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Illustration zeigt eine Weltkarte vor türkisblauem Hintergrund mit kleinen Figuren überall auf der Welt verteilt.

Es ist die Kultur, Dummkopf!

Was ist mit Kultur gemeint, wenn auf europäischer Ebene darüber diskutiert wird? Wie können europäische Mehrheitsgesellschaften Raum für Unterschiede und Vielfalt schaffen und wie muss eine Strategie für die internationalen Kulturbeziehungen aussehen, um dazu beizutragen?

Die ständig wachsende Politikverdrossenheit in Europa und der Anstieg von rechtem Populismus in mehreren EU-Mitgliedsländern haben die politischen Systeme in Europa unter Druck gesetzt. Da es weitgehend gescheitert ist, die jüngsten Veränderungen in der politischen Landschaft von EU-Ländern mit sozioökonomischen Parametern zu erklären, richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf die Rolle der Kultur in unseren Gesellschaften. Die Diskussion dreht sich um die Angst vor politischer Regression, Zurücknahme der Rechte von Frauen und marginalisierten Gruppen sowie der Rückkehr ethnonationaler Ideologien.

Diese „kulturelle Wende“ spiegelt die Geschichte der Vernachlässigung der kulturellen Dimension in der Politik in den letzten Jahrzehnten. Die Vernachlässigung zeigt sich, wenn Prioritäten bei der Budgetierung gesetzt werden, und bei der Verteilung politischer Posten. Kultur rangiert immer noch unter AOB („any other business“). Doch die Angst, in einer globalisierten Welt abgehängt zu werden, der Eindruck, das eigene kulturelle Zuhause zu verlieren, und ein schwächeres Zugehörigkeitsgefühl können die politische Richtung eines Landes verändern. Fragen Sie die Briten oder Amerikaner. Die „kulturelle Wende“ ist etwas, auf das man sich in der Politik freuen kann, aber noch ist sie nicht Wirklichkeit geworden.

Eine kulturelle Wende

Auf der EU-Ebene sind mehrere Projekte in der Pipeline: Nach Jahren der Arbeit öffnete 2017 in Brüssel das Haus der europäischen Geschichte seine Pforten. 2018 begehen wir das Europäische Jahr des Kulturerbes, zudem wird der neu eingerichtete European Solidarity Corps (ESC) seine Arbeit aufnehmen. Präsident Juncker fordert aktuell eine neunfache Vergrößerung des Budgets für ERASMUS+ für die Zeit nach 2020 und die EUInstitutionen verpflichten sich dazu, dass die Kultur in den EU-Außenbeziehungen eine größere Rolle spielen soll. Ich schlage vor, vier zentrale Aspekte ins Zentrum der Vorstellung von Kultur auf europäischer Ebene zu stellen, die in allen Sparten der europäischen Kulturpolitik reflektiert werden müssen, sei es in den Bereichen Bildung, Medien oder Kulturprogramme, innerhalb oder außerhalb der EU.

Post-kolonial: Die europäische Kulturpolitik muss immer ihre koloniale Vergangenheit mitbedenken. Ansonsten ist sie blind für die tiefen Spuren, die der europäische Kolonialismus in europäischen Gesellschaften und in nichteuropäischen Ländern auf der ganzen Welt hinterlassen hat. Dies beginnt mit der Verantwortung zur Selbstkritik und dem Gedenken an kolonialen Terror, der auf der Basis einer Vorstellung von kultureller Überlegenheit, einer falsch verstandenen Mission von Zivilisation und wirtschaftlicher Ausbeutung in die meisten Teile der Welt getragen wurde.

Deshalb sollte die Kulturpolitik der EU innerhalb und außerhalb der EU immer eine Politik der Erinnerung einschließen und die Verantwortung für Gedenken und Respekt gegenüber den Opfern unserer Politik in der Vergangenheit. Dies ist keine unilaterale Übung, aber sie beginnt damit, „dem anderen“ eine Stimme zu geben. Das ist wesentlich für die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit der EU gegenüber ihren globalen Partnern und eine wichtige Basis für die Bemühungen der Union, Frieden und Stabilität in der Welt zu fördern.

