Illustration: Ein Mann und ein Roboter beim Tauziehen.

Risiko asymmetrischer Konflikte

Europa strebt danach, die „weltweit führende Region für Spitzen-KI“ zu werden, aber es liegt hinter den Vereinigten Staaten und China in der Anzahl seiner KI-Talente und -Unternehmen, eingereichten Patente, veröffentlichten Forschungspapiere und Investitionen in die KI-Industrie für Forschung und Entwicklung. Welche Strategie braucht der alte Kontinent?

Alle Regierungen betonen KI als Quelle für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig wird KI als Dual-Use-Technologie eingestuft und unterliegt daher nationalen Sicherheits- und Exportkontrollen sowie FDI-Screening-Mechanismen. Regierungen haben hastig neue Vorschriften verabschiedet, um Cybersicherheitsrisiken zu mindern, den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten und die Strafverfolgung zu stärken. Die neuen Vorschriften schützen auch die heimischen Märkte unter dem Banner der digitalen Souveränität und Datensouveränität. Das Kopf-an-Kopf-Rennen hat sich auf nationale Verteidigungsbehörden ausgeweitet, die sich auf einen „Hyperkrieg“ vorbereiten und „schlachtfeldreife KI" zu einer Priorität machen.

Das Kopf-an-Kopf-Rennen hat sich auf nationale Verteidigungsbehörden ausgeweitet, die sich auf einen ,Hyperkrieg‘ vorbereiten und ,schlachtfeldreife KI‘ zu einer Priorität machen.

Am beunruhigendsten ist die Entwicklung tödlicher autonomer Waffen (LAW). Während die Europäische Union ein Verbot von „automatisierten Tötungsrobotern“ fordert, sind die Vereinigten Staaten, China, Russland und andere Länder dabei, LAW-Fähigkeiten weiter auszubauen und zu erwerben. Im Vergleich zu konventionellen Waffen sind Cyberwaffen kostengünstig und leichter zugänglich, was die Verbreitung von Cyberwarfare und LAW-Fähigkeiten beschleunigen wird.

Dies wird auch ansonsten schwächere Akteure stärken und damit das Risiko asymmetrischer Konflikte enorm erhöhen. Aufgrund der Verbreitung von Cyber-Technologien und der anhaltenden Eile vieler Staaten, offensive Cyber-Fähigkeiten für den potenziellen Einsatz in Konflikten zu erwerben, ist das tatsächliche Risiko internationaler Cyberkonflikte und Cyberwarfare deutlich erhöht. Nämlich, dass ein Land digitale Technologien nutzt, um zentrale digitale Systeme eines anderen Landes zu stören. Eine solche Verbreitung von Technologien birgt auch das Risiko von „freundlichem Feuer“ und „Folgen zweiter Ordnung", da viele Cybernetzwerke auch auf die Infrastruktur des privaten Sektors angewiesen sind. Im Bereich der Verteidigung geht es bei KI weder um Gutes oder Schädliches, sondern um Wettbewerb und Konflikt.

Fehlendes Vertrauen

Es gibt zahlreiche internationale Organisationen, die sich mit Cybersicherheit und Cyber-Kriminalität befassen, aber für den durch KI ermöglichten Cyber-Konflikt fehlen internationale Verträge und Versuche, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, vor allem zwischen rivalisierenden Mächten. Der Diskurs über Cybersicherheit und der Prävention von Cyberkriminalität ist global gespalten und konventionelle Verträge zur Rüstungskontrolle werden zerrissen oder in Frage gestellt.

Zudem unternehmen die Vereinigten Staaten alles, um ihre Technologie und Forschung und Versorgungsketten von denen Chinas zu entkoppeln, und drängen Europa und andere Verbündete und Partner, dasselbe zu tun. Die Vereinigten Staaten tun dies, um Chinas Aufstieg auf der Grundlage nationaler Sicherheitsbedenken einzuschränken, aber sie haben es versäumt, Beweise für Fehlverhalten vorzulegen.

Die Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und China war am deutlichsten zum Thema 5G und hat sich zunehmend auf andere disruptive Technologien wie KI, IoT, Robotik, Quantumcomputing und Biosynthetik ausgeweitet.

