Illustration: Hände bauen einen Pfeil mit Puzzleteilen zusammen oder auseinander.

Programm des Imperialismus

Westliche Staatsoberhäupter behaupten immer wieder, dass es dieses Mal anders sein wird – manchmal mit ehrlichen Absichten. Warum Entwicklungsländer jeden Versuch, eine universale Kultur aufzuerlegen, skeptisch betrachten.

Die Entwicklungsländer haben eine lange Leidensgeschichte aufgrund von Kolonialismus und Imperialismus. Westliche Kolonialmächte zerstörten traditionelle politische Strukturen, unterdrückten lokale kulturelle Aufgliederungen und gestalteten Gesellschaften für ihre eigenen Zwecke um. Diese Aktionen wurden als notwendig gerechtfertigt – wenn sie überhaupt gerechtfertigt wurden –, um den Rest der Welt nach westlichen Wertvorstellungen zu „zivilisieren“.

Deshalb wurden Eliten an britische und französische Universitäten geschickt, um diese in westlichen Ideen zu schulen und deshalb rechtfertigten die Vereinigten Staaten auch ihre eigenen kolonialen Unternehmungen damit, nichtwestliche Gesellschaften für die Demokratie „bereit“ zu machen.

Tatsächlich haben die Kolonialmächte wenig dazu beigetragen, ihre Kolonien zu verbessern. Als diese nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig werden durften, wurden die postkolonialen Staaten mit nur wenigen leitenden Institutionen zurückgelassen, was oftmals zu mehr Konflikten führte. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis viele dieser Kolonien dieses Defizit abtragen konnten, einige frühere Kolonien haben dies noch vor sich.

Man kann also verstehen, warum Entwicklungsländer jeden Versuch, eine universale Kultur aufzuerlegen, skeptisch betrachten. Sie haben erlebt, wie diese Sprache zuvor benutzt wurde, um ein Programm des Imperialismus zu rechtfertigen. Westliche Staatsoberhäupter mögen immer wieder behaupten, dass es dieses Mal anders sein wird – manchmal mit ehrlichen Absichten – aber Entwicklungsländer wissen, wohin diese Worte führen.

Als sie [die Kolonien] nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig werden durften, wurden die postkolonialen Staaten mit nur wenigen leitenden Institutionen zurückgelassen, was oftmals zu mehr Konflikten führte.

Aber der Westen und der Rest betrachten die Welt nicht nur aus unterschiedlichen Erfahrungen heraus. Sie haben auch auf dem Weg in ein 21. Jahrhundert mit beschränkten Ressourcen eine jeweils unterschiedliche Zukunft vor sich.

Es ist offensichtlich, dass unsere Verschwendung von Ressourcen schwerwiegende Folgen für die Gesellschaft hat, angefangen von Klimawandel und extremem Wetter bis hin zur Verseuchung des Bodens, zunehmend knappen Rohstoffen und auf Hochtouren laufenden Städten. Die Welt wird sich auf ein nachhaltigeres wirtschaftliches Modell hinbewegen müssen, das nicht auf einem zügellosen konsumgetriebenen Wachstum um jeden Preis beruht und stattdessen Ressourcenmanagement ins Zentrum der wirtschaftlichen Planung rückt.

Sie [der Westen und der Rest] haben auch auf dem Weg in ein 21. Jahrhundert mit beschränkten Ressourcen eine jeweils unterschiedliche Zukunft vor sich.

Aber die entwickelten Länder und die Entwicklungsländer werden diese Herausforderung unterschiedlich betrachten. Der Westen ist wohlhabend, da er von Jahrzehnten des wirtschaftlichen Wachstums profitiert hat. Dort hat man im Wesentlichen Bevölkerungen, die relativ klein sind und nicht wachsen (wenn sie nicht sogar schrumpfen) mit den nötigen Grundlagen und zufriedenstellenden sozialen Diensten versorgt. Deren Wachstum ereignete sich in einer Zeit üppigerer Ressourcen, was es ihnen ermöglichte, gemeinsame und öffentliche Ressourcen zu verschwenden, ohne selbst unter den Folgen leiden zu müssen.

Konsumkultur als westliches Modell

Foto: Menschenmasse auf dem Times Square in New York.
Das westliche Modell läuft auf einen Lebensstil hinaus, der im großen Stil Ressourcen verschwendet, Foto: Tom W via pexels

Der Rest ist zu großen Teilen immer noch arm, trotz der manchmal erstaunlichen Wachstumsraten. Sogar China – das größte und wohl erfolgreichste Mitglied dieses Rests – hat immer noch ein Durchschnittseinkommen, das deutlich unter dem OECD liegt. Diese Bevölkerungen wachsen auch schnell: Die große Mehrheit der Menschen, die in den nächsten paar Jahrzehnten geboren werden, lebt künftig in Asien und in Subsahara-Afrika, wobei sowohl Indien, Indonesien und Nigeria massiv wachsen werden.

