen.

Zweifellos rührt dieses Problem nicht von einem Informationsmangel her. Mit Sicherheit sind sich heutzutage nur noch sehr wenige Schriftsteller der Störungen in den weltweiten Klimasystemen nicht bewusst. Und doch ist es erstaunlicherweise der Fall, dass Romanciers, die sich für das Thema Klimawandel entscheiden, dies fast immer außerhalb des erzählerischen Rahmens tun.

Ein Paradebeispiel dafür ist das Werk der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy. Nicht nur ist sie eine der besten Prosastilistinnen unserer Zeit, sie ist auch eine leidenschaftliche und kenntnisreiche Umweltaktivistin. Dennoch sind all ihre Schriften über den Klimawandel Sachbücher der einen oder anderen Art.

Oder betrachten wir den noch faszinierenderen Fall von Paul Kingsnorth, Autor des hoch gepriesenen historischen Romans The Wake, der im England des 11. Jahrhunderts angesiedelt ist. Kingsnorth hatte Jahre seines Lebens als Klimaaktivist verbracht, bevor er das einflussreiche „Dark Mountain Project“ ins Leben rief, „ein Netzwerk aus Schriftstellern, Malern und Denkern, die nicht mehr an die Geschichten glauben, die unsere Kultur sich selbst erzählt“ .1 Kingsnorth veröffentlichte zwar ein beeindruckendes Sachbuch über das „Global Resistance Movement“, doch bis zu dem Zeitpunkt, da ich dies schreibe, hat er noch keinen Roman verfasst, in dem der Klimawandel eine Hauptrolle spielt.

Auch ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Klimawandel, und doch streifen meine Romane dieses Thema nur am Rande. Dieses Ungleichgewicht zwischen meinen persönlichen Anliegen und den Inhalten meiner publizierten Arbeiten brachte mich zum Nachdenken und schließlich zu der Überzeugung, dass diese Diskrepanz nicht das Ergebnis meiner persönlichen Vorlieben, sondern eine Folge des merkwürdigen Widerstands ist, den der Klimawandel der heute sogenannten ernsten Erzählliteratur leistet.

Das Klima der Geschichte

Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty stellt in seinem bahnbrechenden Essay “The Climate of History“ fest, dass Historiker, die sich mit unserer Zeit des menschengemachten Klimawandels befassen werden – in der „Menschen zu geologischen Akteuren wurden, die die elementarsten physikalischen Prozesse der Erde verändern“ –, viele ihrer Grundthesen und Verfahrensweisen revidieren müssten.2

Ich würde sogar noch weiter gehen und dem hinzufügen, dass das Anthropozän3 nicht nur Kunst und Geisteswissenschaften vor eine Herausforderung stellt, sondern auch unseren sogenannten gesunden Menschenverstand und unsere zeitgenössische Kultur generell. Es steht natürlich außer Frage, dass diese Herausforderung nicht zuletzt aus den Komplexitäten der technischen Sprache erwächst, die unser wichtigster Zugang zum Klimawandel ist.

Die Klimakrise ist auch eine Krise der Kultur und deshalb eine der Imagination.

Aber zweifellos stellen uns auch die Praktiken und Prämissen vor Probleme, von denen Kunst und Geisteswissenschaften sich leiten lassen. Deshalb halte ich es für höchst dringlich geboten, dass wir herausfinden, auf genau welche Weise sie das tun – es könnte der Schlüssel zu der Erkenntnis sein, warum es der gegenwärtigen Kultur so schwerfällt, sich mit dem Thema Klimawandel auseinanderzusetzen.

Tatsächlich ist es vielleicht sogar die wichtigste Frage, die sich der Kultur im weitesten Sinne jemals gestellt hat – denn täuschen wir uns nicht: Die Klimakrise ist auch eine Krise der Kultur und deshalb eine der Imagination. Kultur weckt Begehrlichkeiten – zum Beispiel das Verlangen nach bestimmten Fahrzeugen und allen möglichen anderen Gerätschaften oder nach bestimmten Häusern und Gärten, die zu den Haupttriebkräften der Kohlenstoffwirtschaft zählen.

