Werkzeuge für die Wieder­herstellung des sozialen Gefüges

Kultur ist der Beginn und die Zukunft des europäischen Projekts: Sie könnte eine Schlüsselrolle dabei spielen, die freie Bewegungsmöglichkeit von Menschen zu erweitern, um Vertrauen und gegenseitiges Verständnis aufzubauen.

Am 25. März 2017 feierten wir den 60. Jahrestag der Römischen Verträge, die den Grundstein legten für die heutige Europäische Union. Die nach dem Gipfel veröffentlichte Erklärung von Rom erwähnte deutlich das kulturelle Erbe und die kulturelle Vielfalt als zwei erhaltenswerte Elemente der Bemühungen um ein gemeinsames Europa, das auf sozialem Zusammenhalt und Konvergenz basiert. Sozialer Zusammenhalt – oder nennen wir es „Solidarität“ – ist seit den frühen Tagen ein Herzstück des europäischen Projekts: Jean Monnet, einer seiner Architekten, bemerkte bekanntlich, das Ziel der europäischen Integration sei es, Menschen zu verbinden, nicht Koalitionen von Staaten zu schaffen und die Absicht war, dies „durch konkrete Errungenschaften, die zuerst eine de-facto-Solidarität hervorbringen“ zu tun, wie es in der Schuman Erklärung vom 9. Mai 1950 heißt.

60 Jahre später gibt es viele konkrete Errungenschaften: die freie Bewegung der Menschen, europäische Bürgerschaft, Verbraucherschutz, regionale und landwirtschaftliche Entwicklung, das Erasmus-Programm und – vor allem – Frieden auf unserem Kontinent (um nur einige Aspekte zu nennen). Diese Erfolge lieferten sicherlich starke Argumente für ein vereintes Europa. Doch die Schwierigkeiten, die Wirtschafts- und Migrationskrisen zu meistern und in jüngerer Zeit den Brexit, haben das Bild zum Teil getrübt.

Die durch „konkrete Errungenschaften“ geschaffene „de-facto-Solidarität” seit den 1950er Jahren ist noch nicht ausreichend in den Köpfen der Menschen verankert, um die heutigen Herausforderungen zu bewältigen. Mehr Anstrengungen sind nötig, um zwischenmenschliche Solidarität zu schaffen. Ein Erfolgsbeispiel hierfür ist Erasmus, das erfolgreichste europäische Programm. In diesem Jahr war der 30. Jahrestag des Erasmus-Programms, das insgesamt neun Millionen Erasmus-Studenten erreicht hat seit dem Start im Jahr 1987 (wozu wir ungefähr eine Million Erasmus-Babys dazuzählen sollten).

Leider sind selbst diese vielversprechenden Zahlen noch nicht hoch genug, um die unter Studenten geschaffene Solidarität auf den Rest der europäischen Gesellschaft auszudehnen. Die Frage ist: Wie ermöglicht man Solidarität und gegenseitiges Verstehen auch unter Bürgern, die nicht direkt an europäischen Programmen oder verwandten Initiativen teilnehmen?

Kultur und interkultureller Dialog könnten eine Schlüsselrolle dabei spielen, die freie Bewegungsmöglichkeit von Menschen zu erweitern, um Vertrauen und gegenseitiges Verständnis unter größeren Teilen unserer Gesellschaft aufzubauen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, denn ohne Empathie gibt es keine Solidarität und ohne gegenseitiges Verstehen keine Empathie.

Eine Million Erasmus-Babys

Bedenkt man, dass die Europäische Union auf Vielfalt gegründet wurde, und angesichts der Tatsache, dass die Wahrnehmung von Vielfalt tendenziell Solidarität verringert, müssen wir vorausschauend dafür arbeiten, die Solidarität auf europäischer Ebene zu stärken, um unsere gemeinsamen Errungenschaften zu schützen und weiter vorangehen zu können.

Wie in der Globalen Strategie der EU ausgeführt, war die Welt niemals zuvor so vernetzt, so komplex und so umkämpft. Als Individuen waren wir nie zuvor so verbunden mit ähnlich denkenden Individuen weltweit, oftmals mehr als mit unseren eigenen Nachbarn: Die sozialen Medien setzen uns in bequeme „Silos“ ähnlich denkender Individuen, in denen wir immer mehr dem ausgesetzt werden, was wir wahrscheinlich mögen. So haben wir weniger Möglichkeiten, ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Vision zu entwickeln, wie es in einem öffentlichen Raum geschehen würde. Gleichzeitig verblassen die Grenzen zwischen dem Externen und dem Internen, wie globale Herausforderungen, etwa Migration oder Klimawandel, gezeigt haben.

Bedenkt man, dass die Europäische Union auf Vielfalt gegründet wurde, und [...] die Wahrnehmung von Vielfalt tendenziell Solidarität verringert, müssen wir vorausschauend dafür arbeiten, die Solidarität auf europäischer Ebene zu stärken, um unsere gemeinsamen Errungenschaften zu schützen.

