Man könnte sogar behaupten, dass der gesamte Politikbereich Bildung und Kultur einer Neubewertung unterzogen werden sollte. In einer Zeit, in der vermeintlich nationale Identitäten immer mehr in den Vordergrund rücken – in den EU-Mitgliedsstaaten ebenso wie in der Welt – ist es an der Zeit, dass die EU ihr Profil als Kraft für individuelle Freiheit und gesellschaftliche Toleranz schärft.
In der Europäischen Union geht es nicht nur um Vielfalt, sondern um Einheit in der Vielfalt. Wenn man sich nicht um sie kümmert oder sie abtut, werden Fliehkräfte die Gesellschaften auseinanderreißen, wie sie es bis heute schon so oft getan haben. Wenn die europäische Geschichte eine wichtige Lehre bereithält, dann die: Wenn wir dulden, dass grundlegende Freiheiten ausgehöhlt werden, billigen wir deren Untergang.
Die Demokratie hängt letztlich vom Rückhalt in der Bevölkerung ab, der auf einem Gefühl der gemeinsamen Identität und der gemeinsamen Verantwortung beruht. Die Demokratie braucht Menschen, die bereit sind, als Demokraten – Cives oder Bürger – ihrer politischen Gemeinschaft zu denken, zu sprechen und zu handeln.
In Europa herrscht heute bei vielen Menschen Politikverdrossenheit, und immer weniger junge Menschen nehmen an den Wahlen teil. Dies ist ein besorgniserregender Trend. Meinungsverschiedenheiten und Unzufriedenheit sind integrale Bestandteile des politischen Lebens, und die meisten Menschen werden zumindest zeitweise als Zuschauer oder Beobachter agieren, aber es gibt ein gewisses Maß an Desinteresse, ab dem die Demokratie verkümmert und stirbt. Die Demokratie braucht Bürger.
In der Europäischen Union geht es nicht nur um Vielfalt, sondern um Einheit in der Vielfalt.
Niemand wird als Staatsbürger geboren, außer im engen, rechtlichen Sinne. Staatsbürgerschaft ist eine Fähigkeit, die durch Sozialisation, Bildung und Praxis erworben wird. Vor allem die Bildung ist wichtig, um den Schülern die Gewohnheiten zu vermitteln, die sie brauchen, um als Bürger in Demokratien zu leben. Zu diesen Gewohnheiten gehören, wie die amerikanische Pädagogin Sarah Stitzlein feststellt, Zusammenarbeit, Kompromisse, Überlegungen, Kritik, Dissens, Hoffnung und das Erleben der Staatsbürgerschaft als gemeinsames Schicksal. Die steigende Flut an Intoleranz in ganz Europa ist ein Beweis dafür, dass die Bürgerschaft als Priorität in der Bildung vernachlässigt wurde.
Die Europäer wissen auch wenig über die Europäische Union, wie Meinungsumfragen seit vielen Jahren zeigen. Die Eurobarometer-Umfrage von 2017 legt dar: 89 Prozent der jungen Europäerinnen und Europäer wünschen sich, dass die Regierungen die schulische Bildung über ihre Rechte und Pflichten als Unionsbürger stärken.
Es ist nicht so, dass die EU-Minister sich der Bedeutung des Themas nicht bewusst wären. Die Minister forderten sogar eine stärkere europäische Dimension in der nationalen staatsbürgerlichen Erziehung. Das Problem ist, dass die nationalen Praktiken, genau wie beim Sprachunterricht, nicht den europäischen Erklärungen entsprechen. Als die niederländische Regierung 2018 einen Gesetzesentwurf zur staatsbürgerlichen Bildung veröffentlichte, enthielt dieser zum Beispiel keine substanziellen Vorschläge zur europäischen Dimension der Staatsbürgerschaft.