Vielfältig: Wenn wir über europäische Kulturpolitik diskutieren, liegt die Betonung auf der Vielfalt der europäischen Kulturen, nicht auf einer einzigen homogenen europäischen Kultur. Des Weiteren sind europäische Kulturen nicht nur die Summe von 28 nationalen Kulturen und ihrer zahlreichen Regionen. Sie sind keine geschlossenen Boxen, sondern sind in engem Austausch mit und in der Unterscheidung zu anderen entstanden. Die einfache Tatsache, dass eine große Zahl unterschiedlicher Kulturen auf einem relativ kleinen Territorium leben, ist ein zentrales Merkmal unseres Kontinents. Diese Tradition kultureller Vielfalt, Interdependenz und enger Interaktion kann als ein europäischer Wert betrachtet werden.

Deshalb sollte die Kulturpolitik der EU innerhalb und außerhalb der EU immer eine Politik der Erinnerung einschließen und die Verantwortung für Gedenken und Respekt gegenüber den Opfern unserer Politik in der Vergangenheit.

Zudem befand sich der Kontinent zu allen Zeiten in engem Austausch mit anderen Regionen. Dies brachte und bringt immer noch eine signifikante Zahl von Minderheitengruppen in europäische Gesellschaften. Die europäische kulturelle Vielfalt wirft Fragen auf, mit denen sich die Kulturpolitik beschäftigen muss. Wir müssen uns fragen, wie die europäischen Mehrheitsgesellschaften Raum für Unterschiede und Vielfalt schaffen und gleichzeitig den Kontext bieten können, der ihren Bürgern ein geteiltes Gefühl der Zugehörigkeit ermöglicht. Kulturpolitik spielt eine wesentliche Rolle dabei, die kulturelle Vielfalt in Gesellschaften zu schützen, wertzuschätzen und zu bewältigen. Sie kann enorm dazu beitragen, die Bedingungen der Zugehörigkeit zu europäischen Gesellschaften insofern neu zu definieren, als dass kulturelle und religiöse Traditionen aller Art ihren Raum im Alltag finden können. Dies ist die conditio sine qua non, damit Gastgesellschaften kulturelle Vielfalt als einen zusätzlichen Wert erkennen und nicht als Bedrohung für ihre traditionellen Referenzpunkte in einer Gemeinschaft wie etwa Ehe und Familie.

Austausch auf Augenhöhe

Demokratisch: Zudem muss die Vorstellung von Kultur in der europäischen Kulturpolitik im Wesentlichen eine demokratische Vorstellung sein. Dies bedeutet, Kultur nicht als Vehikel zu nutzen, um die Vorstellung ethnischer Homogenität, Autorität oder sogar Überlegenheit umzusetzen. Kultur sollte im Gegenteil ein Raum sein, der Vielfalt und Heterogenität begrüßt und eine Plattform für den Austausch auf Augenhöhe zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Solch ein partizipatives und bewegliches Modell von Kultur ist in seiner Operationalisierung nicht unbedingt eine leichte Übung für die europäische Kulturpolitik und die Kulturinstitutionen.

Zentrale nationale Kultureinrichtungen haben sich im Laufe der Geschichte mit einer Mission der Repräsentierung und Identitätsbildung hervorgetan. Diese Institutionen zu öffnen, lineare nationale Narrative aufzubrechen, zuzulassen, dass Minderheitenkulturen vertreten sind, mit neuen Prozessen der Kreation und Kuration zu experimentieren sowie Raum zu lassen für neue Institutionen im Kulturbereich sind große Herausforderungen für einen Sektor, der in Hinsicht auf das Budget unter großem Druck steht. Dies ist umso mehr der Fall in einem Bereich, der manchmal von traditionellen Vorzeige-Institutionen dominiert wird, deren Erhalt bei strukturellen Reformen sogar noch eine stärkere Trägheit erzeugen kann.

