„Wir sollten die digitale Infrastruktur als öffentliches Gut begreifen“
Interview mit
Adriana Groh
Adriana Groh reiste für das Vortragsprogramm der Bundesregierung nach Barcelona. Im Interview gibt sie Einblicke in den von ihr mitgegründeten Sovereign Tech Fund und erklärt, warum eine staatliche Förderung von Open-Source-Software wichtig ist.
ifa: Frau Groh, Sie sind Mitgründerin und Co-Leiterin des Sovereign Tech Fund, einer Organisation des Bundeswirtschaftsministeriums „zur Stärkung offener digitaler Infrastrukturen“. Was bedeutet das?
Adriana Groh: Was wir tun, kann man sich vorstellen wie die Sanierung von Straßen, Brücken und Autobahnen.
ifa: Wie meinen Sie das?
Groh: Wie bei der physischen Infrastruktur, also bei zum Beispiel Autobahnen, sind wir als Gesellschaft darauf angewiesen, dass die digitale Infrastruktur sicher ist und funktioniert. Daher sollten wir sie, als demokratische Gesellschaft im 21. Jahrhundert, als Teil der Daseinsvorsorge, als öffentliches Gut begreifen.
ifa: Was genau macht der Sovereign Tech Fund?
Groh: Wir investieren im öffentlichen Interesse in Software, die wichtig ist für unsere gesamte digitale Infrastruktur, für eine funktionierende Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Verwaltung. Konkret investieren wir in Software-Komponenten, die Entwickler:innen brauchen, um Software herzustellen, zum Beispiel Protokolle, Administrations-Werkzeuge und Bibliotheken für Programmiersprachen. Um bei dem Vergleich zu bleiben: Der Sovereign Tech Fund investiert vorrangig nicht in den Bau neuer Autobahnen, sondern in die Instandhaltung. Wir finanzieren also nicht die Entwicklung neuer Software, sondern die Pflege und Wartung von kritischer Open-Source-Software, weil genau das bislang vernachlässigt wird. Das Problem ist, dass diese Software für die meisten von uns im Alltag nicht sichtbar ist, solange sie funktioniert. Aber sobald Fehler auftreten, bekommen wir die Auswirkungen sehr schnell und direkt zu spüren, sei es, dass ich im Supermarkt nicht mit Karte bezahlen kann oder dass Server nicht erreichbar sind.
„Die ganze Welt läuft auf Open Source“
ifa: Open-Source-Software ist ursprünglich staatsfern entstanden, als Reaktion auf den traditionellen Ansatz der proprietären Softwareentwicklung, bei der der Quellcode nicht öffentlich gemacht wird und in der Regel Eigentum eines Unternehmens bleibt. Warum braucht es jetzt eine staatliche Förderung von Open Source?
Groh: Weil wir uns inzwischen in einem klassischen Allgemeingut-Dilemma befinden. Das hängt damit zusammen, wie sich das Internet und konkret das Open-Source-Ökosystem entwickelt hat. Das ist dezentral und bottom-up entstanden und gewachsen, einfach weil Menschen ihren Programmcode freiwillig zur Verfügung gestellt haben und dieser Code so gut war, dass er millionenfach nachgenutzt und verbaut wurde, auch in kommerzieller Software. Man kann eigentlich sagen, dass die ganze Welt inzwischen auf Open-Source-Software läuft. Alle moderne Software beruht auf quelloffenen Komponenten, sei es die Software im Auto, im Flugzeug, in der Kaffeemaschine, im Krankenhaus oder im Handy.
ifa: Man kennt das Betriebssystem Android, das auf Open-Source basiert. Auch Apples IOS Betriebssystem nutzt und baut auf viele Open-Source-Komponenten.
Groh: Genau. Aber dieses Open-Source-Ökosystem ist zunehmend fragil, weil die Zahl derer, die Open Source nutzen, seien es Einzelne oder Unternehmen, die Zahl und Ressourcen derjenigen übersteigt, die Open-Source-Software warten und pflegen. Das sind nämlich oft nicht mehr als eine Handvoll ehrenamtlicher Entwickler, die das in ihrer Freizeit tun. Und das kann zu Sicherheitsproblemen führen, wenn sich keiner zuständig fühlt oder alle davon ausgehen, dass sich jemand anderes um die Pflege und Wartung kümmert. Man erinnert sich vielleicht an die Sicherheitslücke der Open-Source-Komponente „Log4J“ im Dezember 2021, von der Milliarden von Anwendungen und Diensten auf der ganzen Welt betroffen waren.
Der Staat als dritter Akteur
ifa: Auch deutsche Behörden waren dadurch für Hacker angreifbar. Wäre es besser, wenn die digitale Infrastruktur ähnlich wie Straßen in öffentlicher Hand liegt?
Der Staat sollte als dritter Akteur auftreten und dafür sorgen, dass die digitale Infrastruktur sicher und transparent bleibt.
