Illustration auf der ein Bulldozer chinesische Tradition in Form von Schriftzeichen überfährt.

Made in Europe

Eine junge chinesische Künstlerin hat sich in Berlin niedergelassen, um sich mit der chinesischen Schrift zu befassen. Hier hat sie den nötigen Abstand zu der Zerstörung der Schrifttradition als Folge der Kulturrevolution. Und die Inspiration einer quicklebendigen Kunstmetropole. So entsteht Kunst „Made in Europe“.

Der in Indien geborene globale Stratege Pankaj Ghemawat veröffentlichte mit dem Buch „World 3.0“ ein Werk darüber, wie begrenzt die Globalisierung tatsächlich ist. Dieser Umstand hat vielleicht seine Vorteile. Ich selbst erfuhr, dass die Einwohner der Stadt meiner Wahl sehr wenig über China wissen, aber sehr neugierig sind. Die Tatsache, dass ich die ganze Zeit von meinen Freunden zu China befragt werde und 7 000 Kilometer von Peking entfernt lebe, führt dazu, dass ich immer an mein Heimatland denke. James Joyce lebte die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens in Triest, Zürich und Paris, aber schrieb nur über ein Irland, dem er nicht entkommen und das er auch nicht vergessen konnte.

Nostalgie ist ein ewiges Thema von Literatur und Kunst. Wenn ich über China nachdenke – und zwar von Mitteleuropa aus, wo ich keine persönliche Geschichte habe – hilft mir das Zurückschauen, die Kluft zwischen der traditionellen chinesischen Zivilisation und dem Tsunami an westlichen Trends, der über China hinweggespült ist, besser zu verstehen. Einerseits sind die neuen Einflüsse aus dem Westen von den Chinesen aufgeregt und neugierig aufgenommen worden. Da wir aber alle damit kämpfen, uns unseren Weg durch diese kulturellen Verbindungen und Unterschiede zu bahnen, verlieren wir uns oft und geben unsere eigene Kultur auf. Dieses Problem betrifft besonders junge Menschen.

Das Studium der Architektur und der traditionellen chinesischen Oper in Peking brachte mich an die vorderste Front dieses Zusammenpralls der Kulturen. Für chinesische Studenten war die Stoßrichtung unserer Studien die westliche Architektur. Es war der Anfang des 21. Jahrhunderts. Peking bereitete sich auf die Olympischen Spiele 2008 vor. China wurde zur Weltfabrik und zur größten Baustelle des Planeten. 300 Millionen Arbeitsmigranten zogen in die Städte. 24 Stunden am Tag füllten die Baustellen Peking mit Licht, Staub und endlosem Lärm. Hunderte Stadtviertel wurden zerstört. Als mein Buch über traditionelle chinesische Gartenarchitektur 2005 veröffentlicht wurde, waren nur 5,7 Prozent von Pekings Altstadt intakt. Die Entwicklungen für die Olympiade erledigten den Rest.

Nostalgie ist ein ewiges Thema von Literatur und Kunst. Wenn ich über China nachdenke und zwar von Mitteleuropa aus, hilft mir das Zurückschauen, die Kluft zwischen der traditionellen chinesischen Zivilisation und dem Tsunami an westlichen Trends, der über China hinweg gespült ist, besser zu verstehen.

Reisebeschränkungen während der geschlossenen Periode bis zum Ende der Kulturrevolution machten es Chinesen unmöglich, moderne Architektur in situ zu sehen. Sogar Studenten meiner Generation machen sich eifrig Notizen und fertigten Zeichnungen berühmter Designs an, die sie in nur begrenzt vorhandenen Büchern in der Bibliothek fanden. Moderne Architektur war für uns in vielerlei Hinsicht imaginär.

Später, als ich meinen ersten Masterkurs über traditionelle chinesische Oper besuchte, erzählte uns unser Professor, dass es in den 1950er-Jahren mehr als 3 000 Arten lokaler Oper in China gegeben hatte; inzwischen sind weniger als 200 übrig. Chinas selbstverschuldete kulturelle Zerstörung, der Wahnsinn und die Verzweiflung, verbunden mit einer zunehmenden idealistischen Verehrung des Westens führten zu einem seltsamen Zustand.

Die Chinesen arbeiteten sehr hart, um ihr Bruttoinlandsprodukt zum vierthöchsten der Welt zu machen, andererseits aber wurden, nachdem es das rückständige alte China nicht mehr gab, große Hoffnungen auf ein neues, ideales System überschattet von den korrupten Gewohnheiten der Vetternwirtschaft und von „Beziehungen“, die genau so waren wie jene vor über Tausenden von Jahren.

Stadtplanung per Bulldozer

Bulldozer zerstörten nicht nur traditionelle Gebäude, die die Essenz eines Großteils unserer Geschichte darstellten, sondern sie zerstörten auch viel von der Harmonie, der Zufriedenheit und dem Optimismus, den wir vom traditionellen chinesischen Denken geerbt hatten. Von 50 Prozent derjenigen, die in den 1980er-Jahren in den großen Städten geboren wurden, endeten die Ehen ihrer Eltern mit Scheidung. Meine eigene Familie war eines der Opfer dieses Trends.