Neue Narrative werden zunehmend aufgebauscht durch Fake News und Propaganda oder alternative Fakten werden zur Norm, um die Widerstandskraft unserer Gesellschaften zu schwächen, universale Prinzipien, nach denen unsere Demokratien funktionieren, infrage zu stellen und die Spaltungen in unseren Gesellschaften hervorzuheben. Auch die globale Bühne verändert sich rasant, indem sich Weltmächte wie die USA allmählich aus multilateralen Foren zurückziehen, die es ermöglichten, globale Themen (z.B. die UNKlimakonferenz COP21, Unesco) anzugehen. Neue aufstrebende Mächte übernehmen sowohl wirtschaftlich als auch politisch die Führung.

In einer Zeit, in der ein diffuses Gefühl der Orientierungslosigkeit herrscht, ist die Versuchung stark, uns abzuschotten und beruhigende Narrative zu finden. In der Abwesenheit positiver Narrative (oder Möglichkeiten), wie es einmal der „amerikanische Traum“ gewesen ist, kann unsere Suche nach Identität leicht in die Falle einer idealisierten Vergangenheit geraten, hin zur Ablehnung des Ausländischen und dahin, über Identität oder Glauben politische Handlungen zu legitimieren. Forderungen danach, „die Kontrolle zurückzuerlangen“, Rufe nach einer „nationalen Bevorzugung“ oder die Vorstellung, durch Isolierung und Protektionismus „ein Land wieder groß zu machen“ gibt es weltweit immer häufiger. Ist ein solcher Rückzug in uns selbst eine brauchbare Lösung? Sicher nicht.

Herausforderungen sind zunehmend global und miteinander verbunden und können nicht von einzelnen Ländern bewältigt werden – weil sie zu groß sind (z.B. Klimawandel, Migration), aber auch deshalb, weil die Globalisierung die Fähigkeit, diese zu bewältigen (z.B. Körperschaftssteuer, Sicherheit) geschwächt hat. Der Bedarf nach globalen Lösungen kann kaum mit der aktuellen identitären Abschottung in Einklang gebracht werden. Diese fördert die Entstehung kohäsiver Gruppen von Individuen, die sich ihrer Unterschiede gegenüber anderen Gruppen bewusst sind, aber nicht ihrer Gemeinsamkeiten.

Der Schlüssel ist Empathie

Dieser fehlende gemeinsame Nenner und die Entwicklung „exklusiver Identitäten“ sind die größten Hindernisse für das gegenseitige Verstehen. Sie verhindern die Entstehung von Empathie über unterschiedliche Gruppen in unseren Gesellschaften hinweg und erlauben uns nicht, das volle Potenzial auszuschöpfen, das sehr vielfältige (und zusammenhaltende) Gesellschaften entwickeln können. Hier kollidieren die aktuellen nationalistischen Tendenzen am stärksten mit dem Notwendigen. Das heißt: Regierungsstrukturen auf lokalen, regionalen und globalen Ebenen, die von den Menschen als legitim akzeptiert werden.

Empathie ist der Schlüssel für die Legitimierung einer Regierungsführung, die nicht durch andere legale, nationale oder wirtschaftliche Verbindungen legitimiert ist, und sie ist umso notwendiger, je vielfältiger eine Gesellschaft ist. In unseren Gesellschaften müssen wir uns immer mehr der Tatsache bewusst werden, dass es für uns weder Frieden noch Wohlstand geben kann, wenn unsere Nachbarn nicht in Frieden leben und auch nicht die Nachbarn unserer Nachbarn.

In diesem Zusammenhang ist die Rolle von Kultur im erweiterten Sinne, unter anderem der interkulturelle Dialog, das kulturelle Erbe und Kontakte zwischen Menschen – zusätzlich zu den traditionellen schönen Künsten – der Schlüssel dafür, Empathie in unseren europäischen Gesellschaften zu entwickeln, aber auch zwischen ihnen und dem Rest der Welt.

Empathie ist der Schlüssel für die Legitimierung einer Regierungsführung, die nicht durch andere legale, nationale oder wirtschaftliche Verbindungen legitimiert ist, und sie ist umso notwendiger, je vielfältiger eine Gesellschaft ist.

Wie die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, auf dem Europäischen Kulturforum 2016 bemerkt hat: „Europa inspirierte die Welt, weil es selbst von der Welt inspiriert war.“ Eine solche Offenheit hat Europa erfolgreich gemacht und sorgte für komplexere Gesellschaften, die Spiegel der Welt geworden sind, mit ihren Möglichkeiten und Herausforderungen.

In einer Gesellschaft zusammenzuleben, ist nicht einfach und erfordert eine ständige Investition. Wie auf einem Acker muss regelmäßig guter Samen gesät werden, wenn wir eine gute Ernte wollen. Um von Vielfalt zu profitieren und sich davor zu schützen, in die Populisten-Falle vom Zusammenprall der Kulturen zu geraten, müssen wir uns mit den Werkzeugen ausstatten, um diese Komplexität zu verstehen. Die Kultur kann wie ein Impfstoff wirken gegen Vereinfachungen, Rassismus und Populismus.

