Vor 79 Jahren wurde in einer Villa am Berliner Wannsee Ungeheuerliches besprochen: die systematische Organisation des Massenmords an den Jüdinnen und Juden Europas. Wie vermittelt man dieses Verbrechen heutigen Generationen?
ifa: Herr Haß, Sie haben sich intensiv mit den historischen Grundlagen von Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur beschäftigt. Warum ist das Erinnern für eine Gesellschaft wichtig?
Matthias Haß: Erinnerung ist Teil einer gesellschaftlichen Verständigung über Identität. Jede Debatte um die Vergangenheit ist auch immer eine Verständigung darüber, wer wir als Gesellschaft sind, wer wir sein wollen. Dabei geht es nie um die Geschichte zum Selbstzweck, sondern darum, welche Teile wir in der Gegenwart präsent halten wollen, weil wir sie für wichtig erachten – im Fall von Deutschland zum Beispiel die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust.
ifa: Sie sind seit 2015 in einer zentralen Gedenkstätte- und Bildungsstätte für den Holocaust tätig, im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Wer besucht Ihre Ausstellungen und nutzt die Bildungsangebote, zum Beispiel Seminare und Workshops?
Haß: Grundsätzlich kommen zu uns Menschen, die sich für die Geschichte der Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden interessieren. Da wir am Stadtrand liegen, sind wir aber meistens nicht die erste Anlaufstelle für jene, die ganz allgemein das Thema Nationalsozialismus interessant finden, anders als beispielsweise die "Topographie des Terrors". Uns besuchen Touristen aus der ganzen Welt genauso wie Schulklassen und Studierende – auch verschiedene Berufsgruppen, zum Beispiel Kranken- und Altenpfleger:innen und Mitarbeitende von Bundesministerien, der Polizei und Bundeswehr.
ifa: Mit welcher Motivation, mit welchen Fragen kommen diese Berufsgruppen zu Ihnen?
Haß: Das ist unterschiedlich, aber im Wesentlichen beschäftigen sie sich mit der Geschichte ihrer Berufsgruppe im Nationalsozialismus und mit der Relevanz dieser Geschichte für ihren Beruf heute. Wir referieren dabei aber nicht, sondern regen die Teilnehmenden an, berufsethische Fragen zu diskutieren. Nehmen wir das Beispiel der Alten- und Krankenpfleger:innen, die im Rahmen ihrer Ausbildung zu uns kommen. Wenn es um das Thema Sterbehilfe geht, lässt sich die eher vorsichtige Haltung in Deutschland nur mit Rückblick auf die Geschichte verstehen – weil es Zeiten gab, in denen der Staat "lebensunwertes Leben" vernichtete und über "lebenswertes" Leben entschied.
ifa: Und welche Fragen diskutieren Sie mit Soldat:innen der Bundeswehr? Spielen die Verbrechen der deutschen Wehrmacht eine Rolle?
Haß: Ja, es geht darum, das Bild von der "sauberen Wehrmacht" weiterhin kritisch zu beleuchten. Den meisten Teilnehmenden sind die Verstrickungen der deutschen Wehrmacht in die NS-Verbrechen heute bekannt. Ziel der Seminare ist es auch, das System von Befehl und Gehorsam grundsätzlich infrage zu stellen. Kann man sich als Soldat:in auf das Befolgen von Befehlen berufen, wenn es um verbrecherische Befehle geht? Wie groß war die Entscheidungsfreiheit eines Soldaten, der zum Kriegseinsatz gezwungen wurde? Uns ist es wichtig, von vorschnellen Urteilen wegzukommen und dafür zu sensibilisieren, dass Kategorien wie "Täter:in", "Opfer", "Zuschauer:in" meistens zu kurz greifen, um menschliche Handlungsoptionen und damit auch den Holocaust zu verstehen.
Mit vorschnellen Meinungen sollten wir vorsichtig sein.
ifa: Und wie machen Sie das in den Seminaren konkret sichtbar?
Haß: Ich denke, die Täter:innen sind in der juristischen Dimension ihrer Verbrechen klar zu fassen, auch die Opfer, die zu solchen gemacht wurden und denen in aller Regel deutlich weniger Handlungsoptionen blieben. Aber spannend ist die "graue Masse" dazwischen: die Möglichmachenden, die Zu- und Wegschauenden, die Opponierenden, die Helfenden. Hier sind die Handlungsoptionen nicht immer klar erkennbar. Bedeutet Zuschauen automatisch, ein verbrecherisches Regime zu unterstützen? Oder kann es auch stillschweigende Solidarität bedeuten, mit Verhafteten oder anderen Opfern? Wie verhalten sich Kund:innen gegenüber einem jüdischen Unternehmen, das staatlicherseits unter Druck gerät? Gehen sie weiter dort einkaufen, auch auf die Gefahr hin, denunziert zu werden? All diese Fragen stellen wir zur Diskussion. Den meisten Teilnehmenden wird dann klar, dass wir mit vorschnellen Meinungen vorsichtig sein sollten und dass es gerade in der Grauzone der Zuschauenden keine Eindeutigkeiten gibt. Wir wollen die Teilnehmer:innen in die Lage versetzen, zu einem eigenen begründeten Urteil zu kommen.
ifa: In der Dauerausstellung Ihres Hauses wird auch die europäische Dimension des Massenmords an Jüdinnen und Juden sichtbar. Welche Rolle spielt der Holocaust heute in den Staaten, die mit dem NS-Regime kollaborierten?
