Frau mit Regenschirm springt vor einer großen grauen Wand, getragen vom starken Wind.

Von der Nutzgemeinschaft zur Schutzgemeinschaft

Die Europäische Union ist das Beste, was Europa in seiner langen Geschichte passiert ist. Die demokratische Versammlung der Europäer ist ein Weltwunder – und verliert unablässig an Zustimmung. Wie kann eine handfeste europäische Sozialpolitik helfen?

Wir haben es uns angewöhnt, über Europa zu mäkeln, wie es Schüler über die Schule tun. Wir haben es uns angewöhnt, über die Bürokratie von Brüssel zu klagen, über die Demokratiedefizite, über die Kosten, über den Wirrwarr der Richtlinien, über den Euro und die Rettungsschirme. Die Klagen sind berechtigt. Aber: Wir haben verlernt, das Wunder zu sehen. Europa ist ein Wunder.

Es ist dies ein europäisches Paradoxon: Je wichtiger dieses Parlament geworden ist, und es ist wirklich wichtiger geworden (wenn auch noch immer nicht wichtig genug) – umso weniger wird es von Europäern wichtig genommen. Derweil die Ukrainer für Europa auf die Straße gingen, die Letten den Euro eingeführt haben, Georgien und Moldawien Assoziierungsabkommen mit der EU paraphieren, nimmt in der Europäischen Union die Euroskepsis zu. Gewiss: Die meisten Menschen wollen Europa, aber sie wollen es anders. Wie eine andere, eine bürgernahe EU aussehen könnte, das müsste das Thema für den Kontinent sein.

Europa braucht nicht nur Verträge und Rettungsschirme, es braucht das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger. Auch wenn die Wahlbeteiligung zu den Europawahlen 2019 erstmals seit 20 Jahren wieder stieg, haben sich viele Jahre Desinteresse und Misstrauen in Wahlverweigerung geäußert. Das Misstrauen zog mit großer Stärke und europafeindlichem Trara ins Parlament ein. Nationalismus und Nationalismen gewannen im Europaparlament an Raum, so dass europakritische und europafeindliche Parteien ins Parlament gewählt wurden und Europa so zurückgeschoben wurde in eine ungute Vergangenheit, in eine Viel- und Kleinstaaterei, in ein Nebeneinander und Gegeneinander.

Deshalb ist die Mobilisierung von Vertrauen in eine bessere, in eine geläuterte EU so wichtig: Europa muss sozial, bürgernah, menschlich werden. Europa muss Heimat werden für die Menschen. Europa darf nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft sein, es muss Bürgergemeinschaft sein. Es darf nicht nur Nutzgemeinschaft für Industrie und Banken sein, es muss Schutzgemeinschaft für die Menschen werden. Das geht nicht mit Geschwurbel, das geht nur mit handfester sozialer Politik. Eine solche handfeste soziale Politik brauchen wir.

Europa muss sozial, bürgernah, menschlich werden. Europa muss Heimat werden für die Menschen.

In den Ferien machen viele Familien, die sich so etwas noch leisten können, Urlaub. Wir fahren nach Florenz oder Nizza, nach Versailles oder Venedig, nach Paris, Rom, Prag oder Athen, nach Köln oder Kopenhagen, nach Brügge und Gent, wir laufen durch die großen Museen, durch die alten Burgen, Klöster, Schlösser und Gärten, Dome und Tempel, wir sind vergnügt, wir schauen mit großen Augen –und sehen trotzdem eines nicht: dass die Europäische Union all das, all diese Geschichte, diese Tradition, dass die Europäische Union all dies in sich birgt und darauf aufbaut.

Der Herzenseuropäer

Der Schriftsteller Joseph Roth, ein wahrer Herzenseuropäer, geboren 1894 im galizischen Schtetl Brody, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, gestorben 1939 in Paris, hat 1932 im Vorwort zu seinem großen Roman „Radetzkymarsch“ bittere Klage geführt über den Untergang des alten Europas: „Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland“, schrieb er, „die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlands geliebt und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen“.