Ein rasantes Cabrio begeistert uns nicht, weil wir Metall und Chrom so lieben oder weil wir über ein so gutes abstraktes technisches Verständnis verfügen. Es begeistert uns, weil es in uns das Bild einer Straße durch unberührte Landschaften hervorruft und uns an Freiheit und winddurchtostes Haar denken lässt4, weil wir dabei James Dean oder Peter Fonda vor Augen haben, die dem Horizont entgegenrasen, weil wir dabei an Jack Kerouac und Vladimir Nabokov denken.

Kette von Übertragungssehnsüchten

Wenn wir eine Reklame sehen, die das Bild einer tropischen Insel mit dem Wort Paradies verknüpft, dann löst das sofort eine ganze Kette an Übertragungssehnsüchten in uns aus, die zurückreichen bis zu Daniel Defoe und Jean-Jacques Rousseau. Das Flugzeug, das uns dann auf die Insel bringt, ist bloß noch die Glut dieses Feuers.

Betrachten wir saftig grüne, von entsalzenem Wasser benetzte Rasenflächen in Abu Dhabi oder Südkalifornien oder irgendeiner anderen Gegend, in der sich die Menschen einst damit zufriedengaben, Wasser sparsam zur Pflege eines einzigen Rebstocks oder Strauchs zu verbrauchen, dann haben wir den Ausdruck einer Sehnsucht vor Augen, die Jane Austens Romanen Geburtshilfe geleistet haben könnte. 

Aber die Artefakte und Waren, die dank solcher Sehnsüchte hervorgezaubert werden, sind gewissermaßen zugleich Ausdrucksformen und Verschleierungen der kulturellen Matrix, die sie ins Leben rief.

Diese Kultur ist natürlich untrennbar mit den größeren, weltprägenden Geschichten von Imperialismus und Kapitalismus verknüpft. Doch dies zu wissen bedeutet noch lange nicht, die spezifische Wirkung dieser Matrix auf unsere diversen kulturellen Ausdrucksformen zu begreifen – Dichtung, Malerei, Architektur, Theater, Erzählprosa und anderes mehr.

Im Lauf der Geschichte haben diese kulturellen Branchen auf schlicht alles reagiert, seien es Kriege oder Umweltkatastrophen oder Krisen anderer Art gewesen. Wie kommt es dann, dass der Klimawandel sich so eigenartig resistent gegen sie erweist?

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, stellen sich den Schriftstellern und bildenden Künstlern heutzutage nicht nur Fragen, die die Kohlenstoffwirtschaftspolitik betreffen, sondern auch solche, die mit ihren eigenen Gepflogenheiten zu tun haben. Zum Beispiel die Frage, auf welche Weise sie sich zu Komplizen der Verschleierungstaktiken machen, derer sich die Breitenkultur bedient: Wenn zeitgenössische Trends in der Architektur sogar unter den heutigen Bedingungen des beschleunigten CO2-Ausstoßes noch stark spiegelnde, mit Glas und Metall verkleidete Hochhäuser favorisieren, dann müssen wir uns doch fragen, welche Wunschmuster durch solche Attitüden geschürt werden; wenn ich mich als Romancier entscheide, Markennamen als Elemente einer Charakterschilderung zu verwenden, dann muss auch ich mich fragen, in welchem Maße mich das zum Komplizen der Manipulationen des Marktes macht.