Im Gegensatz dazu bestärken all diese Merkmale des sozialen Aufruhrs und der kulturellen Zerstörung mein Gefühl eines idyllischen Berlins auf eine Art und Weise, welche die Generation meiner Großeltern nur schwer hätte glauben können. Obwohl ich es genoss, deutsche Kultur zu studieren und von ihren positiven Einflüssen zu profitieren – wobei ich fröhlich die Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Kulturen entdeckte – kann ich aufgrund der täglichen Beschränkungen des Lebens meine Zeit nicht mehr mit der chinesischen Sprache ausfüllen. Ich kann mein Chinesisch aber auch nicht beiseitelegen.

Der österreichisch-britische Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ In einer Situation, in der ich das Umfeld für die chinesische Sprache verloren habe und in meinem Deutsch und Englisch eingeschränkt bin, erlaubt es mir die Kunst als universelle Sprache, mich auszudrücken. Auf diese Weise kam ich zum ersten Mal zu meiner Gemäldeserie, die auf chinesischen Schriftzeichen basiert: „The Chinese Version“.

Chinesische Schriftzeichen haben als entwickeltes Schreibsystem eine Geschichte von nicht weniger als 3300 Jahren. Im Gegensatz zu alphabetischen Schreibsystemen stehen chinesische Schriftzeichen nicht für Laute, auch wenn Laute mit ihnen assoziiert werden. Sie sind vielmehr Symbole, die Bedeutungen übermitteln. „Erklärung der Schriften und Analyse der Zeichen“, geschrieben von Xu Shen zu Beginn des ersten Jahrhunderts nach Christus, fasste die Möglichkeiten zusammen, wie chinesische Schriftzeichen in den frühesten bekannten Stadien des geschriebenen Chinesisch entstanden. Das erste wichtige Kriterium war piktografisch. Für abstrakte Konzepte, bei denen die piktografische Darstellung nicht zuträglich war, entwickelten die frühen Chinesen die indikative Methode. Sie fügten ein Symbol zu einer Zeichnung hinzu, um das Konzept anzuzeigen.

Linien, Punkte und Haken

Allmählich wurden die chinesischen Schriftzeichen, die verschiedene Linien, Punkte und Haken umfassten, die von den klassischen Bildzeichen abgeleitet wurden, immer symbolischer. Diese organische Entwicklung hielt an, bis sie 1955 unterbrochen wurde: Festlandchina erzwang die Vereinfachung chinesischer Schriftzeichen. Die Direktive hatte zwei erklärte Ziele: die Vereinfachung der Struktur, d. h. der Zahl von Strichen im Zeichen, und eine Reduzierung der Zeichenzahl. Auf diese Art veränderte sich aber nicht nur die Form der Zeichen, sondern Tausende von Zeichen verschwanden schlichtweg aus dem chinesischen Wortschatz.

Der Vorwand für diese Anweisung war eine Förderung der Alphabetisierung, doch die Alphabetisierungsraten in Hongkong und Taiwan sind etwas höher als jene in Festlandchina, obwohl deren Verwaltungen nie vereinfachte Schriftzeichen übernahmen und auch die Zahl der Zeichen nicht begrenzten.

Im Hinblick auf die Sprache war das Simplifizierungsprogramm eine viel ehrgeizigere kulturelle Grausamkeit als die Sprengung der Buddhastatuen von Bamiyan durch die Taliban oder die Kampagne des ersten Qin Kaisers, „Bücher zu verbrennen und Gelehrte zu beerdigen“. Es war extremer als die Zensur, denn es begrenzte nicht nur den Ausdruck an sich, sondern zu einem gewissen Grad auch die Fähigkeit, bestimmte Ideen auszudrücken.

Für Künstler war es eine weitere Katastrophe, denn die aufgezwungene Vereinfachung entweihte unsere ursprünglichste und charakteristischste Kunstform: die Kalligrafie. Natürlich üben einige Menschen Kalligrafie mit vereinfachten Zeichen aus, aber dies ist eine Kalligrafie, die von Jahrhunderten der Entwicklungen abgetrennt ist, welche möglich machten, dass die Form der Zeichen ihren semantischen Inhalt widerspiegelt und umgekehrt.

Sprachen sind dynamisch und entwickeln sich immer weiter. Sie folgen damit der Geschichte. Aber die vorsätzliche Zerstörung eines so großen Teils der chinesischen Schriftsprache ist ein Symptom einer historischen Tendenz, die sich an so vielen Orten der Welt bis zum heutigen Tag fortsetzt.