Mein Gott, wie frohgemut, wie euphorisch würde dieser Joseph Roth heute durch das neue, durch unser Europa gehen. Aus Trauer über den Untergang des alten Europas hat er sich damals in den Alkohol geflüchtet. Heute würde er jubilieren, er würde tanzen in seinem Pariser Stammcafé, dem Café Tournon; er würde schreiben und schreiben, er würde mehr vom guten Europa herbeischreiben, er würde die europäische Geschichte vor Freude tanzen lassen und es wäre ihm schwindlig vor Glück, weil sein altes Europa ganz neu wieder auferstanden ist, größer, friedlicher und einiger denn je. Nie konnten sich die Menschen dieses Kontinents so frei bewegen wie heute, nie gab es so wenig Schranken, Grenzen, Hemmnisse. Millionen von Urlaubern erfahren und erleben dies in ihren Ferien. Mehr denn je können die Menschen in diesem Europa das sein, was Joseph Roth sein wollte: Patriot und Weltbürger.

Wie kann Europa seine Kraft aktivieren, wie muss Europa sein und werden, dass die Menschen es wertschätzen und lieben? Es ist wirklich so, wie ich es schon im Vorspann geschrieben habe: Europa ist das Beste, was den Deutschen, Franzosen und Italienern, den Tschechen und Dänen, den Polen und Spaniern, den Flamen und Wallonen, den Niederländern und Griechen, Bayern, den Basken und Balten in ihrer Geschichte passiert ist. Europa ist die Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Die Europäische Union ist das Ende eines fast tausendjährigen Krieges, den fast alle gegen fast alle geführt haben. Sie ist ein unverdientes Paradies für die Menschen eines ganzen Kontinents.

Wer seinen Nationalstaat als Heimat erlebt hat, will daraus nicht vertrieben werden. Er will, wenn die Heimat Nationalstaat zu schwach wird, Europa als zweite Heimat.

EU ist das Kürzel für das goldene Zeitalter der europäischen Historie. Man schreibt das hin, man sagt das so, und man erschrickt dann fast, weil das nicht zur allgemeinen Stimmung passt, weil immer weniger Leute daran glauben, weil also die europäische Emphase im Alltag zerrieben und überlagert wird von den wirtschaftlichen Sorgen und den sozialen Ängsten der Bürger. Die Menschen haben Angst; und auf die Angst antworten viele Europapolitiker mit obigem Lobpreis: Europa sei das Beste, was den Deutschen, Franzosen und so weiter und so weiter in ihrer langen Geschichte passiert sei.

Das stimmt ganz sicher – und doch werden solch feierliche Sätze zu bloßem Wortgeklingel, wenn und solange die Menschen diese EU nur als Nutzgemeinschaft für die Wirtschaft und für die Finanzindustrie, aber nicht als Schutzgemeinschaft für die Bürger erleben. Sozialpolitik ist nicht Annex des Ökonomischen, sie darf es nicht sein. Sozialpolitik ist eine Politik, die Heimat schafft; erst kluge Sozialpolitik macht aus einem europäischen Staatsgebilde, aus der etwas sperrigen EU, die immer noch zu sehr Wirtschaftsgemeinschaft ist, eine Heimat für die Menschen, die darin leben: Wer seinen Nationalstaat als Heimat erlebt hat, will daraus nicht vertrieben werden. Er will, wenn die Heimat Nationalstaat zu schwach wird, Europa als zweite Heimat.

Wenn also in europaweiten Protesten Demonstranten immer wieder von ihren Regierungen fordern, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischem Anstand zu sorgen, dann ist das nicht unbillig. Regeln für ein sozialverträgliches Wirtschaften gehören zum inneren Frieden. Es wächst die Furcht, dass im Wirtschafts- und Euro-Europa die soziale Basis immer mehr unter die Räder gerät. Wenn es dieses Gefühl gibt, und es gibt dieses Gefühl, dann reicht es nicht, von den Bürgern Dankbarkeit zu verlangen dafür, dass die Europäische Union existiert. Europa braucht nicht nur Verträge und eine einheitliche Währung, es braucht auch das Vertrauen seiner Bürger. Die Bürger wissen derzeit nicht mehr so recht, warum sie Europa wollen sollen. Man sagt ihnen, dass allein Europa ein potenter Spieler auf der Weltbühne sein könne, aber sie spüren diese Potenz nicht. Die europäischen Nationalstaaten verlieren ihre Fasson, aber die EU gewinnt sie nicht. Sie gewann an Größe, nicht an Stärke. Das muss sich ändern.