Kultur sollte im Gegenteil ein Raum sein, der Vielfalt und Heterogenität begrüßt und eine Plattform für den Austausch auf Augenhöhe zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft.

Im europäischen Maßstab erzeugt dies auch das Problem der fehlenden Synchronisation zwischen EU-Mitgliedstaaten. Während einige Mitgliedstaaten in der komfortablen Situation sind, mehr in den Kultursektor zu investieren, leiden andere nationale Kulturszenen unter Sparmaßnahmen. Die politische Debatte über diese Herausforderungen für die europäische kulturelle Vielfalt, ihre Gleichwertigkeit in der Repräsentation innerhalb und außerhalb der EU, offline und online und im Hinblick auf die Operationalisierung der Unesco-Erklärung zur kulturellen Vielfalt im Jahr 2005 steht erst am Anfang.

Basierend auf Menschenrechten: Es muss verhindert werden, dass Menschen im Namen der Kultur ihrer fundamentalen Menschenrechte beraubt werden. Die fundamentalen Menschenrechte jedes Einzelnen müssen Ausgangspunkt aller kulturellen Freiheit sein. Um es ganz platt zu sagen: Die Verstümmelung der weiblichen Genitalien kann nicht als kulturelle Tradition betrachtet werden, die es zu schützen und erhalten gilt unter der Schirmherrschaft der kulturellen Vielfalt. Meiner Ansicht nach müssen diese zentralen Merkmale der Vorstellung von Kultur die Maßstäbe für die gesamte europäische Kulturpolitik und für alle Programme sein.

Die Veränderung der Gestaltung und Methode in den auswärtigen Kulturbeziehungen der EU ist keine radikale Revolution, sondern ein Übergangsprozess, der seit ungefähr zehn Jahren im Gange ist. Die Institutionen der EU haben sich im Zusammenhang mit der europäischen Agenda für Kultur 2007 klar zur Bedeutung des kulturellen Aspekts in der Außen- und Entwicklungspolitik bekannt. 2011 folgte das Europäische Parlament mit einer eigenen Resolution zur kulturellen Dimension der EU-Außenbeziehungen, die erste Vorschläge auflistet für einen gemeinsamen strategischen Rahmen in der auswärtigen Kulturstrategie.

Zwei Jahre später wurde auf Initiative der Grünen im Europäischen Parlament die vorbereitende Maßnahme „Kultur in den auswärtigen Beziehungen der EU“ gestartet, um bestehende Programme und Vorgehensweisen aufzuzeichnen und somit eine Grundlage zu einer umfassenden EU-Strategie für die internationalen Kulturbeziehungen zu schaffen. Seitdem haben sich die drei zentralen EU-Institutionen alle positioniert und ihre Visionen für die Strategie der EU in den auswärtigen Kulturbeziehungen beschrieben.

Die Mitteilung der Europäischen Kommission und des Europäischen Auswärtigen Diensts „Auf dem Weg zu einer EU-Strategie für internationale Kulturbeziehungen“ vom Juni 2016 ist die bei Weitem klarste und detaillierteste Vision. Das Parlament reagierte auf die Vorschläge in einem eigenen Bericht und der Rat zog in der Angelegenheit verschiedene Schlussfolgerungen. Zusammen legen die Dokumente eine bemerkenswerte Verschiebung in der auswärtigen Kulturpolitik der EU fest: Die EU stellt Bottom-up-Ansätze, die eine stärkere Beteiligung von Künstlern, Kulturorganisationen und der Zivilgesellschaft ermöglichen, ins Zentrum einer zukünftigen EU-Strategie. Eine solche Veränderung stellt eine grundsätzliche Verlagerung in der Kulturpolitik der EU und der Mitgliedstaaten dar – weg von Konzepten der Kulturdiplomatie, bei denen die kulturelle Dimension in den Außenbeziehungen als Schaufenster für die kulturellen Produktionen der EU dient. Stattdessen ist nun die Idee, die Kontakte zwischen Menschen zu stärken, was eine aktivere Beteiligung der Zivilgesellschaft und der kulturellen Akteure ermöglicht. Dies kann Kulturprojekte in ihrer Methode demokratischer machen und im Inhalt vielfältiger.