Dies bedeutet, mehr Menschen müssen ernährt, untergebracht, beschäftigt und anderweitig versorgt werden, was den Ressourcenverbrauch dieser Länder nur noch steigern wird.

Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass Entwicklungsländer das Leben ihrer wachsenden Bevölkerungen in einer Welt mit viel knapperen Ressourcen verbessern müssen. Die Antwort darauf kann kein westliches Modell bieten, das auf einen Lebensstil hinausläuft, der im großen Stil Ressourcen verschwendet.

Der Westen präsentiert oftmals die eigene Lebensweise und Konsumkultur als nachzuahmendes Vorbild. Womöglich tut er dies nicht explizit (insbesondere, da immer mehr Menschen verstehen, wie wenig nachhaltig dieser Lebensstil ist), aber er tut es implizit durch die dominierende Stellung der Populärkultur, die Art der Bildung und des Geschäftslebens. Wenn ‚universale Werte‘ auf die westliche Konsumgesellschaft ausgerichtet sind, hat der Planet eine düstere Zukunft vor sich.

Wir wissen, dass der Wunsch der Europäer nach einer universalen Kultur Grenzen hat. Europa hat beispielsweise eine viel längere Geschichte als die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland (die als ehemalige britische Kolonien auch eine Sprache und gemeinsame Wurzeln teilen). Also sind europäische Länder an bestimmte Themen anders herangegangen als ihre angelsächsischen Partner. Europa ist etwa bereiter dazu, gegen Sprache und Symbole des Hasses vorzugehen, was man verstehen kann vor dem Hintergrund, dass eine solche Rhetorik dort institutionalisiert worden war – mit tödlichen Konsequenzen.

Das Narrativ „Wir mit den anderen“

Trotz dieser Unterschiede zieht Europa in der Praxis oftmals mit dem mit, was Amerika will. Europa hat die Vereinigten Staaten niemals wegen einer Entscheidung, mit der es nicht einverstanden war, sanktioniert, niemals ist es über verbale Kritik hinausgegangen. Vom Irakkrieg bis zur aktuellen Auseinandersetzung über den Atomwaffen-Deal mit dem Iran hat Europa nie etwas in Bezug auf die Entscheidungen in Washington unternommen. Dies hat Europas Fähigkeit begrenzt, auf dem Weg ins 21. Jahrhundert einen eigenen Platz, eine eigene Rolle und ein eigenes Selbstverständnis zu definieren.

Es gibt also deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern. Diese Unterschiede sollten jedoch nicht gemeinsame Lösungen verhindern. Wir brauchen ein Narrativ, das es Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen Werten ermöglicht, zum gegenseitigen Nutzen zusammenzukommen und globale Probleme zu lösen.

Statt eines „Wir“-Narrativs und statt des Narrativs „Wir gegen die anderen“ brauchen wir ein Narrativ des „Wir mit den anderen“. Indem die Balance zwischen dem Westen und dem Rest wiederhergestellt wird (wenn nicht sogar zugunsten des Rests gekippt wird), besteht die Chance, einen Rahmen zu schaffen, in dem verschiedene Kulturen und Länder zur Lösung von Problemen zusammenarbeiten können.

Was könnte dabei Europas Rolle sein? Und wie sollten wir die „europäische Kultur“ verstehen, wenn sie nicht länger mit universalen Werten in Verbindung gebracht wird? Europa ist womöglich besser als andere westliche Länder in der Lage, mit dem Rest auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.

Bereitschaft zu lernen

Anders als etwa die Vereinigten Staaten hatte Europa mehrere Jahrzehnte Zeit, sich mit seiner veränderten Stellung in der Welt zu arrangieren und es hat auch nicht den Wunsch ausgedrückt, die Welt zu dominieren. Dies bedeutet, dass Europa mit aufsteigenden Mächten wie China arbeiten kann, ohne dabei das eigene Image zu gefährden. Die Vereinigten Staaten hätten Schwierigkeiten, das Gleiche zu tun, ohne der eigenen Selbstwahrnehmung als einer für die Welt „unentbehrlichen Nation“ zu widersprechen.