Früher befragten die Griechen das Orakel von Delphi. Heute befragt Europa die Finanzmärkte. Man kann streiten, was besser ist. Die Kommunikation mit dem Orakel war jedenfalls einfacher. Es hatte einen einzigen Ort und eine einzige Person, die es verkörperte. Der Ort lag an den Hängen des Parnass und die Person hieß Pythia. Das Orakel war also greif bar. Und als es sich spreizte, zog Alexander der Große es an den Haaren in den Tempel. An dessen Eingang befand sich eine Inschrift; sie war der Schlüssel für alle Fragen: „Erkenne dich selbst!“. Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis hat Europa in der Griechenland-, Italien-, Portugal und Zypernkrise wie nie zuvor (vom Brexit ganz zu schweigen): Diese Krisen waren und sind nicht nur Währungs- und Finanzkrisen, sie offenbaren auch eine Institutionenkrise, eine Krise der Demokratie. Angeblich geht und ging es ja nicht anders in der Euro-Krise: Es musste einfach durchregiert werden; die Märkte warten nicht, heißt und hieß es. Es musste und muss alles schnell gehen; die Exekutive muss effektiv handeln; Entschlossenheit ist Trumpf.

An den Hängen des Parnass

Das erste Gebot der EU-Krisenpolitik heißt daher: Keine Zeit, keine Zeit. Das zweite: Noch schneller noch mehr Milliarden ausgeben. Das dritte: Keine Rücksicht nehmen auf die Parlamente. Das vierte: Erst kommt der Markt, dann kommt der Mensch. Das fünfte: Die alten demokratischen Regeln sind untauglich für das neue Europa. „Die Demokratie ist zu langsam“, hat Manuel Barroso, der Präsident der EU-Kommission, im September 2011 erklärt. Nein, Herr Barroso, da sind Sie zu schnell mit ihrer Kritik an der Demokratie; da liegen Sie grundfalsch. Der Vorwurf, dass die Demokratie zu langsam arbeitet, ist „ein alter Topos aus dem Arsenal antidemokratischen Denkens“, so die deutsche Soziologin Karin Priester. Der Euro ist gewiss wichtig. Aber die Demokratie, der Rechtsstaat und der Sozialstaat sind noch viel wichtiger. Die Krise sei nun einmal, so heißt und hieß es zur Begründung der exekutiven Hektik in der Euro-Krise, die Stunde der Exekutive. Das mag so sein. Das Problem dabei ist aber: Die Euro-Krise dauert nicht nur eine Stunde, sondern schon Jahre. Dutzende EU-Gipfeltreffen, allesamt sogenannte Krisengipfel, haben die Parlamente an den Rand gedrängt. Die Demokratie ist verrückt geworden.

Die Europäische Union ist das Ende eines fast tausendjährigen Krieges, den fast alle gegen fast alle geführt haben. Sie ist ein unverdientes Paradies für die Menschen eines ganzen Kontinents.

Der Einfluss der Parlamente, der zentralen Orte der Demokratie, hat in unglaublicher Weise abgenommen. Die parlamentarische Demokratie im Krisen-Europa ist notleidend. Die Souveränität der Parlamente und die Souveränität des Volkes dürfen nicht durch die Souveränität echter oder angeblicher europäischer Experten ersetzt werden. Demokratie ohne Demos ist ein Widerspruch in sich. Am EU-Parlament gingen alle Euro-Rettungsmaßnahmen komplett vorbei; die europäischen Volksvertreter sind nur Zuschauer. Den nationalen Parlamenten geht es ein wenig besser; die dortigen Volksvertreter dürfen immerhin genehmigen, was ihre Regierungen beschlossen haben. Der Bundestag in Deutschland durfte jeweils „passt schon“ sagen zu dem, was eigentlich nicht passt: zur Entparlamentarisierung der Politik, die im Lauf der EuroKrise vom schleichenden ins galoppierende Stadium übergegangen ist. Die Parlamente sind aber nicht die Bettler unter dem europäischen Tisch, die darauf warten müssen, dass Krümel vom Tisch des Rates herunterfallen; sie dürfen von der EU-Politik nicht in diese Rolle gedrängt werden.