Die gemeinsame Mitteilung der Europäischen Kommission und des Europäischen Auswärtigen Dienstes „Auf dem Weg zu einer EU-Strategie für internationale Kulturbeziehungen“ versucht dies durch das Angebot eines kohärenten Aktionsrahmens, der auf drei Strängen basiert:

Kultur unterstützen als Motor für nachhaltige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung; Kultur und interkulturellen Dialog fördern für friedliche Beziehungen zwischen Gemeinschaften, wie es im Kosovo geschah, sowie zwischen armenischen und türkischen Communitys und schließlich die Förderung der Kooperation beim Thema Kulturerbe. Unser gemeinsames kulturelles Erbe kann tatsächlich unsere Widerstandskraft gegenüber destruktiven Narrativen stärken, weshalb der „Islamische Staat” es in Syrien wohl so vehement angegriffen hat.

Auch vor diesem Hintergrund wurde 2018 zum Europäischen Jahr des Kulturerbes erklärt, mit dem Ziel, „mehr Menschen dazu zu ermutigen, Europas kulturelles Erbe zu entdecken und zu erforschen und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen europäischen Familie zu stärken“, gleichzeitig Räume für den interkulturellen Dialog zu schaffen und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des kulturellen Erbes mit Bürgern in Drittländern auf Augenhöhe zu fördern.

Anthropologisches Verständnis

So entsteht innerhalb des erweiterten Felds der Kulturbeziehungen ein erweitertes Verständnis von Kulturdiplomatie. Zudem ergibt sich eine Konzentration auf die Stärkung lokaler Akteure und die Schaffung von Räumen für den interkulturellen Dialog, um Vertrauen und gegenseitiges Verständnis aufzubauen.

Da eine solche Kultur nicht mehr exklusiv als das Zusammenspiel der Künste und der kreativen Sektoren betrachtet wird und ein anthropologischeres Verständnis von Kultur am besten dafür geeignet ist, uns die Werkzeuge in die Hand zu geben, das soziale Gefüge unserer Gesellschaften wie auch einen Sinn für Empathie als Weltbürger neu aufzubauen: ein Gefühl der Zugehörigkeit, das immer wichtiger wird, um die notwendige Unterstützung zu bekommen, globale Herausforderungen zu meistern, die oft verschiedene Teile der Weltbevölkerung in unterschiedlichem Maß betreffen (wie im Fall des Klimawandels). Interkultureller Dialog kann eine Synthese zwischen globaler Vision und lokalem Kontext ermöglichen sowie künftige Kooperationen über politische Bereiche hinweg und zudem angesichts der durch identitäre Abschottung erzeugten Risiken die Widerstandskraft unserer Gesellschaften stärken.

In einer Gesellschaft zusammenzuleben, ist nicht einfach und erfordert eine ständige Investition. Wie auf einem Acker muss regelmäßig guter Samen gesät werden, wenn wir eine gute Ernte wollen.

Europa als Land der Auswanderung und Einwanderung könnte die nützliche Rolle eines Drehkreuzes spielen, das Diaspora aus der ganzen Welt miteinander verbindet. Städte in Europa und im Rest der Welt könnten das Globale und das Lokale verbinden. Städte sind Knotenpunkte, an denen Menschen sich treffen, etwas schaffen, erfinden und zunehmend miteinander verbundene globale und lokale Herausforderungen angehen, von Klimawandel und Sicherheit bis hin zu Gesundheit, Migration und wirtschaftlichem Wachstum. Städte sind Orte, an denen Menschen Seite an Seite glücklich leben wollen. Orte, an denen sie öffentliche Räume teilen und wo inklusive Identitäten gedeihen können auf dem Reichtum des kulturellen Erbes und der Traditionen, wenn entsprechende Anstrengungen dafür unternommen werden. Städte sind im Laufe der Geschichte auch Laboratorien gewesen für Demokratie und politische Evolution.

In einer Zeit, in der die Spannung zwischen Globalisierung und Regionalismus/Lokalismus immer offensichtlicher ist, könnten sie in den auswärtigen Angelegenheiten wieder eine prominentere Rolle spielen. Letzten Endes zählen Städte zu den widerstandsfähigsten politischen Einheiten, die je erfunden wurden. Und sie liegen, was am wichtigsten ist, den Menschen am nächsten.

Über den Autor
Pietro de Matteis
Attaché für öffentliche Diplomatie und Programmmanager

Pietro de Matteis hat einen Doktor in International Studies von der University of Cambridge. Er ist Attaché für öffentliche Diplomatie bei der EU-Delegation in Kanada und Programmmanager für EU-finanzierte Initiativen bei den Vereinten Nationen in New York. Er ist auch ehrenamtlicher Vizepräsident und Mitbegründer der Bürgerbewegung „Stand Up for Europe”.

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.