Zwischen Sektierertum und Ungläubigkeit
Die Idee, die einem vereinten Europa zugrunde liegt, ist beschädigt worden, und erst im Moment der Gefahr sehen wir uns gezwungen, auf diese wesentliche Dimension Europas zurückzukommen, auf sein verborgenes Potenzial. Sowohl Trump als auch Putin befürworteten den Brexit; sie unterstützten Euroskeptiker in jedem Winkel, von Polen bis Italien. Was aber stört sie bloß an Europa, wo wir doch alle das Elend der EU kennen, die an jedem, aber auch wirklich jedem Test scheitert: von ihrer Unfähigkeit, eine einheitliche Einwanderungspolitik zu beschließen, bis zu ihrer miserablen Reaktion auf Trumps Zollkrieg? Offensichtlich ist es nicht dieses real existierende Europa, sondern die Idee Europa, die wider alle Erwartungen in Momenten der Gefahr aufblitzt. Die Frage für Europa lautet daher, wie es unter dem konservativ-populistischen Ansturm seinem emanzipatorischen Erbe treu bleiben kann.
Die einzige Methode, um den Populismus wirklich zu besiegen, liegt somit darin, das liberale Establishment selbst, seine reale Politik, einer rücksichtslosen Kritik zu unterziehen.
In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur bemerkte der große Konservative T. S. Eliot, es gebe Momente, in denen man nur die Wahl zwischen Sektierertum und Ungläubigkeit habe – in denen man eine Religion nur am Leben erhalten könne, wenn man eine sektiererische Abspaltung von ihrem zentralen Leichnam vornehme. Das ist es, was wir heute tun müssen: Die einzige Möglichkeit, um die Populisten wirklich zu besiegen und das zu retten, was an der liberalen Demokratie erhaltenswert ist, besteht darin, eine sektiererische Abspaltung vom zentralen Leichnam der liberalen Demokratie vorzunehmen. Manchmal ist der einzige Weg zur Lösung eines Konflikts nicht die Suche nach einem Kompromiss, sondern die Radikalisierung der eigenen Position.
Um auf den offenen Brief der 30 Koryphäen zurückzukommen: Was sie sich nicht eingestehen wollten, ist die Tatsache, dass das Europa, dessen Verschwinden sie beklagten, bereits unwiederbringlich verloren ist. Die Bedrohung kommt nicht vom Populismus – der ist lediglich eine Reaktion auf die Unfähigkeit von Europas liberalem Establishment, dem emanzipatorischen Potenzial Europas treu zu bleiben, und er weist einen falschen Ausweg aus den Nöten der einfachen Menschen. Die einzige Methode, um den Populismus wirklich zu besiegen, liegt somit darin, das liberale Establishment selbst, seine reale Politik, einer rücksichtslosen Kritik zu unterziehen.
Diese kann durchaus unerwartete Wendungen nehmen: Braucht Europa zum Beispiel eine eigene Armee? Ja, und zwar mehr denn je.
Aber warum, wo wir doch alle wissen, dass die unerträglichste Ausrede für eine Beteiligung am Rüstungswettlauf lautet, angesichts der Bewaffnung unserer potenziellen Feinde bleibe uns zur Abschreckung und Wahrung des Friedens nichts anderes übrig, als uns ebenfalls auf einen Krieg vorzubereiten? Schon seit ungefähr zehn Jahren beschleunigt sich der Rüstungswettlauf zwischen drei Supermächten (den USA, Russland und China) in geradezu wahnwitziger Weise.
Die gesamte Arktis wird militarisiert, und Milliarden fließen in militärische Supercomputer und Biogenetik. Chinesische Militärzeitschriften diskutieren offen über die Notwendigkeit, dass sich China in einem echten Krieg bewähren müsse (während das russische Militär durch seinen Krieg in der Ukraine, Syrien usw., die amerikanischen Truppen in Irak auf die Probe gestellt werden und wurden, hat die chinesische Armee seit Jahrzehnten jeden echten Kampf vermieden).