Es geht um das Vertrauen in den demokratischen Prozess: Die Wertschöpfungsanlagen für dieses Vertrauen sind die Parlamente. Die Parlamente werden in der medialen Öffentlichkeit allzu oft als Ort des Streits diskreditiert. Wo sonst aber soll über Europa gestritten werden? In der Krise gibt es einerseits die berechtigte Klage über eine kastrierte Demokratie, andererseits eine besondere Lust auf Alexander-Politik. Das passt nicht zusammen: Die Sehnsucht nach Regierungshelden, die den gordischen Knoten mit einem Schlag zerhauen, ist undemokratisch.

Am autokratischen Wesen von zwei oder drei EU-Regierungschefs wird Europa nicht genesen. Wer ständig eine Ruck-Zuck-Politik fordert, darf sich nicht wundern, wenn ruck, zuck die Demokratie verdirbt. Die Europäische Bürgerinitiative, eingeführt vom Lissabon Vertrag, kann Hoffnung wecken auf einen neuen demokratischen Aufbruch in Europa. Die institutionellen Hürden sind hoch, eine Million aller Bürgerinnen und Bürger in einem Viertel aller Mitgliedsländer müssen der Initiative zustimmen. Richtig zufrieden kann man mit der Europäischen Bürgerinitiative noch nicht sein – ihre Reichweite ist begrenzt auf die Fragen, für die die EU-Kommission zuständig ist. Und diese Kommission, die einen demokratischen Legitimationstest kaum bestehen würde, entscheidet über die Zulässigkeit einer Bürger-Gesetzesinitiative.

Man wünscht sich, dass es Poliere ihres Geistes und ihrer Kunstfertigkeit auch beim Bau des Hauses Europa gibt.

Da können zwei Millionen Bürger – wie bei der Initiative „Wasser ist Menschenrecht“ – gegen die Privatisierung der Wasserversorgung antreten; und dann kann die Kommission diese Initiative trotzdem einfach wegwischen. Das ist nicht gut, das ist nicht recht, das ist ein schwerer Fehler, das ist antidemokratisch. Wir reden so gern vom Haus Europa. Europäische Häuser gab es schon einmal, Häuser ganz besonderer Art, heilige Häuser: Die Dome und Kathedralen waren einst die Häuser, die trigonometrischen Punkte Europas. Alle Kunst des Kontinents fand dort ihre Form, ihre Gestalt und ihre Heimat –in Brüssel und Barcelona, in Antwerpen und Straßburg, in Wien und in London, in Magdeburg und in Uppsala, in Aachen, Kuttenberg, Burgos und Klausenburg. Aus dem Namen der Baumeisterfamilie Parler, welche die Dome und Münster zwischen Freiburg und Prag gebaut hat, soll sich das Wort „Polier“ entwickelt haben–so nennt man heute den Leiter einer Baustelle.

Poliere ihres Geistes

Man wünscht sich, dass es Poliere ihres Geistes und ihrer Kunstfertigkeit auch beim Bau des Hauses Europa gibt. Ich wünsche mir, dass die Gewerkschaften in Europa zu diesen Bauleuten und zu diesen Polieren gehören, ich wünsche mir, dass sie den Weiterbau des Hauses Europa mitorganisieren. Ich wünsche mir, dass die Gewerkschaften der EU-Kommission, dem Europäischen Rat und den EU-Politikern klarmachen, dass nicht sie die Bauherren des Hauses Europa sind. Bauherr sind die Völker, Bauherr ist das Volk; Bauherren sind die Menschen, die in diesem Haus leben sollen.

Die Rettungsschirme für den Euro waren und sind unvorstellbare Milliardensummen groß. Aber die Größe allein bringt es nicht. In Europa wohnen ja nicht Euronen, sondern Menschen, Bürgerinnen und Bürger. Die Europäische Union braucht das Vertrauen ihrer Bürger, und dieses Vertrauen tropft nicht einfach von den Rettungsschirmen herunter. Ohne dieses Vertrauen bleibt jeder Schutzschirm instabil; er flattert, reißt alles mit oder geht kaputt.