Während wir das Ergebnis der digitalen und KI-Revolution nicht vorhersehen können, weil die Geschichte uns wenig bis gar keinen Hinweis auf die vielleicht letzte technologische Revolution gibt, haben solche ernüchternden Listen unmittelbarer Bedrohungen und längerfristiger struktureller Ungleichgewichte und Spannungen eine internationale Debatte über die Ethik und Governance von KI ausgelöst. In dieser Debatte wird der Begriff Ethik häufig verwendet, um diese berechtigten Bedenken über potenzielle Störungen der KI zusammenzufassen. Die Debatte über KI-Ethik und -Governance hat vor allem zur Definition zahlreicher KI-Prinzipienwerke weltweit geführt, die in erster Linie von großen Internetplattformen und multinationalen Konzernen vorgeschlagen wurden sowie von internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen sowie Regierungen.

Trotz subtiler, aber entscheidender Unterschiede bei der Auswahl und Hervorhebung bestimmter ethischer Grundsätze betonen die verschiedenen Rahmenwerke allgemein, dass die KI der Zukunft sicher, erklärbar, fair und zuverlässig sein sollte, und sie betonen auch, dass ihr Nutzen sich auf die gesamte Gesellschaft erstrecken sollte. Es scheint einen internationalen Konsens darüber zu geben, dass KI für das größere Wohl der Menschheit entwickelt und genutzt werden sollte. Sie sollte menschenorientiert, verantwortungsvoll und vertrauenswürdig sein und immer menschliche Entscheidungsfreiheit und menschliche Aufsicht ermöglichen.

Verstärkung statt Veränderung der Geschichte

Doch diese positive Rahmengestaltung bestätigt umgekehrt in erster Linie, dass die heutige Ethik und Governance schlecht ausgestattet sind, um die zerstörerischen Kräfte der KI zu verhindern oder ausreichend zu mildern, und dass diese potenziellen Kräfte eindeutig von globalem und historischem Ausmaß sind. Fast alle Rahmenwerke analysieren jedoch das Risiko von KI in einem engen Sinne: das heißt, ohne einen Zusammenhang zwischen dem Dual-Use-Charakter der Technologie und dem tatsächlichen Zustand sozialer, politischer, wirtschaftlicher und internationaler Angelegenheiten zu entwickeln. Diese Rahmenwerke ignorieren, wie KI höchstwahrscheinlich den aktuellen Verlauf der Geschichte verstärken wird, anstatt ihn zu verändern.

KI wird zunehmend autonome Entscheidungen treffen, aber sie wird in absehbarer Zeit nicht völlig autonom von menschlichen Praktiken sein. Und wir können nicht erwarten, dass sie zu einem transzendenten, supernützlichen und auf Menschen ausgerichteten Kompass wird, der die Menschheit in Richtung universaler Gleichheit und Würde führt. Während viele dieser KI-Prinzipien schnell definiert wurden, wird die Definition neuer Governance-Ansätze, die diese Prinzipien umsetzen sollen, angesichts des komplexen und unsicheren Risikoszenarios der KI schwieriger sein.

KI wird zunehmend autonome Entscheidungen treffen, aber sie wird in absehbarer Zeit nicht völlig autonom von menschlichen Praktiken sein.

Governance ist die Möglichkeit der Zusammenarbeit, die sich an gemeinsamen Grundsätzen ausrichtet. Eine Zusammenarbeit ist notwendig, da jede Interessengruppe unterschiedliche Verantwortlichkeiten hat und kein Stakeholder allein KI-Risiken in ihrer Gesamtheit kontrollieren kann. Grundlegende politische und kulturelle Unterschiede insbesondere zwischen den großen Wirtschaftsblöcken untergraben jedoch die internationale Zusammenarbeit.