Innovation und starke Brücken

Eines der Elemente dieser Achse wird die Stärkung der bestehenden Kulturprogramme der EU sein. Schon heute sind Creative Europe und Erasmus+ ein fruchtbarer Boden für das interkulturelle Verstehen, für Innovation und starke Brücken zwischen europäischen Gesellschaften. Diese Erfahrung sollte ausgeweitet werden auf Drittländer durch eine stärkere externe Dimension. Die Basis für eine EU-Strategie in den internationalen Kulturbeziehungen ist im Prozess des letzten Jahrzehnts gelegt worden. Nun ist die Zeit gekommen für die Operationalisierung dieser Übung. Zu diesem Zweck hat der Rat die Gruppe Friends of the Presidency gebildet, die das Ziel verfolgt, „eine integrierte, umfassende und schrittweise Herangehensweise in der EU-Strategie für internationale Kulturbeziehungen, die Synergien zwischen allen relevanten politischen Bereichen findet.“

Die Idee [ist], die Kontakte zwischen Menschen zu stärken, was eine aktivere Beteiligung der Zivilgesellschaft und der kulturellen Akteure ermöglicht. Dies kann Kulturprojekte in ihrer Methode demokratischer machen und im Inhalt vielfältiger.

Dies ist gut, denn es ist wichtig, den günstigen Moment zu nutzen, der sich mit der gemeinsamen Mitteilung der Kommission und des EAD ergeben hat, statt die Papiere im institutionellen Bermuda-Dreieck der EU untergehen zu lassen. Darüber hinaus kommt diese Debatte zur rechten Zeit im Hinblick auf die Aushandlung des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) der EU nach 2020 und die Strukturreformen zu den Einnahmen und Aufwendungen der EU, die Kommissar Oettinger im Mai 2018 vorstellen möchte.

Gleichzeitig erscheint die Struktur der Gruppe Friends of the Presidency als Ausdruck eines strukturellen Konservatismus und einer Bewahrung der wohlerworbenen Rechte der EU-Mitgliedstaaten. Die Arbeitsgruppe operiert momentan im Hintergrund ohne jegliche Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit, was Inhalt und Arbeitsplan betrifft. Zudem fehlt ihr die Beteiligung von Vertretern des Europäischen Parlaments und der Zivilgesellschaft.

Ich bin überzeugt, dass solche Ergänzungen der aktuellen Struktur der Friends of the Presidency einen großen Mehrwert für den Prozess haben können. Dies würde besser zum progressiven Charakter des Reformvorhabens passen, das darauf abzielt, eine internationale Kulturstrategie zu entwickeln mit einem stärker partizipativen Bottom-up-Ansatz im Zentrum und das eine europäische Vorstellung von Kultur mit sich bringt, im Sinne einer demokratischen, post-kolonialen und vielfältigen Kultur.

Wir haben die starke Hoffnung, dass die Gruppe Friends of the Presidency und der weitere Prozess Antworten auf zentrale Fragen geben kann: Wie kann eine Strategie für internationale Kulturbeziehungen effektiv in bestehende Programme integriert und in konkrete Aktionen umgesetzt werden? Wie können wir eine wirksame Koordination, Zusammenarbeit und Mitgestaltung unter Interessenvertretern in der EU und in Partnerländern sicherstellen? Wie können wir solche Aktivitäten mit einer nachhaltigen Finanzierung ausstatten?