Groh: Nein, es geht nicht darum, die Open-Source-Community, die dezentral und bottom-up arbeitet, zu ersetzen. Es geht auch nicht darum, die Unternehmen, die bislang aus eigenem Interesse in Open-Source-Software investieren, aus der Verantwortung zu nehmen. Der Staat sollte aber als dritter Akteur auftreten und dafür sorgen, dass die digitale Infrastruktur sicher und transparent bleibt. Er sollte mit öffentlichen Mitteln konkret in kritische Infrastruktur-Technologien investieren, um zu verhindern, dass die digitale Infrastruktur irgendwann nur noch dem Interesse Einzelner dient.
ifa: Der Sovereign Tech Fund hat seit dem Start im Oktober 2022 ungefähr 40 Open-Source-Projekte mit insgesamt 15,3 Millionen Euro gefördert. Können Sie ein, zwei Beispiele nennen?
Groh: Eine Technologie, in die wir investiert haben, ist OpenMLS, das ist ein Standard zur Verschlüsselung von Gruppenkommunikation. Auch Log4j haben wir unterstützt. Ein anderes Beispiel ist die Programmiersprache „Fortran“, die von sehr vielen Klimawissenschaftler:innen genutzt wird, um Klimamodelle zu erstellen. Hier zeigt sich auch das öffentliche Interesse, denn wir brauchen diese Daten, um zu verstehen, wie wir auf den Klimawandel reagieren und gegensteuern können. Fortran ist zwar sehr veraltet und es braucht eine Weiterentwicklung und Verbesserung, aber solange es die nicht gibt, muss die Software weiter gewartet und gepflegt werden. Deshalb war es uns wichtig, diese Technologie zu fördern. Es gibt eine Alternative, die von Google entwickelt wird und auch gut funktioniert, aber wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass Google diese Programmiersprache auch künftig im öffentlichen Interesse bereithält. Redundanz ist bei Infrastruktur nichts Verkehrtes, im Gegenteil.
Vorteile von Open Source
ifa: Welche weiteren Vorteile bietet Open-Source im Vergleich zu proprietärer Software?
Groh: In Open-Source-Software ist theoretisch vieles angelegt, das uns wichtig sein sollte. Werte wie Transparenz und Nachhaltigkeit zum Beispiel. Bei Open-Source-Software ist der Quellcode im Gegensatz zur proprietären Software frei verfügbar und kann von beliebig vielen Menschen weltweit angepasst, geprüft und verbessert werden – und das oft in kürzerer Zeit, als es bei proprietärer Software der Fall ist. Open Source ist die erfolgreichste Softwaretaktik der Gegenwart, weil sie auf Offenheit und Kollaboration beruht und damit Innovation begünstigt, aber auch Nachnutzbarkeit und die Anpassung an eigene Bedürfnisse.
ifa: Gibt es in Europa weitere Förderprogramme oder ähnliche Initiativen zur Stärkung von Open-Source-Software im öffentlichen Interesse?
Groh: Als wir 2022 im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums eine Vorstudie zur Umsetzung des Sovereign Tech Funds durchgeführt haben, gab es kein einziges Programm, bei dem der Staat im öffentlichen Interesse gezielt in kritische offene Basistechnologien investiert. Insofern hat der Sovereign Tech Fund in Europa eine Vorreiterrolle.
ifa: In den USA gibt es den Open Technology Fund (OTF), der auch mit öffentlichen Geldern in Open-Source-Projekte investiert. War der OTF eine Art Vorbild für die Gründung des Sovereign Tech Funds?
Groh: Der Open Technology Fund ist anders gelagert. Dessen primäre Aufgabe ist es, Internetfreiheit zu fördern, also demokratische Werte in der Welt zu stärken und zu vertreten. Aber was die Gründung des Sovereign Tech Fund sicher beeinflusst hat, war Donald Trumps Drohung, den Open Technology Fund kurzzeitig zu schließen. Das haben wir in der Vorstudie als Argument für den Sovereign Tech Fund angeführt, weil es gezeigt hat, warum wir in Europa nicht davon abhängig sein sollten, dass eine andere Regierung mit Steuergeldern weltweit in Softwareinfrastruktur investiert.
Einzelne, Unternehmen und Regierungen sollten in der Lage sein, digitale Technologien und Systeme selbstbestimmt zu nutzen und aktiv zu gestalten. Eine offene digitale Infrastruktur ist die Grundlage dafür.
ifa: Das bringt uns zu einem Begriff, den der Sovereign Tech Fund im Namen trägt: Souveränität. Welches Verständnis von Souveränität liegt dem Sovereign Tech Fund zugrunde?