Wie sehr das Vertrauen bereits geschädigt ist, konnte und kann man in jeder Diskussion zu fast jedem Thema hören: Ob es um die verschimmelten Wände im Klo des Kindergartens geht oder darum, dass Lehrer fehlen und Unterrichtsstunden ausfallen – immer und überall gab und gibt es wilden Beifall, wenn einer dann nur „500 Milliarden“ sagt: „500 Milliarden für Banken, aber nur ein paar Knöpfe Sozialgeld pro Monat für Kinder von Langzeitarbeitslosen.“

Geld ist wichtig in Europa. Mit Geld kann man Europa gestalten, man kann es auch verunstalten und zerstören. Es gibt ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Hektik der Spardiktate, die über die Südländer der EU verhängt werden und der Apathie, wenn es um die Zähmung des Finanzkapitalismus geht. Europa erleidet die Folgen der Alters- und Anti-Aging-Exzesse des Kapitalismus. Die Bankenkrise wurde bewältigt und gelöst, indem sie zu einer „Staatsschuldenkrise“ umdefiniert wurde: 90 Prozent der griechischen Schuldtitel lagen vor 2010 bei Banken, Hedgefonds und anderen privaten Gläubigern. Ab 2010 bekam Griechenland Hilfskredite in Höhe von 188 Milliarden Euro vom EU-Rettungsschirm und dem Internationalen Währungsfonds ausgezahlt. Und währenddessen kam es im Jahr 2012 zu einer großen Umwandlung: Es befinden sich nur noch zehn Prozent der Gesamtschulden in den Händen von privaten Gläubigern. Für 90 Prozent der ehemals privaten Schuldtitel garantieren oder haften jetzt – direkt oder indirekt – die europäischen Steuerzahler.

Die Griechen als Schuldner

Europa wurde offensichtlich missbraucht, um die Finanzkapitalisten zu bedienen. Die Griechen als Schuldner. Shakespeare hat in seinem „Kaufmann von Venedig“ die archaische Vorstellung aufgegriffen, dass man Schulden auch mit einem Teil seines Körpers begleichen könne. Generationen von Interpreten, auch aus der Juristerei, haben sich mit dem Fall befasst. Der Geldverleiher Shylock besteht auf seinem ihm vertraglich eingeräumten Recht, aus seinem säumigen Schuldner, dem Kaufmann Antonio, ein Pfund Fleisch herauszuschneiden. Die Zunft der Juristen, hat viele Jahrzehnte über die Wirksamkeit des Geschäfts und den Urteilsspruch gestritten.

Rudolf von Ihering, der große deutsche Rechtsgelehrte, vertrat in seiner berühmten Schrift „Der Kampf ums Recht“ im Jahr 1868 die Auffassung, dass der Anspruch des Shylock wegen Sittenwidrigkeit nicht bestünde. Über die genaue Begründung hat man jahrzehntelang diskutiert. Es wurde und wird aber allgemein als intolerabel beschrieben, dass Schulden mit „Fleisch“ bezahlt werden. Wenn es also archaisch und sittenwidrig ist, dass Schulden mit Fleisch bezahlt werden – was ist dann von den Lasten, den Einschnitten und den scharfen Sparmaßnahmen zu halten, die Griechenland und den anderen EU-Südländern auferlegt worden sind?

Die massiven Sparmaßnahmen hatten und haben besorgniserregende Folgen für die Gesundheit. Viele Menschen können nicht mehr ordentlich medizinisch versorgt werden, die Selbstmordraten steigen. Ist das eine Art neues Fleischpfand, das für die Schulden bezahlt werden muss? Die EU-Troika hat bestimmt, dass öffentliche Ausgaben für Gesundheit nicht mehr als sechs Prozent des Bruttosozialprodukts betragen sollen – mit der Folge, dass die Ausgaben für Medikamente und Gesundheitsleistungen um 25 Prozent zurückgefahren wurden. Die Zahl der Krankenhausbetten wurde reduziert. Es wurden keine neuen Ärzte mehr eingestellt. Krankheiten breiten sich wieder stärker aus. In Griechenland kam es zu besorgniserregenden Anstiegen von HIV-Neuinfektionen, Tuberkulose und Malaria. Die Säuglingssterblichkeit nahm um 43 Prozent zu. Die Versorgung von Patienten, die nach einem Unfall oder einer Operation auf Blutkonserven angewiesen sind, war in Griechenland ohnehin seit Jahren schwierig; nun ist sie desaströs. Die Bevölkerung büßte für die Schulden des griechischen Staates –mit Fleisch und Blut. Wo bleibt da der „Sieg des geläuterten Rechtsbewusstseins“?