Bestehende Strukturen einbinden: Das thematische Spektrum für auswärtige kulturelle Aktivitäten ist breit. Dies spiegelt sich gut in den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung, bei denen Kultur kein einzelnes Ziel darstellt, sondern vielmehr konzipiert ist als horizontale Dimension, die soziale Inklusion, wirtschaftliche Entwicklung und Innovation, Demokratie, Bildung, Konfliktprävention und Versöhnung ermöglichen kann. In den Außenbeziehungen der EU ist diese große Bandbreite an Themen durch eine große Zahl meist unabhängiger Programme abgedeckt und seit Kurzem auch durch Treuhandfonds wie das Europäische Nachbarschaftsinstrument, das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte, der Europäische Entwicklungsfonds, das Instrument für Stabilität und Frieden, der Europäische Fonds für nachhaltige Entwicklung und so weiter. Zudem beinhalten alle internen EU-Programme für Kultur, Bildung, Jugend und Forschung eine externe Dimension, die Möglichkeiten für die Beteiligung von Drittländern eröffnet.

Lose Fäden verbinden

Um eine größere Effektivität zu erreichen und die Sichtbarkeit zu erhöhen, sollte die neue Strategie darauf abzielen, die aktuelle Fragmentierung in den Strukturen für die Umsetzung zu überwinden. Das Zusammenbringen der verschiedenen Generaldirektionen mit den verantwortlichen Akteuren im Europäischen Auswärtigen Dienst in einer Arbeitsgruppe ist auf politischer Ebene nützlich. Die Plattform für Kulturdiplomatie ist ein erster Schritt, um lose Fäden zu verbinden und ein Austauschforum anzubieten für die umsetzenden Organisationen und Unterstützungsempfänger. Eine bessere Zusammenführung von Informationen wäre wünschenswert, um potenziellen Unterstützungsempfängern einen einfachen Zugang zu den zahlreichen kulturellen Aktivitäten unter den verschiedenen Programmtiteln zu ermöglichen. Dies sollte zusammengehen mit klar festgelegten Etatposten für kulturelle Aktivitäten in den entsprechenden Programmen.

Nachhaltige Finanzierung: Die Fragmentierung in der Programmierung der aktuellen internationalen Kulturbeziehungen der EU geht einher mit einer Fragmentierung der Finanzierung kultureller Aktivitäten außerhalb der EU. Obwohl es unrealistisch ist, dass ein übergeordnetes Programm für die auswärtigen Kulturbeziehungen im nächsten MFR geschaffen wird, ist es für den Erfolg einer neuen EUStrategie für internationale Kulturbeziehungen entscheidend, dass sie in den relevanten bereits bestehenden oder neuen Etatposten explizit erwähnt wird. Dies wird dabei helfen, eine bestimmte Anzahl an Investitionen zu garantieren, eine langfristige Planung von Aktivitäten ermöglichen und die Sichtbarkeit in den Budget-Verhandlungen sichern.

Eine ausreichende Budgetierung ist nicht nur für den Nutzen der Projekte wichtig, die im Kontext der externen Kulturstrategie verwirklicht werden sollen, sondern auch, um Erwartungen von Unterstützungsempfängern und Partnerländern zu erfüllen. Zudem haben wir es mit unterschiedlichen nationalen Budgetierungen in der EU zu tun. Die Ausgaben für die auswärtigen Kulturbeziehungen und nationalen Kulturbeziehungen können dazu dienen, eine ausgewogenere Repräsentation der kulturellen Vielfalt unseres Kontinents zu sichern sowie eine stärkere Beteiligung vielfältiger kultureller Akteure und der Zivilgesellschaft in internationalen Kulturprojekten. Zu guter Letzt hat die Reflexion über eine EU-Strategie für internationale Kulturbeziehungen innovative Ideen hervorgebracht.