Words move, music moves Only in time; but that which is only living Can only die. Words, after speech, reach Into the Silence. Only by the form, the pattern, Can words or music reach The stillness, as a Chinese jar still Moves perpetually in its stillness. – T. S. Eliot „Burnt Norton

Es gibt keine Freiheit des Ausdrucks; alles richtet sich nach einer strengen Ordnung, um in Übereinstimmung mit dem Standard des Staats zu sein – unabhängig von Willen des Individuums. Letzten Endes werden diese Zeichen zu Artikulationen derjenigen, die ihren Willen verloren haben. Ein bisschen bleibt noch von der Form und die Bewegung scheint immer noch da zu sein, sich „perpetually in its stillness“ bewegend, wie das chinesische Gefäß in T. S. Eliots Gedicht, aber es ist tot.

Seit der Zeit, in der die industrielle Revolution die Tore nach China aufgeschlossen hat, bis in die Gegenwart, in der die unsichtbare Macht des Internets kulturelle Unterschiede verwischt, ist ein Teil des offensichtlichen Wohlstands unserer Gesellschaft ein unmittelbares Ergebnis der wissenschaftlichen Entwicklung.

Nicht alle Veränderung ist Wachstum so wie nicht alle Bewegung nach vorne gerichtet ist. Wir wissen, dass der technologische Prozess eine Realität ist, aber ob ein Fortschritt der Zivilisation stattfindet, ist umstritten. Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: „Wenn wir Kupfer als Spiegel nutzen, können wir unsere Kleider säubern; wenn wir eine andere Person als Spiegel nutzen, können wir unsere Erfolge und Niederlagen erkennen; wenn wir die Vergangenheit als Spiegel nutzen, können wir unseren Aufstieg oder Niedergang vorantreiben.“

Heute ist Berlin ein markanter Knoten im globalen Netzwerk. In der größten Einwandererstadt Deutschlands sind unterschiedliche Nationen mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert. Die steigende Einwanderung junger Menschen macht die Stadt Berlin so vital und führt zu Entwicklung. Doch die herrschende Arbeitslosigkeit bringt auch soziale Probleme mit sich.

Nicht alle Veränderung ist Wachstum so wie nicht alle Bewegung nach vorne gerichtet ist. Wir wissen, dass der technologische Prozess eine Realität ist, aber ob ein Fortschritt der Zivilisation stattfindet, ist umstritten.

Englisch wird immer mehr zur Lingua franca. Die Deutschen erfahren Veränderungen in ihrer kulturellen Identität. In Berlin streben wir danach, zum Technologiezentrum zu werden, zum nächsten Silicon Valley. Die Startup-Branche gibt jungen Leuten neue Orientierung für ihre Talente. Aber ein relativ konservatives soziales System bremst ihre Geschwindigkeit.

New Yorks sechster Stadtteil

New Yorker in der Kunstwelt nennen Berlin „New Yorks sechsten Stadtteil“ Als jemand, der sich dafür entschieden hat, in Berlin zu leben, sehe ich keinen Grund dafür, dass die Stadt danach streben sollte, eine Imitation des Silicon Valley oder eine Imitation New Yorks zu sein. Warum sollte Berlin – eine Stadt mit der größten Zahl an Künstlern, einer tiefgründigen und reichhaltigen kulturellen Grundlage in Europa, verbunden mit Einflüssen aus der ganzen Welt – nicht seinen eigenen, neuen historischen Beitrag leisten, nach dem andere streben sollten? Vielleicht werden wir dies sowieso erreichen, aber die mangelnde wirtschaftliche Unterstützung zwingt die Kunstszene in Berlin, für sich selbst zu kämpfen. Die Kunst wird zu einem monopolistischen System, dominiert von einigen Autoritäten der Kunstwelt.

Über eine kulturelle Brücke hinweg halte ich meinen Pinsel, um die Serie „The Chinese Version“ in Deutschland, meiner Wahlheimat, zu malen. Aber ich denke ständig an einen Abschnitt in Lin Yutangs Buch „Mein Land und mein Volk“: „Ich habe mich offen aussprechen können, denn ungleich den erwähnten Patrioten schäme ich mich meines Landes nicht. Auch von seinen Sorgen und Nöten kann ich unverhüllt sprechen, weil ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe. China ist größer als seine Patriötchen und hat es nicht nötig, von ihnen reingewaschen zu werden. Wie ihm das immer gelungen ist, wird es auch jetzt zu sich zurückfinden.“

Diese Zeilen fassen nicht nur meine Haltung zu China zusammen, sondern auch meine Haltung zu Deutschland. Die kritische Betrachtung der aktuellen Situation, um in der Lage zu sein, sich etwas Größeres zu wünschen, etwas, das weiter zum globalem Wohl beitragen könnte, ist eine Folge von echtem Respekt.

Über die Autorin
Jia
Künstlerin

Jia ist Künstlerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Geboren wurde sie 1979 in Peking in der Volksrepublik China, wo sie Architektur, Performance und Literatur studierte. Jia interpretiert in ihren Werken häufig die traditionelle chinesische Kalligrafie und Landschaftsmalerei neu. Zu ihren bekanntesten Ausstellungen gehört "The Chinese Version", eine Gemäldeserie, die auf chinesischen Schriftzeichen basiert.

Kulturreport Fortschritt Europa

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