Verschwörungstheorien. Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass der Begriff in den Nachrichten fällt, und wer sich auf die Suche macht, findet schnell unzählige Bücher und Websites, die vermeintliche Komplotte aufdecken. Es stimmt: Verschwörungstheorien erleben eine Renaissance, was Verbreitung und Wirkung angeht. Diese speist sich einerseits aus dem Aufkommen des Internets und andererseits aus dem Erstarken populistischer Bewegungen.
Zwar sind Verschwörungstheorien in Europa und den USA noch lange nicht wieder so einflussreich, wie sie früher einmal waren, sie entfalten mittlerweile jedoch erneut eine mitunter hochproblematisch politische Wirkung. Der amerikanische Politikwissenschaftler und Verschwörungsexperte Michael Barkun definiert drei Charakteristika für Verschwörungstheorien. Sie nehmen an, dass nichts durch Zufall geschieht, dass nichts so ist, wie es scheint, und dass alles miteinander verbunden ist. Verschwörungstheorien behaupten also, dass es eine im Geheimen operierende Gruppe gibt, die Verschwörer.
Diese verfolgen einen systematischen Plan, um die Kontrolle über eine Institution, ein Land oder gar die ganze Welt zu übernehmen, oder haben dies bereits in der Vergangenheit getan und wollen nun ihre Macht sichern und ausbauen. Verschwörungstheorien transportieren somit ein in der Gegenwart beinahe romantisch anmutendes Welt- und Menschenbild. Sie gehen davon aus, dass Menschen ihre Absichten in kleinen Gruppen über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg – man denke an Verschwörungstheorien zu den Illuminaten – in die Tat umsetzen können. Da dies den Annahmen der modernen Sozialwissenschaften widerspricht, die Chaos, Kontingenz und strukturelle Faktoren betonen, bezeichnet Barkun Verschwörungstheorien als stigmatisiertes Wissen. Sie mögen eine beträchtliche Anhängerschaft haben, werden aber vom wissenschaftlichen Diskurs und der Allgemeinheit aufgrund ihrer falschen Grundannahmen nicht ernst genommen. Wer sie formuliert, muss damit rechnen, aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und eventuell sogar sozial geächtet zu werden.
Verschwörungstheorien wurden zunehmend stigmatisiert und wanderten aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder. In der Begrifflichkeit der Wissenssoziologie wurden sie von orthodoxem zu heterodoxem Wissen und der Begriff ,Verschwörungstheoretiker' wurde zu einem Schimpfwort.
Diese Diagnose trifft jedoch nur auf die letzten Jahrzehnte und die westliche Welt zu. Denn vom 18. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war der Glaube an Verschwörungstheorien in Europa und Nordamerika nicht nur ein Mainstream- sondern auch ein Elitenphänomen. Die wissenschaftlichen Diskussionen der Zeit machten dies unausweichlich, wie eine Reihe von Studien gezeigt hat. So förderte das mechanistische Weltbild des 18. Jahrhunderts den Verschwörungsglauben ebenso wie die Überzeugung, dass die moralische Qualität einer Handlung immer derjenigen Intention entspreche, die diese Handlung motiviert habe. Entsprechend glaubten Intellektuelle und Politiker, dass großangelegte Komplotte den Lauf der Geschichte bestimmten. Erst in den späten 1950er Jahren verloren Verschwörungstheorien diesen Status. Verschwörungstheorien wurden zunehmend stigmatisiert und wanderten aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder. In der Begrifflichkeit der Wissenssoziologie wurden sie von orthodoxem zu heterodoxem Wissen und der Begriff „Verschwörungstheoretiker“ wurde zu einem Schimpfwort.
Allerdings beschränkte sich diese Delegitimierung auf die USA und Teile Europas. In der arabischen Welt, aber auch in Osteuropa, gehören konspirationistische Ideen weiterhin zum Alltagsdiskurs. An jedem größeren arabischen Flughafen findet man in der Buchhandlung eine aktuelle Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“, des berüchtigtsten verschwörungstheoretischen Texts aller Zeiten, und in Russland hat Wladimir Putins Chefideologe Alexander Dugin die „Konspirologie“ gar zur wissenschaftlichen Disziplin erhoben. Politiker in diesen Ländern bedienen sich daher solcher Denkmuster ebenso unkritisch und selbstverständlich wie die Medien, die über sie berichten.