Illustration: Eine Straße verbindet China und den Rest der Welt

Nach der Annäherung

In den vergangenen Jahrzehnten hat China sich geöffnet, aber auch weiterhin westliche Erwartungen enttäuscht. Man warf China entweder vor, die Menschenrechte im Land zu verletzen oder Gesetze international zu ignorieren. Neben Chinas wachsender wirtschaftlicher Macht löste die sich schnell entwickelnde militärische Stärke des Landes im Westen Sorge aus.

Bis vor Kurzem glaubte der Westen immer noch, dass China letzten Endes die liberale Demokratie und volle Marktwirtschaft übernehmen würde. Diese Überzeugung gründete sich auf der westlichen Erfahrung und Geschichte des Kapitalismus und dem Glauben, dass die liberale Demokratie für einen florierenden und funktionierenden Kapitalismus notwendig sei. Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 bekräftigte diese Überzeugung. Der liberale demokratische Kapitalismus war ein effizientes System; es sorgte im 20. Jahrhundert für das höchste kollektive Niveau an Wohlstand und Würde.

Diese tiefverwurzelte Liberalisierungsprämisse, verbunden mit konkreten wirtschaftlichen, kulturellen und geopolitischen Strategien, bestimmte seit Jahrzehnten die westliche Außenpolitik gegenüber China. Seit den 1970er Jahren verfolgten die Vereinigten Staaten eine Politik der Normalisierung und beabsichtigten, sich nach Jahren der Isolierung China zu öffnen. Diese Politik war von Richard Nixon und Henry Kissinger initiiert und von folgenden US-Regierungen weitgehend übernommen worden.

Der Westen glaubte, dass China letzten Endes die liberale Demokratie und volle Marktwirtschaft übernehmen würde. Diese Überzeugung gründete sich auf … dem Glauben, dass die liberale Demokratie für einen florierenden und funktionierenden Kapitalismus notwendig sei.

Im Laufe der Jahre gewährte Amerika China weiterhin Zugang zu internationalen Organisationen, förderte den wirtschaftlichen Handel, den Austausch zwischen Menschen und bot sogar gemeinsame militärische Aktionen an. Die Absicht und Hoffnung bestanden immer darin, China zu liberalisieren und näher an den Westen heranzuführen. Europa verfolgte eine ähnliche „Entspannungspolitik“, indem es sich auf den wirtschaftlichen Handel konzentrierte. Insbesondere Großbritannien, Frankreich und Deutschland führten engere diplomatische Beziehungen und führten in den 1970er und 1980er Jahren den Hauptanteil des europäischen Handels mit China.

Doch es waren weiterhin die USA, die den Grund der diplomatischen Beziehungen bestimmten. Ihre Ziele waren die Schwächung der Sowjetunion und die Eindämmung des Kommunismus, insbesondere nachdem die USA in der Zeit des Kalten Krieges drei Kriege in Asien verloren hatten. Danach öffnete sich China und begann seit den Reformen von 1978, enorm von seiner allmählichen Einführung liberaler Marktkräfte zu profitieren. Nachdem der Vorsitzende Mao Zedong 1976 gestorben war, veränderte China auch sein politisches System: Aus einem totalitären wurde ein modernes autoritäres kollektives Führungssystem.

Anreiz für wirtschaftliches Wachstum

Illustration: Flaggen der USA und China auf Fäusten auf einem weißen Hintergrund isoliert.
Rückwirkend betrachtet entwickelte sich die Beziehung zwischen China und dem Westen, insbesondere mit den USA als Rückwärtsbewegung von Optimismus und Annäherung hin zu Skeptizismus und versuchter Eindämmungspolitik, Illustration: PantherMedia via picture alliance

2001, ein bisschen mehr als ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, gewährten die USA China Zugang zur Welthandelsorganisation (WTO), ein Schritt, der den Optimismus des Westens hinsichtlich Chinas Reformen und Weg zur Liberalisierung herausstellte. Die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation bot China einen neuen Anreiz für das wirtschaftliche Wachstum und rechtfertigte weitere wirtschaftliche Reformen im Inneren. Zu dieser Zeit war die WTO immer noch eine junge Organisation, aber ein Symbol dafür, dass die Globalisierung sich schon mehr als je zuvor ausbreitete.