Müll verbrennt während ein Geschäftsmann Geld und die Weltkugel in einer Plastiktüte festhält.
Die Artefakte und Waren, die dank erweckter Sehnsüchte hervorgezaubert werden, sind gewissermaßen zugleich Ausdrucksformen und Verschleierungen der kulturellen Matrix, die sie ins Leben rief, Foto: Fikry Anshor via unsplash

Verbannung aus der Domäne ernster Literatur

Im selben Geiste muss aus meiner Sicht aber auch die Frage gestellt werden: Was hat der Klimawandel an sich, dass allein schon seine erzählerische Erwähnung zur Verbannung aus den Domänen ernster Literatur führt? Was sagt uns das über die Kultur und ihre Vermeidungsmuster?

Wenn die Welt sich schließlich substanziell verändert hat, wenn der Anstieg der Meeresspiegel etwa die Sundarbans, die größten Mangrovenwälder der Erde, verschluckt und Städte wie Kolkata, New York und Bangkok unbewohnbar gemacht hat5 und die Leser oder Museumsbesucher sich der Literatur und den bildenden Künsten unserer Zeit zuwenden – werden sie dann nicht als Erstes nach den Spuren und Vorzeichen für die verwandelte Welt suchen, die sie von uns geerbt haben?

Und wenn sie keine finden, zu welchem anderen Schluss sollten – könnten – sie dann kommen als dem, dass die meisten künstlerischen Ausdrucksformen unserer heutigen Zeit in den Sog der Verschleierungsmethoden geraten waren, die uns daran hinderten, die Realitäten unserer Misere zu erkennen? Insofern ist es doch sehr wahrscheinlich, dass unsere Ära, die sich so gerne ihrer Selbsterkenntnis rühmt, als die Zeit der Großen Verblendung6 in die Geschichte eingeht.

Es könnte natürlich gar nicht anders sein: Wären Romane nicht von einem Grundgerüst außergewöhnlicher Momente gestützt, stünden Schriftsteller vor der Aufgabe, die Welt in ihrer Gesamtheit abzubilden, so wie Jorge Luis Borges es in seinen Werken tat. Doch im Gegensatz zur Geologie war der moderne Roman nie gezwungen, sich der zentralen Bedeutung des Unwahrscheinlichen zu stellen. Damit ein Roman funktioniert, ist es nach wie vor unerlässlich, dass sein Autor das Ereignisgerüst verschleiert. Erst dadurch wird eine Erzählform als moderner Roman kenntlich.

Es stellen sich den Schriftstellern und bildenden Künstlern heutzutage nicht nur Fragen, die die Kohlenstoffwirtschaftspolitik betreffen, sondern auch solche, die mit ihren eigenen Gepflogenheiten zu tun haben.

Damit sind wir bei der Ironie des „realistischen“ Romans angelangt: Der Gestus, mit dem er Realität hervorzaubert, dient in Wirklichkeit dem Verbergen des Realen. Und das heißt konkret: Das Kalkül, mit dem Wahrscheinlichkeit in die imaginäre Welt eines Romans eingebracht wird, ist nicht das Gleiche wie das Kalkül, dessen es außerhalb des Romans bedürfte. Ebendeshalb hört man häufig den Satz: „Wenn das in einem Roman stünde, würde es niemand glauben.“

Auf den Seiten eines Romans kann ein Ereignis, das im realen Leben eher unwahrscheinlich ist – beispielsweise die unerwartete Begegnung mit einem Spielkameraden aus der Kindheit, den man vor langer Zeit aus den Augen verloren hat –, ganz enorm unwahrscheinlich wirken. Es verlangt dem Autor eine Menge ab, es dennoch überzeugend darzustellen. Und wenn das schon auf einen kleinen glücklichen Zufall zutrifft, um wie vieles mehr muss ein Schriftsteller sich dann erst anstrengen, um eine Szene auszuarbeiten, die im realen Leben in höchsten Maßen unwahrscheinlich ist. Wie zum Beispiel eine Figur in genau dem Moment eine Straße entlanglaufen zu lassen, in dem sie von einem nie dagewesenen Wetterphänomen überfallen wird.