Wenn ‚universale Werte‘ auf die westliche Konsumgesellschaft ausgerichtet sind, hat der Planet eine düstere Zukunft vor sich.

Aber dies bedeutet, mit China als gleichwertigem Partner zu arbeiten, der Interessen, Werte und Ideen hat, die ernst zu nehmen sind. Es bedeutet, zu akzeptieren, dass China manche Probleme womöglich besser gelöst hat als der Westen, was wiederum bedeutet, bereit dazu zu sein, wie ein Schüler zu betrachten, was China richtig gemacht hat. Und Europa sollte China nicht belehren.

Das Gleiche gilt für andere Länder und Staatsoberhäupter jenseits des Westens. Europa muss nicht nur bereit sein, mit Ländern wie die Türkei, den Philippinen und anderen zu arbeiten, sondern auch verstehen, was sie antreibt. Diese Länder reagieren alle auf eine geopolitische Struktur, die ihnen beim globalen Aushandeln der Spielregeln keinen Platz eingeräumt hat und die nun plötzlich mehr Ressourcen haben und mehr Mitspracherecht einfordern.

Trotz aller Probleme mit Staatsführern wie Recep Tayyip Erdoğan und Rodrigo Duterte (und da gibt es einige), ist ihre Weigerung, ein westliches Modell zu akzeptieren, das ihre Länder gebremst, wenn nicht sogar ihrer Entwicklung geschadet hat, der Grund dafür, warum sie in ihrem Land immer noch sehr beliebt sind.

Imperialer Glanz

Es kann schwer sein, „europäische Kultur“ zu definieren. Manchmal wurde der Begriff gebraucht, um sich auf einen imperialen Glanz in der Vergangenheit zu berufen und aggressives sowie rassistisches Verhalten gegenüber anderen Kulturen zu rechtfertigen. Ein Teil der populistischen Wende in Europa, angefacht durch die Flüchtlingskrise, hat den Begriff „Europas Kultur“ genutzt, um Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit zu rechtfertigen.

Ich bin kein Europäer, es liegt also nicht an mir, zu bestimmen, was europäische Kultur sein sollte. Das ist Sache der Europäer. Aber sie entscheiden vielleicht, dass sie mit Respekt für Demokratie und westlichen politischen und bürgerlichen Rechten zu tun hat. 

 

Europäer haben womöglich das Gefühl, sie sei sowohl von außen als auch von innen bedroht. Doch der beste Weg, sie zu schützen, besteht nicht darin, andere Länder dazu zu zwingen, fehlerhafte demokratische Strukturen zu übernehmen, sondern darin, die eigenen Regierungssysteme zu unterstützen

Ein Europa, das sich darauf konzentriert, die eigenen Institutionen und die eigene Governance zu stärken, und diese Stärke dann nutzt, um mit anderen an der Lösung der Probleme in der Welt zu arbeiten, wird weit mehr zu weltweitem Frieden, Fortschritt und Wohlstand beitragen als ein Europa, das andere darüber belehrt, wie sie das Ideal einer „Wir-Kultur“ verfolgen.

Europa kann und muss integraler Bestandteil einer „vielfältigen menschlichen Zivilisation“ sein. Aber es muss auch bereit sein, zu akzeptieren, dass es eine Kultur unter vielen ist.

Die Flaggen der Mitgliedsstaaten der EU vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.
Ein Europa, das sich darauf konzentriert, die eigenen Institutionen zu stärken, wird weit mehr zu weltweitem Wohlstand beitragen als ein Europa, das andere belehrt, Foto: Zoonar / Christian Decout via picture alliance
Über den Autor
Portrait Chandran Nair
Chandran Nair
Gründer der Denkfabrik "Global Institute For Tomorrow"

Chandran Nair gründete das "Global Institute for Tomorrow", einen unabhängigen Thinktank in Hongkong, den er als Geschäftsführer leitet. Er ist unter anderem Mitglied des Global Agenda Council for Environment and Sustainability des Weltwirtschaftsforums, der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Nair setzt sich für eine radikale Reform des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells und strenge Begrenzungen des Konsums ein.

Bücher (Auswahl):  

  • Dismantling Global White Privilege: Equity for a Post-Western World. Berrett-Koehler, Oakland, CA 2022
  • The Sustainable State: The Future of Government, Economy, and Society. Berrett-Koehler, Oakland, CA 2018
  • The Other Hundred Entrepreneurs: 100 Faces, Places, Stories. Oneworld, London  2015
  • Der große Verbrauch: Warum das Überleben unseres Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt. Riemann, München 2011

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.