China war auf dem Weg dazu, der größte ausländische Kreditgeber der USA zu werden und ihr größter Exportmarkt. BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) wurde zu einer immer bekannteren Abkürzung, nicht nur im Hinblick auf die potenziell großen Märkte für westliche Produkte und ausgelagerte Versorgungsketten, sondern auch für den Aufstieg einer parallelen Weltordnung und den Anfang des relativen Abstiegs des Westens.

Eine Zeitlang erinnerte Amerika China weiterhin an die „Universalität“ westlicher liberaler Werte. In den 1980er Jahren bekräftigte George H. W. Bush, China könne nicht einfach nur westliche Produkte importieren, „und gleichzeitig ausländische Ideen an der Grenze aufhalten“. In den 1990er Jahren erklärte Bill Clinton, dass China ohne Freiheit und Demokratie, „deutlich im Nachteil sein wird, indem es mit völlig offenen Gesellschaften konkurriert“. George W. Bush, der mit Amerikas Kampf gegen den Terrorismus und der Deregulierung einer Wirtschaft beschäftigt war, was zur größten Rezession in der Geschichte führte, sagte, dass „die Menschen Chinas die grundlegende Freiheit verdienen, die das angeborene Recht aller Menschen ist.“ In der Zwischenzeit betonte Chinas damaliger Präsident Hu Jintao den „friedlichen Aufstieg“ des Landes, um den Westen zu beruhigen. Von 2009 ab erreichten die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und China einen Tiefpunkt. Barack Obama versuchte China in Schach zu halten, indem er Streitkräfte umverteilte und China aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) ausschloss. Er erinnerte China daran, dass es „genau die Regeln, die [China] erfolgreich gemacht haben, aufrechterhalten“ solle.

Nur ein paar Wissenschaftler stellten infrage, dass China eine Demokratie nach westlichem Vorbild brauche, um Millionen aus der Armut zu befreien und die Nachteile eines schnellen und unausgewogenen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts, das die ersten drei Jahrzehnte von Chinas Entwicklung geprägt hatte, in den Griff zu bekommen. 2004 meinte der Cambridge-Professor Peter Nolan, dass China zu seinem eigenen „Dritten Weg“ aufgebrochen war. Es war ein allmählicher Reformweg, was nicht bedeutete, dass sich der Staat nach und nach zurückzog, um einer liberalen Ordnung Platz zu machen. Im Gegenteil: Es war die Fortführung des Einparteiensystems und des starken Staates, um Chinas Stabilität zu gewährleisten und zu helfen, „den ‚Igel‘ der Marktdynamiken mit der ‚Schlange‘ sozialen Zusammenhalt zu verheiraten”. Diese „gegenseitig symbiotische Beziehung zwischen Staat und Markt“ war für Nolan nicht einfach nur eine Haltung zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern auch etwas, das China bereits seit Jahrhunderten praktiziert hatte und das tief in Chinas Kultur verankert war.

BRICS wurde zu einer immer bekannteren Abkürzung, nicht nur im Hinblick auf die potenziell großen Märkte für westliche Produkte und ausgelagerte Versorgungsketten, sondern auch für den Aufstieg einer parallelen Weltordnung und den Anfang des relativen Abstiegs des Westens.