Der Supersturm Hurrikan Sandy, der 2012 New York traf, war ein solch höchst unwahrscheinliches Phänomen. Vermutlich wurde nie zuvor so häufig das Wort beispiellos zur Beschreibung eines Wetterereignisses verwendet. Der Physiker und Mathematiker Adam Sobel, dessen Schwerpunkt atmosphärische und klimatische Dynamiken sind, beschreibt in seiner vorzüglichen Studie über diesen Hurrikan, wie beispiellos dessen Bahn über der Ostküste der Vereinigten Staaten war.

Niemals zuvor hatte ein Hurrikan mitten über dem Atlantik so scharf nach Westen abgedreht. Nach diesem Richtungswechsel verschmolz er mit einem Wintersturm zu einem „Mammuthybriden“ von einem Ausmaß, das ebenso einmalig in den regionalen Wetteraufzeichnungen war wie die Sturmflut nie da gewesener Höhe, die dabei entfesselt wurde. Tatsächlich war Hurrikan Sandy ein so unwahrscheinliches Ereignis, dass er alle statistischen Wettervorhersagemodelle widerlegte.

Nur mit dynamischen, auf den Gesetzen der Physik beruhenden Modellen war man in der Lage gewesen, seine Bahn und seine Aufschläge exakt vorauszusagen.

Niemals zuvor hatte ein Hurrikan mitten über dem Atlantik so scharf nach Westen abgedreht. Nach diesem Richtungswechsel verschmolz er mit einem Wintersturm.

Doch die Risikoberechnungen, auf die Funktionäre ihre Notfallentscheidungen stützen, beruhen im Wesentlichen auf Wahrscheinlichkeitsmodellen. Und im Fall von Sandy war es, wie Sobel erläutert, ganz maßgeblich die Unwahrscheinlichkeit des Phänomens gewesen, die die Behörden dazu verleitet hatte, die Gefahr zu unterschätzen und ihre Notfallmaßnahmen viel zu spät einzuleiten. Wie schon viele andere Denker vor ihm ist auch Sobel überzeugt, der Mensch sei von seinem Wesen her unfähig, sich auf seltene Ereignisse vorzubereiten. Aber war das wirklich in der ganzen Menschheitsgeschichte der Fall? Ist es nicht eher eine Folge der unbewussten Denkmuster des „gesunden Menschenverstands“, die mit dem wachsenden Zutrauen in „die Gesetzmäßigkeit des bürgerlichen Lebens“ aufkeimten?

Ich vermute einmal, dass der Mensch im Grunde seines Herzens immer ein Katastrophist gewesen war, bis sein instinktives Wissen um die Unberechenbarkeit der Erde schließlich peu à peu durch einen uniformitaristischen Glauben ersetzt wurde – durch den Glauben an ein Ideensystem, das sich auf naturwissenschaftliche Theorien wie zum Beispiel die des britischen Geologen Charles Lyell stützte und durch eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen auf der Basis von Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen gefördert wurde.

Sie gehorchten ihrem Instinkt

Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass viele Einwohner der italienischen Stadt L’Aquila beim ersten Zittern der Erde kurz vor dem großen Beben 2009 ihrem Instinkt gehorcht hatten und, wie es Menschen in erdbebengefährdeten Gebieten seit eh und je tun, sofort ins Freie eilten. Nur weil die Behörden eine Panik verhindern wollten und intervenierten, kehrten sie in ihre Häuser zurück, mit der Folge, dass viele von ihnen in der Falle saßen, als das große Erdbeben schließlich einsetzte.

Kein solcher Instinkt wirkte auf die New Yorker ein, als Sandy ihre Stadt erreichte. Wie Sobel feststellt, ging praktisch jeder davon aus, dass die Möglichkeit, „in einem Hurrikan zu sterben […], höchstens irgendwo weit weg bestünde“ (er hätte auch schreiben können: in „dithyrambischen Gefilden“).

