Illustration: Sprinter an der Startlinie werden mit Geldsäcken angelockt.

Gold fürs Vaterland – Prestige im Ausland?

Viele olympische Sportarten können – mangels kommerzieller Nachfrage – nur dank staatlicher Förderung betrieben werden. Doch was bringen Medaillen und Siege für Nationen? Zieht erfolgreicher olympischer Sport positive Auswirkungen für die Außendarstellung nach sich? Und: Fördert der Spitzensport den Breitensport?

Bekanntlich war es vor allem die DDR, die im Bemühen um internationale Anerkennung und den Nachweis der Überlegenheit gegenüber dem Westen ein staatliches Sportsystem entwickelte, das für den olympischen Sport in vielerlei Hinsicht prägend und richtungsweisend war. Dazu gehörten nicht nur die durchdachten und strikt organisierten Dopingpraktiken, sondern auch die legalen Maßnahmen, vom frühzeitigen Sichten und leistungssportlichen Trainieren von Kindern und Jugendlichen bis hin zur Konzentration der Förderung auf die medaillenträchtigsten Sportarten. Viele dieser Strategien sind heute, lange nach dem Ende der DDR und des Kalten Krieges, international verbreitet – und zwar nicht nur in China oder Nordkorea, sondern auch in vielen „westlichen“ Nationen.

Zum Beispiel gilt das nach langer Medaillenflaute olympisch wiedererstarkte Großbritannien mittlerweile vielen als vorbildlich – mit einer Strategie des „No Compromise“, die unter anderem bei Siegchancen eine deutliche Steigerung der finanziellen Förderung einer Sportart, aber auch das vollständige Streichen von Zuwendungen bei Misserfolgen beinhaltet. In Deutschland stehen laut dem zuständigen Bundesinnenminister nach den Spielen in Rio tiefgreifende Reformen an. Eine (noch) stärkere Ausrichtung auf medaillenträchtige Disziplinen gilt auch hier als wahrscheinlich.

Lassen wir etwaige moralische Erwägungen zunächst beiseite und fragen erst einmal nur nach der Effektivität dieser sportpolitischen Strategie: Hat erfolgreicher olympischer Sport positive Auswirkungen für die Außendarstellung? Zunächst muss die Antwort klar lauten: Es kommt darauf an. Wintersportarten zum Beispiel haben naturgemäß einen deutlich kleineren Kreis an teilnehmenden und die Wettbewerbe rezipierenden Nationen. Doch auch bei Olympischen Sommerspielen werden die diversen Disziplinen mit unterschiedlichem Interesse verfolgt. Global gesehen ist der 100-Meter-Sprint (insbesondere der Herren) deutlich prestigeträchtiger als etwa die Boxwettkämpfe im Halbweltergewicht.

Das nach langer Medaillenflaute olympisch wiedererstarkte Großbritannien gilt mittlerweile vielen als vorbildlich – mit einer Strategie des ,No Compromise‘ [...].

Dagegen könnte man etwa fragen, ob der in der Medaillenbilanz noch erfolgreichere deutsche Kanurennsport ähnlich stark die internationale Wahrnehmung prägt, zumal sich das Interesse hieran vorrangig auf einige osteuropäische Staaten und breit aufgestellte Sportnationen (aber zum Beispiel nicht die USA) konzentriert. Kurzum: Von wenigen global rezipierten Wettbewerben abgesehen ist das internationale Publikum sportartspezifisch zusammengesetzt und jeweils unterschiedlich groß – damit sind natürlich auch die durch sportliche Erfolge möglichen Aufmerksamkeits- und Imagegewinne unterschiedlich.

Für solche Feinheiten interessiert sich die Sportpolitik des Bundes in Deutschland in der Regel nicht, da sie nicht einzelne Sportarten fördert, sondern die Verteilung der Mittel im Detail dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) als Dachverband überlässt. Gemeinsam kalkuliert man dann den Erfolg anhand des gesamten Medaillenertrags, respektive der Position im sogenannten „Medaillenspiegel“. Abgesehen davon, dass dieser gar keine offizielle Wertung des IOC darstellt – in der Olympischen Charta, Regel Nr. 57, wurde jegliche Art von Nationenwertung untersagt, um internationalen Streitigkeiten und sportlichem Wettrüsten vorzubeugen – hat er als abstraktes Ranking andere, deutlich beschränktere repräsentative Qualitäten.

Unbekannte Chinesen

Wie es niederländische Kollegen ausgedrückt haben: Ein Medaillenspiegel erzählt keine Geschichten! Das tun nur einzelne Wettbewerbe und Sportler:innen beziehungsweise Mannschaften. Chinesische Sportler:innen sind weiterhin unbekannt, obwohl diese 2008 im eigenen Land doch 100 Medaillen (davon 51 goldene) und Platz 1 im Medaillenspiegel errungen hatten. Eine Geschichte, die hingegen vielen noch bekannt sein dürfte, ist eine des Scheiterns, nämlich jene des Hürdensprinters Liu Xiang, der als Titelverteidiger bereits im Vorlauf verletzungsbedingt ausscheiden musste. Solche „olympischen Momente“, die – über Landesgrenzen hinweg – Emotionen wecken und im Gedächtnis bleiben, kann man sportpolitisch nicht planen, und man kann sie auch nicht einfach aus dem Medaillenspiegel „herauslesen“.