Ein Kulturvisa-Programm analog zu dem bereits bestehenden Wissenschaftsvisa-Programm könnte ins Auge gefasst werden, um Hindernisse für die Mobilität im Kultursektor zu beseitigen. Dies würde zur erklärten Ambition passen, die Kontakte zwischen Menschen zu stärken. Das Europäische Parlament beschloss 2017 die neue vorbereitende Maßnahme, ab 2018 das Konzept der Europäischen Häuser der Kultur zu testen, insbesondere in Kontexten, in denen ein Mehrwert durch die EU erwartet wird. Es lohnt sich für die EU, solche Initiativen mit neuer Finanzierung zu verbinden.

Flexible Zusammenarbeit unter den Akteuren: Im Hinblick auf die Umsetzung vor Ort läuft eine kontroverse Debatte zur Beteiligung der EU durch kulturelle Fixpunkte oder Attachés für Kulturpolitik in den EU-Delegationen. Ein erster Attaché ist bereits in Peking im Einsatz. Während solche Institutionen stark zu einer besseren Koordinierung der Aktivitäten von EU- und Mitgliedsstaaten in Partnerländern beitragen können und die intensive Beteiligung von Kulturakteuren und Akteuren der Zivilgesellschaft ermöglichen, könnte die gleiche Funktion effektiv delegiert werden an bereits existierende Strukturen, etwa ein nationales Kulturinstitut als leitende Organisation und als Teil eines EUNIC-Clusters. Solche Überlegungen und der Bedarf nach einer Beteiligung der EU werden in jedem Partnerland und in jeder Partnerregion anders sein.

Ein Kulturvisa-Programm analog zu dem bereits bestehenden Wissenschaftsvisa-Programm könnte ins Auge gefasst werden, um Hindernisse für die Mobilität im Kultursektor zu beseitigen.

Dies hängt womöglich ab von den historischen Beziehungen mit dem Land, der Intensität der Zusammenarbeit, den bestehenden Strukturen und dem Ziel der individuellen Programme oder Projekte. Die Kulturpolitik der EU ist gut beraten, sich eine solche Flexibilität in der Struktur für die Umsetzung zu gestatten. Meine Vision für die internationalen Kulturbeziehungen der EU kurz zusammengefasst:

(a) gestaltet auf der Grundlage eines demokratischen, post-kolonialen und auf Menschenrechten basierendem Verständnis von Kultur,

(b) offen in der Methode der Umsetzung, um verschiedene Ausgangspunkte für die Kulturbeziehungen zwischen der gesamten EU und ihren internationalen Partnern zu reflektieren und darüber hinaus für die gemeinsame Gestaltung von Programmen Raum zu geben,

(c) immer in der Rolle der Koordination, gegenseitigen Stimulation und Komplementarität, um die speziellen Kompetenzen zwischen der EU-Ebene und ihren Mitgliedstaaten zu achten.

Diese Prinzipien ernst zu nehmen, würde bereits einen Paradigmenwechsel für die auswärtige Kulturpolitik der EU bedeuten.

Über die Autor:innen
Helga Trüpel
Politikerin

Helga Trüpel ist eine deutsche Politikerin (Bündis90/die Grünen). Seit 2004 ist sie Mitglied des Europäischen Parlaments für die Grünen und war bis 2019 stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung. Vorher war Helga Trüpel Senatorin für Kultur und Integration des Stadtstaats Bremen. Im Jahr 1988 promovierte sie im Fach Literaturwissenschaften.

Jochen Eisenburger
Beauftragter gegen Antiziganismus

Jochen Eisenburger ist Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland. Zwischen 2016 und 2023 war er Berater der Grünen-Abgeordneten Romeo Franz und Helga Trüpel im EU-Parlament. Er hat einen Abschluss in Europastudien der Universität Bath, der Humboldt Universität Berlin und Sciences Po Paris.

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.