China konnte sich auf seine Jahrtausende alte Geschichte einer „Agrarmacht“ und auf die konfuzianische Kultur stützen, um „staatliches Wohlwollen“ zu propagieren und lange Perioden von Stabilität und Wohlstand zu sichern. Für Nolan war Hu Jintaos Konzentration auf den Aufbau einer „harmonischen Gesellschaft“ und das „Gleichgewicht zwischen dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und dem Wohlergehen der Menschen“ ein klarer Ausdruck dieser Kultur und Geschichte. Jetzt, vier Jahrzehnte nachdem Deng Xiaoping die Reformen von 1978 initiierte, ist aus China immer noch keine liberale Demokratie oder freie Marktwirtschaft geworden und es ist sogar noch unwahrscheinlicher, dass es in naher Zukunft zu solchen Veränderungen kommen wird. Im Gegenteil: Seitdem Präsident Xi Jinping im November 2012 sein Amt antrat, war Chinas „Einzigartigkeit“ im Inneren und im Ausland niemals so deutlich und aktiv gefördert worden. Auf dem 19. Nationalkongress der Kommunistischen Partei im Oktober 2017 verkündete Präsident Xi den Anbruch einer „neuen Ära“ des „Sozialismus chinesischer Prägung“.

Langfristige Meilensteine

Diese neue Ära wird bestimmt durch zwei langfristige Meilensteine für Chinas Erneuerung: China bis 2035 zu einer „moderat wohlhabenden Gesellschaft“ zu entwickeln und bis 2049, dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China, zu einem „großen modernen sozialistischen Land“ zu werden.

Die konkreten politischen Maßnahmen, um diese fernen Ziele zu erreichen, sind ein nach innen orientiertes Programm namens „Made in China 2025“ und die nach außen orientierte „Belt and Road Initiative“ (BRI). „Made in China 2025“ ist eine umfassende industriepolitische Agenda, die China nutzen will, um „eine der weltweit fortschrittlichsten und wettbewerbsfähigsten Ökonomien aufzubauen“. Ähnlich wie der Westen bei seinem eigenen Aufstieg möchte China autark und technisch unabhängig werden, indem es „alle High-Tech-Industrien, die stark zum wirtschaftlichen Wachstum in entwickelten Ökonomien beitragen“ anvisiert.

Ein Teller mit einem Bild des chinesischen Präsidenten Xi Jinping liegt neben Bildern von Mao Zedong und Karl Marx.
Im Oktober 2017 verkündete Präsident Xi Jinping den Anbruch einer "neuen Ära" des "Sozialismus chinesischer Prägung", Foto: EPA-EFE | ROMAN PILIPEY via picture alliance

Um diese Agenda einzuhalten, möchte China mit dem Westen zusammenarbeiten, etwa mit der Initiative 4.0 der deutschen Wirtschaft, aber der Westen hat diese politische Agenda mit Vorsicht wahrgenommen, da es sehr gut möglich ist, dass China den Westen in Schlüsselindustrien überholen wird.

Innenpolitisch ist die BRI ein deutlicher Bruch mit Deng Xiaopings alter Maxime „Halte dich zurück und warte ab”, womit er meinte, dass „China keinesfalls die Führung übernehmen sollte“. In den Augen Xi Jinpings ist China „reich und stark geworden“ und nun bereit dazu, die Führung zu übernehmen als „Schaffer von weltweitem Frieden, Beitragender zur Entwicklung globaler Governance und Bewahrer der internationalen Ordnung“. Xi Jinping bietet jedoch nicht an, die bestehende, von den USA dominierte, globale liberale Ordnung zu erneuern. Stattdessen schlägt er mit der BRI ein alternatives Entwicklungsmodell vor, welches das Potenzial hat, die Plattform eines neuen Multilateralismus zu werden.

Präsident Xi hat die BRI zum ersten Mal 2013 während seines Besuchs in Kasachstan erwähnt, aber westliche Regierungen haben dieses beispiellose Entwicklungsprogramm erst auf dem Belt-and-Road-Eröffnungsforum für internationale Zusammenarbeit (BARF) in Peking im Mai 2017 wirklich wahrgenommen. Während viele nichtwestliche hochrangige Teilnehmer, darunter Kasachstans Präsident Nasarbajew, Chinas moderne Seidenstraße als „Jahrhundertprojekt“ rühmten, haben die Europäer und Amerikaner gerade erst begonnen, die Bedeutung und die mögliche Wirkung der BRI zu realisieren. Aufgrund ihres Skeptizismus gegenüber China lehnten sie es ab, die gemeinsame Handelsvereinbarung des BARF zu unterzeichnen.