Haß: In vielen europäischen Gesellschaften wird seit ein paar Jahren genauer hingeschaut, wie das eigene Land am Holocaust beteiligt war. Das gilt für Ost- wie für Westeuropa. Nehmen wir die "Résistance" in Frankreich. Dem offiziellen Erinnerungsnarrativ nach, bis in die 1990er-Jahre, waren quasi alle Franzosen im Widerstand. Die Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem Nationalsozialismus wurde ausgeblendet. Aber in den letzten 30 Jahren wurde das sehr schmerzhaft neu verhandelt. Das Gleiche gilt für Länder, die sich erst spät als Nationalstaat gefunden haben, zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien. Dort liegt die Herausforderung darin, über die Zufriedenheit und den Stolz, endlich ein eigenes Land zu sein, den selbstkritischen Blick nicht zu verlieren – und damit auch auf die Kollaboration mit dem Nazi-Regime zu schauen.
ifa: Wie ist das konkret in Kroatien? Für das Vortragsprogramm haben Sie mit Schüler:innen aus Zagreb über den Holocaust gesprochen. Wie wird der Holocaust, auch das Ustascha1-Kollaborationsregime, dort vermittelt?
Haß: Mein Vortrag fand im Rahmen des internationalen "Jüdischen Filmfestivals Zagreb" statt und war Teil der "Educational Mornings", einem Bildungsformat für Jugendliche. Soweit ich weiß, sehen die kroatischen Lehrpläne für den Holocaust eine begrenzte Stundenzahl vor. Ob Kollaboration im Schulunterricht thematisiert wird, kann ich nicht sagen, aber allein die Tatsache, dass es dieses Festival gibt und dass Schulklassen daran teilnehmen, zeigt, dass in der kroatischen Gesellschaft etwas in Bewegung ist. Dass mein Vortrag wiederum im Rahmen dieses Festivals stattfand, nicht im Rahmen des regulären Schulunterrichts, zeigt auch, dass um die eigene Haltung gegenüber diesem Teil der Vergangenheit immer noch gerungen wird.
ifa: Haben Sie die Kollaboration in Ihrem Vortrag thematisiert?
Haß: Es ging um die Wannsee-Konferenz im Allgemeinen, die Kollaboration des Ustascha-Regimes habe ich kurz genannt. Die Schüler:innen sind überraschend offen damit umgegangen. Beispielweise haben sie die Kollaboration nicht rechtfertigend abgewehrt, sondern kritische Fragen dazu gestellt und vertiefend nachgefragt. Die kroatische Gesellschaft hat in den letzten Jahren angefangen, sich mit diesen Schattenseiten der eigenen Geschichte zu beschäftigen, sonst wäre es gar nicht möglich, diese Fragen zu stellen. Vieles geschieht durch gesellschaftlichen Druck, möglicherweise auch durch internationale Bündnisse wie die Internationale Allianz zur Holocaust-Erinnerung (IHRA2), in der Kroatien Mitglied ist.
Nationale Erinnerungsnarrative im Dialog
ifa: Ziel der IHRA, der mittlerweile 34 Staaten angehören, ist es unter anderem, Aufklärung, Forschung und Gedenken im Bereich des Holocaust weltweit zu fördern. Wo sehen Sie Chancen, wo Grenzen dieses zwischenstaatlichen Gremiums?
Haß: Solche internationalen Allianzen sind sinnvoll und wichtig, aber sie laufen immer auch Gefahr, sich zu verselbstständigen oder zu vereinheitlichen – und genau das sollte bei der Erinnerungskultur nicht der Fall sein. Es geht nicht darum, dass Staaten einander "Entwicklungshilfe" leisten, sondern dass die unterschiedlichen Perspektiven auf den Holocaust gehört werden, gleichberechtigt und auf Augenhöhe. Die Chance liegt darin, dass sich verschiedene nationale Narrative treffen, auch in Kontroversen, im Dialog. Es kann und sollte nie darum gehen, den Zeigefinger zu erheben, zumal unsere eigenen nationalen Debatten ja ebenso begrenzt sind. Nehmen wir das Beispiel der deutschen Kolonialgeschichte, die auch ich lange Zeit nicht im Blick hatte. Jetzt bricht diese Debatte auf und wir setzen uns damit auseinander und das ist gut. Moralische Empörung darüber, dass es lange Zeit nicht so war, bringt uns nicht weiter.
Interview von Juliane Pfordte
Über Matthias Haß
Matthias Haß
Stellvertretender Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte "Haus der Wannsee-Konferenz"
Matthias Haß ist stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung Bildung und Forschung in der Gedenk- und Bildungsstätte "Haus der Wannsee-Konferenz". Er studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und hat zu Gedenkstätten zu nationalsozialistischen Massenverbrechen in Israel, den USA und Deutschland promoviert.
Vortragsprogramm der Bundesregierung
Expert:innen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien informieren in Vorträgen und Podiumsdiskussionen aktuell und vielschichtig über Deutschland. Das ifa organisiert das Vortragsprogramm der Bundesregierung zusammen mit den deutschen Botschaften und Konsulaten im Ausland. Es richtet sich an Multiplikator:innen der Zivilgesellschaft in diesen Ländern. Weitere Informationen auf der Website des ifa.
Bundesaußenminister Heiko Maas und sein israelischer Amtskollege Gabriel Aschkenasi bei einem Rundgang durch das Haus der Wannsee-Konferenz im August 2020. Matthias Haß (links) erläutert die Details.