In einer Studie im Jahr 2011 wurde gefragt, ob einzelne Sportler:innen oder ganze Länder bei den vorherigen Olympischen Spielen besonders negativ in Erinnerung waren: China, die Top-Nation von 2008, wurde dabei mit Abstand am häufigsten genannt – wegen Dopingverdachts, aber auch mit der Begründung, insbesondere jüngere Sportler:innen würden instrumentalisiert und zu sehr „gedrillt“.

Damit also sportliche Erfolge zu internationalem Prestige führen, müssen sie zunächst einmal regelkonform erzielt werden. Ob das „auf dem Platz“ der Fall ist, kann man heute dank ausgefeilter Bildtechnik als Zuschauer meist gut nachvollziehen. Ob aber auch „neben dem Platz“, also in Vorbereitung und Training, alles mit rechten Dingen zugeht, ist mangels eines global effektiven Kontrollsystems nur begrenzt nachprüfbar: Für internationale Rezipienten stellt sich mithin die Frage, ob sie einem bestimmten Sportler oder dessen Land und Sportsystem vertrauen. Diese Vertrauensabhängigkeit sportlichen Erfolgs zeigt sich etwa in den Meinungen zum jamaikanischen Sprinter Usain Bolt: In besagter Umfrage war er sowohl der internationale Athlet, an den man sich mit Abstand am häufigsten positiv erinnerte und zugleich der am zweithäufigsten negativ erinnerte – weil eben viele nicht glaubten, dass seine Leistungen „sauber“ erzielt werden konnten.

So finden sich heute in den westlichen Demokratien nicht etwa deshalb so schwer Olympia-Gastgeberstädte, weil die Menschen ... sich vom Sport per se abgewendet hätten ... , sondern weil sie offenbar nicht jenen Sport wollen, für den das IOC steht.

Jedoch ist im Sport, zumal im olympischen, die bloße „Sauberkeit“ meist nur notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Anerkennung von Erfolgen. Denn über formale Regelkonformität hinaus erwarten viele Menschen in vielen Nationen (genauere internationale Daten fehlen…) auch eine Orientierung an informellen Prinzipien der Fairness. Das Attribut „olympisch“ steht – oder stand zumindest dem Anspruch nach einmal (im Grunde ähnlich wie das Fairtrade-Siegel bei Lebensmitteln) – für das Versprechen einer respektvollen, friedlichen, „humanen“ Konkurrenz, in der dem Erfolg eben nicht alle Werte untergeordnet werden sollen.

Und diese Erwartungen erstrecken sich offensichtlich nicht nur auf das Verhalten einzelner Sportler:innen in konkreten Wettkampfsituationen, sondern auch auf die abstraktere Konkurrenz der Nationen untereinander und nicht zuletzt auch auf den Umgang der Sportsysteme bzw. ihrer Funktionäre mit den eigenen Athlet:innen.

Deshalb stoßen sportliche Erfolge bzw. die Ausrichtung sportlicher Großveranstaltungen in einigen Ländern mit zweifelhaften Regimen eben nicht auf ungeteilte internationale Begeisterung, solange gewisse Standards nicht gewahrt werden.

Illustration: Auf weißem Hintergrund sind Shilhouetten von feiernden Fußballfans zu sehen.
Sportliche Erfolge stärken weder nachhaltig Patriotismus oder Nationalstolz, noch führen Erfolge „an der Spitze“ zu mehr Aktivität „in der Breite“, also beim Breitensport, Illustration: Zoonar | Waldemar Thaut via picture alliance

So finden sich heute in den westlichen Demokratien nicht etwa deshalb so schwer Olympia-Gastgeberstädte, weil die Menschen in Hamburg, Oslo oder Boston sich vom Sport per se abgewendet hätten – der Tendenz nach sind die Bevölkerungen hier sogar deutlich aktiver als früher –, sondern weil sie offenbar nicht jenen Sport wollen, für den das IOC steht.

Während der Fußball dank seines kommerziellen Erfolgs von staatlichen Einflüssen etwas unabhängiger ist und vielleicht auch deswegen ein realistischeres Menschenbild pflegen kann („Erst das Fressen, dann die Moral“), sind der olympische Sport bzw. viele der vertretenen Sportarten hingegen viel stärker von öffentlicher Förderung abhängig, und versucht sich daher verstärkt durch seine vermeintlichen und tatsächlichen gesellschaftlichen Leistungen zu legitimieren.

Weder ist die These empirisch zu halten, dass sportliche Erfolge nachhaltig Patriotismus oder Nationalstolz stärken: Selbst wenn bei den großen Fußballturnieren solche Effekte auftreten, klingen sie in der Regel kurze Zeit später wieder ab. Noch ist die oft gehörte Behauptung belegbar, dass Erfolge „an der Spitze“ zu mehr Aktivität „in der Breite“, also beim Breitensport, führen. Deshalb sollte man, wenn der Sport eine öffentliche Angelegenheit ist (und wo er staatlich gefördert wird, ist er das allemal), durchaus fragen: Welchen Sport wollen wir? Welche Rolle sollen Erfolgsaussichten, welche Rolle sollen andere Erwägungen spielen? Bei einer solchen Diskussion dürften natürlich auch außenpolitische Aspekte bedacht werden. Die Formel „Je mehr wir gewinnen, desto mehr werden wir geliebt“, geht jedenfalls nicht auf.

Über den Autor
Jan Haut
Privatdozent

Jan Haut lehrt und forscht am Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Deutschland. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: gesellschaftliche Funktionen des Leistungssports, soziologische Theorien und Sozialgeschichte des Sports, soziale Ungleichheiten im Sport sowie Sport und Kultur.

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