Xi Jinping bietet … nicht an, die bestehende, globale liberale Ordnung zu erneuern. Stattdessen schlägt er mit der BRI ein alternatives Entwicklungsmodell vor, welches das Potenzial hat, die Plattform eines neuen Multilateralismus zu werden.

Diese ehrgeizigen politischen Agenden werden in einem Schlüsselmoment definiert. Als Präsident Xi sein Amt übernahm, sah er die Notwendigkeit, vom früheren wachstumsstarken, auf das Bruttoinlandsprodukt fokussierten Entwicklungsmodell abzukommen, und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, eine von Schulden angetriebene Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen; sich vom schnellen zum qualitativ hochwertigen und nachhaltigen Wachstum zu verlagern; Armut, insbesondere in den zuvor vernachlässigten ländlichen Regionen des Westens zu lindern und gegen die starke Umweltverschmutzung vorzugehen.

Gleichzeitig war Xi Jinping, wie Professor Carl Minzner betont, mit einem sich ausbreitenden Verfall konfrontiert, mit einem Mangel an Disziplin innerhalb der Kommunistischen Partei, mit ideologischer Polarisierung sowie mit einer Legitimationskrise außerhalb der Partei. Während der ersten fünfjährigen Amtsperiode kämpfte Xi Jinping deshalb also auch mit der weitverbreiteten Korruption, während er die Macht zunehmend auf sich selbst und einige vertraute Mitarbeiter konzentrierte. Die Verschärfung des Parteistaatsapparats und die Reinstallation der „Parteidisziplin“ kennzeichnet ebenfalls Chinas neue Ära. Für Präsident Xi sind eine starke Partei und ein starker Staat unerlässlich, um langfristige Stabilität gewährleisten und jene ehrgeizigen politischen Pläne umsetzen zu können. Der Höhepunkt dieser Verschärfung, die China noch weiter von einer westlichen liberalen Ordnung entfernt, war die Abschaffung der befristeten Amtszeit des Präsidenten.

Während der ersten fünfjährigen Amtsperiode kämpfte Xi Jinping … auch mit der weitverbreiteten Korruption, während er die Macht zunehmend auf sich selbst und einige vertraute Mitarbeiter konzentrierte.

Der Westen sieht diese Entwicklungen unter Xi Jinping mit Skeptizismus, Feindseligkeit und ergeht sich in einem stetigen China-Bashing. Der Economist verurteilte Xi Jinpings starke Führung als eine Rückkehr von „kollektiver Governance“ zur „Alleinherrschaft“ und eine Entwicklung von der „Autokratie zur Diktatur“. Die BRI wird abgeurteilt als Chinas eigennütziger „Marshall-Plan“, da er im Wesentlichen dabei hilft, die unterentwickelten Regionen im Westen zu integrieren, industrielle Überkapazitäten zu kompensieren, zukünftige internationale Märkte zu sichern und die eigene geopolitische Macht in Eurasien und anderen aufstrebenden „Belt-and-Road“-Ökonomien zu behaupten.

Über den Autor
Thorsten Jelinek
Politikwissenschaftler

Thorsten Jelinek ist der Europa-Direktor des Taihe Institute, einem Public-Policy-Thinktank in Peking. Zuvor war er stellvertretender Direktor beim Weltwirtschaftsforum und zuständig für die Wirtschaftsbeziehungen in Europa. Er hat weitreichende berufliche Erfahrungen durch die Arbeit mit kleinen und großen Unternehmen und er hat einen Doktor in politischer Ökonomie von der University of Cambridge und einen Master of Science in Sozialpsychologie von der London School of Economics.

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