Dennoch wird die Zusammenarbeit in Zukunft immer dringlicher werden, um mit den Risiken der KI wirksam umzugehen. Diese grundlegenden Unterschiede machen die sich abzeichnende Ethik- und Governance-Lücke scheinbar unüberwindbar. Dementsprechend sind die Vereinigten Staaten eine Marktwirtschaft und individualistische Gesellschaft, die dem Motiv des Profits und der Selbstverwirklichung folgt. Die Regierung sieht KI als Chance für Forschung und Entwicklung, für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Während Cybersicherheitsrisiken als Haftung behandelt werden, dient KI der kapitalistischen Ethik der selbstbezogenen Schaffung von Wohlstand. Im Gegensatz dazu betont Europa Solidarität und einen Menschenrechtsansatz gegenüber KI. Nach Ansicht der Europäischen Union sollte KI rechtmäßig, robust und ethisch sein. Die Minderung von KI-Risiken ist eine Frage der Regulierung.

In China werden Harmonie und Mitgefühl als grundlegende moralische Werte des Landes hervorgehoben. Für die chinesische Regierung sind Daten und KI Mittel, um Stabilität und Disziplin durch Überwachung und Kontrolle zu gewährleisten oder zu verbessern. Während die Chinesen die digitale Revolution weitgehend als Chance sehen, neigen westliche Menschen dazu, die Gefahren von weit verbreiteter Digitalisierung zu betonen.

Drängen auf Verantwortung

Zweifellos droht eine solche Polarisierung, über die vielen Unterschiede innerhalb der einzelnen Regionen und die Ähnlichkeiten zwischen allen Regionen hinwegzusehen. Die Menschen in Europa, in den Vereinigten Staaten und in China sind sich zunehmend der Datenschutz- und Sicherheitsrisiken im Zusammenhang mit der allgegenwärtigen Digitalisierung und KI bewusst geworden.

Die Regierungen haben hastig versucht, ein Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Autonomie mit dem Ziel zu schaffen, die Vorteile zu nutzen und gleichzeitig die Risiken zu minimieren. Große Internet- und KI-Plattformen wurden dazu gedrängt, mehr Verantwortung zu übernehmen. Die Großmächte stehen vor den gleichen Herausforderungen, aber sie nähern sich ihnen von verschiedenen Enden aus, was ebenfalls die Aussicht auf internationale Zusammenarbeit und Governance auch im Bereich der KI untergräbt.

Ihre Unterschiede sind fest in ihrer Geschichte und Kultur der Regionen verwurzelt, werden aber in diesen Tagen verstärkt. Vor allem die Vereinigten Staaten und China haben die Geduld verloren, zu versuchen, einander nach einer langen Phase der Annährung zu verstehen. Stattdessen artikulieren und verteidigen sie mit Nachdruck ihre Andersartigkeit. China nimmt die Welt als „Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Schicksal“ war, während die Vereinigten Staaten „konkurrierende Koexistenz“ als neue Grundlage ihrer Beziehung betonen. Ersteres klingt nach einer utopischen Harmonie, letzteres ist realistischer, aber es erzeugt Spannung und enthält kein Konzept für ein friedliches Miteinander. Der heutige globale Kontext bringt uns deshalb gefährlich nahe an ein nie endendes Vorkriegsszenario zwischen China und den Vereinigten Staaten.

Beide Mächte drängen auf die Thukydides-Falle. Der vergangene Globalismus der 1990er und 2000er Jahre droht sich in eine postglobale Realität zu verwandeln, in eine Realität der konkurrierenden nationalen Globalisten, die immer wieder daran scheitern, einen Konsens zu erzielen für die Entwicklung eines neuen Gleichgewichts und einer multilateralen Ordnung.

Der Zerfall der Welthandelsorganisation und die Erosion der alten, von den Vereinigten Staaten angeführten Ordnung führen uns zurück in eine Zeit, in der Macht vor Recht geht. Es ist eine Ära der Loyalitäten und fragmentierten Bilateralismen. Es ist eine Ära hoher Unsicherheit und scheinbar unkontrollierbarer Risiken, in der viele das Vertrauen in Unternehmen, Technologie und lokale wie globale Institutionen verloren haben, sicherlich innerhalb des Westens. Europa ist „realer“ geworden.

Der heutige globale Kontext bringt uns deshalb gefährlich nahe an ein nie endendes Vorkriegsszenario zwischen China und den Vereinigten Staaten.

Dennoch ist „Europas Aufwachen“ eine prekäre Angelegenheit, da die Region weiterhin zwischen einem Auseinanderbrechen, der verstärkten Fremdenfeindlichkeit, schleppendem Wachstum und dem Schutz der „europäischen Lebensweise“ balanciert, aber ohne die Fähigkeit zur globalen verantwortungsvollen Führung.