Gerettet wurden und werden nicht Menschen. Gerettet werden Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; sie sollen überleben.

Kaum ein Krankenhaus in Griechenland kann die europäischen Mindeststandards einhalten. Regelmäßig zeigt das griechische Fernsehen Bilder bettelnder und flehender alter Menschen vor Kliniken oder Apotheken in Athen oder Thessaloniki. Das waren und sind Warnbilder. Die Botschaft: Wehe dem, der in Griechenland ernsthaft krank wird. Wo bleibt da der weise Daniel, wo bleibt die Portia, die hier, wie in Shakespeares Stück, eingreift und das Schlimme verhindert? Jeder, der den „Kaufmann von Venedig“ sieht, sagt, es sei intolerabel, dass Schulden mit Fleisch bezahlt werden. Wo bleibt dieses Rechtsbewusstsein, wenn es um die Euro-Schulden geht? Sollen sie mit Leben und Gesundheit bezahlt werden? Schutzschirme sind für Banken und Euro aufgespannt worden. Aber: Gerettet wurden und werden nicht Menschen. Gerettet werden Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; sie sollen überleben. Ist es nur sekundär, ob und wie Menschen dabei überleben?

Viele Bürgerinnen und Bürger haben das beklemmende Gefühl, dass die EU zwar für die klassische äußere und innere Sicherheit steht, dass sie für Handel und Wandel von Vorteil ist, dass jedoch die sozialen Belange bei ihr nicht gut aufgehoben sind. Ja, es besteht die Furcht, dass im grenzüberschreitenden freien Wettbewerb, den die EU propagiert, das Soziale immer mehr unter die Räder gerät, weil das unterschiedliche Sozialniveau in den einzelnen Mitgliedsstaaten bei offenen Grenzen erstens zum Sozialdumping einlädt und zweitens zur Nivellierung der nationalen sozialen Absicherung (Tendenz nach unten) führt. Wenn es dieses Gefühl gibt, und es gibt dieses Gefühl, dann reicht es nicht, von den Bürgern Dankbarkeit zu verlangen dafür, dass es die Europäische Union gibt. Europa braucht nicht nur Verträge, es braucht auch das Vertrauen seiner Bürger.

Zu diesem Vertrauen kann und muss aber auch die Änderung von Verträgen beitragen –vor allem die Änderung des Lissaboner Vertrages, der dem Wettbewerbsprinzip quasi Verfassungsrang verleiht und die Konkurrenz unter den Mitgliedsstaaten festschreibt.

Über den Autor
Portrait von Heribert Prantl
Heribert Prantl
Journalist und Autor

Heribert Prantl ist Journalist und Autor. Er war Leiter des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung (SZ), Leiter des Ressorts Meinung und bis 2019 acht Jahre lang Mitglied der Chefredaktion. Prantl lehrt Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Bis 1988 arbeitete er als Richter und Staatsanwalt in Bayern. 

Bücher (Auswahl):

  • Himmel, Hölle, Fegefeuer. Eine politische Pfadfinderei in unsicheren Zeiten. LMV, München 2021
  • Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste. Mit Bernd Mesovic, Rolf Gössner, Heinrich Bedford-Strohm. Hirnkost, Berlin 2019
  • Die Kraft der Hoffnung: Denkanstöße in schwierigen Zeiten. Süddeutsche Zeitung, München 2017
  • Denkanstöße von Heribert Prantl: Der Zorn Gottes | Alt.Amen.Anfang. | Kindheit. Erste Heimat. Süddeutsche Zeitung, München 2015
  • Im Namen der Menschlichkeit: Rettet die Flüchtlinge! (Streitschrift). Ullstein eBooks, Berlin 2015

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.