Groh: Wir verstehen Souveränität vor allem als Handlungsfähigkeit. Es geht uns nicht um Protektionismus oder um nationalstaatliche Souveränität, nicht um so etwas wie »Open Source made in Germany«. Das wäre unmöglich, weil Open Source auf Interdependenz, Offenheit und Kollaboration beruht. Diese Prinzipien sind die einzige Möglichkeit für echte gelebte Souveränität, alles andere ist eine Illusion, und das gilt nicht nur fürs Digitale. Einzelne, Unternehmen und Regierungen sollten in der Lage sein, digitale Technologien und Systeme selbstbestimmt zu nutzen und aktiv zu gestalten. Eine offene digitale Infrastruktur ist die Grundlage dafür. Es geht darum, Auswahlmöglichkeiten zu haben und so die Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.
Open-Source-Software und Diversität
ifa: Im November 2023 sind Sie für das Vortragsprogramm der Bundesregierung nach Barcelona gereist, um mit Vertreter:innen der spanischen Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung über Open Source und digitale Souveränität zu sprechen. Welche Fragen und Themen wurden in den Veranstaltungen diskutiert?
Groh: Es ging ganz allgemein um die Arbeit des Sovereign Tech Fund, aber auch um das Thema Diversität. Die Tech-Szene, auch der Bereich der Softwareinfrastruktur, ist noch immer zu wenig divers. Der vorherrschende Typus ist nach wie vor männlich, weiß, gut ausgebildet und zwischen 30 und 50 Jahren alt. Das ist eine Herausforderung, die man systemisch und strukturell angehen muss, denn grundsätzlich führen verschiedene Perspektiven zu besseren Ergebnissen. Um wieder auf den Vergleich zur physischen Infrastruktur zurückzukommen: Bei der Stadtentwicklung hat man in den letzten Jahren begriffen, dass die Gestaltung von öffentlichem Raum zu wenig aus der Perspektive von Frauen oder anderen unterrepräsentierten Gruppen gedacht wird. Wo ist es nachts dunkel? Welche Ecken sind mit einem Kinderwagen oder Rollstuhl erreichbar, welche nicht? Wie wir unsere Städte bauen, wie barrierefrei sie sind und wie gut sie funktionieren, entscheidet maßgeblich darüber, wie lebensfreundlich sie sind.
Software geht uns alle an.
ifa: Und das lässt sich auch auf die Entwicklung und Wartung von Software anwenden?
Groh: Ja, es ist wichtig, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen, denn Software geht uns alle an.
ifa: Wie setzt sich der Sovereign Tech Fund dafür ein? Spielt Diversität bei der Auswahl der geförderten Projekte eine Rolle?
Groh: Man muss das mit Fingerspitzengefühl angehen. Die meisten Menschen, die Softwareinfrastruktur im öffentlichen Interesse pflegen und warten, machen das freiwillig, mit viel Herzblut und Eigeninitiative. Denen kann und will man nicht sagen, leider habt ihr keine Frau im Team, deswegen bekommt ihr keine Förderung. Aber man kann und muss das Problem anerkennen, analysieren und darauf hinarbeiten, dass es sich ändert. Das ist unser Ansatz. Wir planen derzeit Fellowships und Trainings für Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen wie Frauen und Menschen anderer Geschlechter und auch für Quereinsteiger, denn grundsätzlich gibt es zu wenig Arbeitskräfte in diesem Bereich.
ifa: Wie war Ihr persönlicher Weg in die Tech-Branche?
Groh: Ich habe ursprünglich Public Policy und Democratic Innovations in Maastricht studiert und mich hat es immer frustriert, dass man unter Digitalisierung hauptsächlich eGovernment verstanden hat. Das hieß leider oft, dass schlechte Prozesse in schlechte digitale Prozesse überführt wurden, anstatt zu fragen, wie man Prozesse mit neuen, digitalen Möglichkeiten optimieren kann. Nach meinem Studium habe ich dann eine Chat-App zur Bundestagswahl 2017 mitentwickelt, die es Bundestagsabgeordneten ermöglichte, direkt mit Wähler:innen zu kommunizieren. Das war mein Einstieg in die Software-Szene. Grundsätzlich interessieren mich Hebel für Transformation und da sehe ich in offenen digitalen Technologien großes Potenzial.
Das Interview führte Juliane Pfordte
Über Adriana Groh
Adriana Groh
Mitbegründerin des Sovereign Tech Fund
Adriana Groh ist Mitbegründerin des Sovereign Tech Fund. Zuvor baute sie ein Projekt zu digitaler Souveränität, Partizipation und Data Commons am The New Institute in Hamburg auf und war Direktorin des Prototype Fund, eines Innovationsfonds der Open Knowledge Foundation und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Vortragsprogramm der Bundesregierung
Expert:innen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien informieren in Vorträgen und Podiumsdiskussionen aktuell und vielschichtig über Deutschland. Das ifa organisiert das Vortragsprogramm der Bundesregierung zusammen mit den deutschen Botschaften und Konsulaten im Ausland. Es richtet sich an Multiplikator:innen der Zivilgesellschaft in diesen Ländern. Weitere Informationen auf der Website des ifa.