Wie die Vereinigten Staaten hat Europa noch keinen Fluchtweg aus der wachsenden Kluft zwischen seiner „Brahmanenlinken“ und seiner „Handelsrechten“ gefunden. Wie die Vereinigten Staaten repräsentiert Europa nicht die Kämpfe und Ängste innerhalb seiner Gesellschaften. Europa bleibt zwischen den „protektionistischen“ Vereinigten Staaten, einem „aggressiven“ China und der Rivalität zwischen den beiden Ländern stecken. Während Europa größtenteils nicht mit Trumps Persönlichkeit und Herangehensweise einverstanden ist, teilt es die Klagen und Sorgen in Bezug auf Chinas wachsende Dominanz und der Tatsache, dass China nicht westlicher wird. Die Europäische Union hat auch damit begonnen, China als „strategischen Rivalen“ zu bezeichnen, aber ohne sich an dem einseitigen Handelskrieg der Vereinigten Staaten gegen China zu beteiligen.

Obwohl die Vereinigten Staaten ihre Zukunft am meisten zu fürchten scheinen, muss China auch mehr versuchen, einen Weg zu finden, diese Angst zu verringern. Vorerst wird weiterer Schaden nur verhindert, da jede der drei Mächte ein wichtiger Handelspartner der beiden anderen ist.

Vor solch einem überspitztem Hintergrund wird deutlich, dass KI hauptsächlich genutzt werden wird, um einen strategischen Vorteil gegenüber anderen Wettbewerbern und Rivalen zu erlangen. Wie der Kapitalismus ist auch KI disruptiv und verfügt nicht über die Ethik des sozialen Wohls. Deshalb liegt es an der menschlichen Handlungsfähigkeit und Zusammenarbeit, die aktuelle Abwärtsspirale zu durchbrechen und sicherzustellen, dass Technologie vor allem für das soziale und ökologische Wohl eingesetzt wird.

‘Europas Aufwachen‘ ist eine prekäre Angelegenheit, da die Region weiterhin zwischen einem Auseinanderbrechen, der verstärkten Fremdenfeindlichkeit, schleppendem Wachstum und dem Schutz der ,europäischen Lebensweise‘ balanciert, aber ohne die Fähigkeit zur globalen verantwortungsvollen Führung.

KI bringt seine eigenen Risiken mit sich. Doch KI ist nicht der hauptsächliche Grund dafür, Geschichte zu verändern, sondern eine Technologie mit einem hohen Risiko, die Symptome der Geschichte zu verstärken wie etwa die ungleiche Aufmerksamkeitsökonomie, der Überwachungsstaat und der stärkere Wettbewerb um Macht. Um die Abwärtsspirale zu durchbrechen und eine Ideologisierung der verschiedenen KI-Prinzipien zu verhindern, muss KI nicht einfach der Menschheit dienen; auch die Menschheit selbst muss sich ändern.

Wenn es in der Geschichte der Menschen immer wieder zu Rückschlägen kommt, dann sollte KI nicht die menschlichen Werte und das menschliche Gehirn nachahmen, sondern von ihnen lernen und beides verbessern. Wenn wir annehmen, dass die Menschheit für das Leben auf der Erde eine Bedrohung darstellt und das Ziel darin besteht, diese Bedrohung rückgängig zu machen, dann wird KI die Chance haben, letzten Endes die menschlichen Beziehungen und unsere Beziehung mit der Natur zu verbessern.

Über den Autor
Thorsten Jelinek
Politikwissenschaftler

Thorsten Jelinek ist der Europa-Direktor des Taihe Institute, einem Public-Policy-Thinktank in Peking. Zuvor war er stellvertretender Direktor beim Weltwirtschaftsforum und zuständig für die Wirtschaftsbeziehungen in Europa. Er hat weitreichende berufliche Erfahrungen durch die Arbeit mit kleinen und großen Unternehmen und er hat einen Doktor in politischer Ökonomie von der University of Cambridge und einen Master of Science in Sozialpsychologie von der London School of Economics.

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