Aber dieser Multilateralismus war nicht für eine Welt gemacht, in der genau die Bindungen, die die Nationen in friedlicher Harmonie zusammenhalten sollen, zur „Waffe“ werden könnten. Und während wir in den letzten Jahren Fälle einer Independenz als Waffe gesehen haben, hat die Corona-Pandemie das Ausmaß offenbart, in dem Länder globale Wertschöpfungsketten zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen können, selbst wenn es um Leben und Tod geht. Vor diesem Hintergrund klingen die Appelle der führenden Politiker der Welt, die eigenen Volkswirtschaften nicht abzuschotten, die globalen Wertschöpfungsketten zu erhalten und den Multilateralismus zu stärken, schrecklich hohl, insbesondere für diejenigen, die miterlebt haben, wie Freunde und Familienangehörige direkt von der Pandemie betroffen waren. Wenn der Multilateralismus eine Chance haben soll, müssen diese Angelegenheiten direkt angesprochen werden.
Die zweite Lektion ist auch nicht neu, aber die Pandemie hat sie wieder einmal in den Vordergrund gerückt. Diese Lektion hat mit der Bedeutung von Narrativen und Innenpolitik zu tun. Ein wichtiger Grund, warum der Multilateralismus in den letzten Jahren eine so starke Gegenreaktion hervorgerufen hat, ist die Tatsache, dass einige Politiker (sowohl von der Linken als auch von der Rechten) die Enttäuschung und den Zorn derjenigen erfolgreich genutzt (und geschürt) haben, die glauben, dass die Errungenschaften der Globalisierung an ihnen vorbeigegangen sind. Ein Beispiel ist das „America First“-Narrativ des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, das bei den Präsidentschaftswahlen 2016 einen großen Teil der amerikanischen Wählerschaft angesprochen hat, weil es vorgab, ihren Schmerz ernst zu nehmen.
Gebraucht werden dringend überzeugende, datengestützte und auf Fakten basierende Narrative, die den Menschen zeigen, warum der Multilateralismus erhaltenswert ist.
Im Gegensatz dazu waren viele Narrative über die Vorteile eines regelbasierten multilateralen Systems zwar solide, aber inhaltlich im Wesentlichen technokratisch. Daher werden die Befürworter des Multilateralismus seit einigen Jahren dafür kritisiert, dass sie zu weit von den einfachen Menschen entfernt sind und nur die Interessen einer „globalen Elite“ vertreten. Heute, inmitten von Tod und Zerstörung durch die Pandemie, sind die Forderungen, den Multilateralismus zu erneuern, noch anfälliger für solche Vorwürfe. Gebraucht werden dringend überzeugende, datengestützte und auf Fakten basierende Narrative, die den Menschen zeigen, warum der Multilateralismus erhaltenswert ist. Dazu müssen wir zeigen, wie multilaterale Zusammenarbeit jedem Einzelnen in unseren Gesellschaften hilft. Dies sollte geschehen, indem man Akteure innerhalb der Staaten auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene einbindet, aber auch durch eine enge Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Staaten und auf transnationaler Ebene. Und obwohl überzeugende Narrative auch in den vergangenen Jahren nützlich gewesen wären, sind sie besonders wichtig in einer Zeit, in der Menschen in verschiedenen Teilen der Welt nicht nur um ihren Lebensunterhalt, sondern auch um ihr Leben kämpfen.