In unserer Ära der globalen Erwärmung gibt es nichts Abwegiges mehr. Es gibt keinen Ort, in dem noch unangefochten das erwartete geordnete bürgerliche Leben herrscht.

Auch als 2004 Hurrikan Catarina an der brasilianischen Küste aufschlug, versäumten es viele Menschen, sich in Sicherheit zu bringen, weil „sie sich zu glauben weigerten, dass ein Hurrikan in Brasilien möglich sei“. Doch in unserer Ära der globalen Erwärmung gibt es nichts Abwegiges mehr. Es gibt keinen Ort, in dem noch unangefochten das erwartete geordnete bürgerliche Leben herrscht.

Es ist, als habe sich unser Planet zum Literaturkritiker gewandelt und mache sich über Flaubert, Bankim und ihresgleichen lustig, als spotte er ihrem Gespött über die „wundersame Ereignisse“, die so oft in Romanzen und Epen geschehen. Das also ist eine der vielen Möglichkeiten des heutigen Klimawandels, der Erzählliteratur und dem herrschenden gesunden Menschenverstand zu trotzen. Wir empfinden die Wetterereignisse unserer Ära in so hohem Maße als unwahrscheinlich, dass wir sie schlicht nicht problemlos in die vorsätzlich prosaische Welt ernster Erzählliteratur einbauen können.

 

Literatur

*1 Siehe darkmountain.net; sowie John H. Richardson, »When the End of Human Civilization Is Your Day Job«, in: Esquire, 7. Juli 2015.

*2 Dipesh Chakrabarty, »The Climate of History: Four Theses«, in: Critical Inquiry, 35, Winter 2009.

*3 Zu der Genealogie und dem Konzept des »Anthropozäns« (»Das menschlich [gemachte] Neue«) siehe Paul J. Crutzen, »Geology of Mankind«, in: Nature, 415, Januar 2002, S. 23; sowie Will Steffen, Jacques Grinevald, Paul Crutzen und John McNeill, »The Anthropocene: Conceptual and Historical Perspectives«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, 369, 2011, S. 842–67.

*4 Stephanie LeMenager, Living Oil: Petroleum Culture in the American Century, Oxford, 2014, S. 81, bezeichnet dies als den »Straßenvergnügenskomplex« (road-pleasure complex).

*5 Vgl. James Hansen: »Teile unserer [Küstenstädte] würden noch aus dem Wasser ragen, wären aber unbewohnbar.« Abrufbar unter: www.thedailybeast.com/articles/2015/07/20/climate-seer-james-hansen-issues-his-direst-forecast-yet.html.

*6 Der Historiker Fredrik Albritton Jonsson schreibt in seinem Aufsatz »The Origins of Cornucopianism: A Preliminary Genealogy«, in: Critical Historical Studies, Spring 2014, S. 151: »Betrachten wir die Überschreitung der planetarischen Grenzen, die notwendig ist, um das Erdsystem in einem ›holozänartigen Zustand‹ zu halten, dann gleicht unser gegenwärtiges Zeitalter, das so reich an fossilen Brennstoffen ist, sehr viel eher einem unbekümmerten Gelage als einer nachhaltigen Errungenschaft menschlicher Genialität.«

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© 2016 by Amitav Ghosh. This material was used with the permission of The University of Chicago Press. All rights reserved.
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Über den Autor
Amitav Ghosh
Author

Amitav Ghosh wurde 1956 in Kalkutta geboren und lebt heute in New York. Zu seinen mehrfach preisgekrönten Romanen und Sachbüchern gehören „Bengalisches Feuer“ oder „Die Macht der Vernunft“, „Schattenlinien“ und „In einem alten Land“. Dieser Text geht auf sein Buch „Die große Verblendung – der Klimawandel als das Undenkbare zurück, das 2017 im Karl Blessing Verlag München erschienen ist.

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