Herr Botschafter, Sie sind seit Juli 2020 in Haiti stationiert, in einem der ärmsten Länder der Welt, das immer wieder von schweren Naturkatastrophen erschüttert wird. Wie war Ihr persönlicher Eindruck, als Sie dem Land zum ersten Mal begegnet sind?
Jens Kraus-Massé: Ich war im Januar 2020 das erste Mal in Haiti, anlässlich des Jazzfestivals in Port-au-Prince, an dem sich Deutschland seit 15 Jahren beteiligt. Haiti ist ein sehr ungewöhnliches Land. Auch der Weg vom Flughafen zur Botschaft war für mich ungewöhnlich, nicht zuletzt, weil es sich um ein gepanzertes Fahrzeug mit Bodyguard handelte. Es sind eigentlich nur sieben Kilometer, aber durch die Berge braucht man eine gute Stunde. Es geht über enge, verschlungene Straßen, vorbei an mit Wellblech gedeckten Häusern und eindrucksvollen Villen, an kleinen Hainen und riesigen Müllhalden, auf denen Ziegen spielen.
Ein Jahr nach Ihrem Amtsantritt wurde der damalige Staatspräsident Jovenel Moïse ermordet. Schon zuvor war es monatelang zu gewaltsamen Protesten gekommen. Moïse hatte per Dekret regiert, Präsidenten- und Parlamentswahlen waren mehrfach verschoben worden. Wie ist die politische Situation aktuell?
Jens Kraus-Massé: Haiti verfügt über keine funktionierenden staatlichen Institutionen mehr. Es gibt weder ein beschlussfähiges Parlament noch einen Präsidenten oder einen funktionierenden Obersten Gerichtshof, weil es an Richtern fehlt. Straflosigkeit ist ein großes Problem. Es gibt eine Übergangsregierung, aber diese verfügt über wenig verfassungsrechtliche Legitimität. Außerdem gibt es keine Wahlkommission, die Wahlen organisieren könnte. Seit Monaten wird darüber gestritten, wie sie besetzt werden soll. Und ein Verfassungsgericht, das in der Verfassung von 1987 verankert ist, wurde nie errichtet.
Die diplomatische Quadratur des Kreises
Wie muss man sich Ihre Arbeit als Botschafter unter diesen Bedingungen vorstellen?
Jens Kraus-Massé: Wir sind täglich im Gespräch mit Vertretern der Übergangsregierung. Unser Ziel ist, so schnell wie möglich Wahlen zu erreichen, auf Basis eines von Haitianern geleiteten Prozesses. Das ist aber nicht ganz einfach, schon allein aufgrund der Sicherheitslage. Es gibt eine starke Gangkriminalität. Haiti war 2021 das Land mit den meisten Entführungen weltweit. Und diese können unterschiedslos jeden treffen, von der kleinen Marktfrau bis hin zum Großunternehmer oder Politiker. Die Bewegungsfreiheit im Land ist demzufolge stark eingeschränkt.
Nach der fast 30-jährigen Diktatur der Duvaliers fanden 1986 freie Wahlen statt. Auch eine neue Verfassung wurde per Referendum verabschiedet und damit die Grundlage für ein demokratisches System gelegt. Warum ist es seitdem nicht gelungen, einen Rechtsstaat zu etablieren?
Sie müssen sich vorstellen, dass die Polizisten schlechter bewaffnet sind als die Kriminellen, die wiederum ganze Stadtteile kontrollieren.
Rechtsstaatlichkeit zu fördern und das Land politisch zu stabilisieren, sind Ziele der aktuellen UN-Mission BINUH*, an der sich Deutschland mit fünf Polizist:innen zur Ausbildung und Beratung der haitianischen Polizei beteiligt. Wie schätzen Sie den bisherigen Erfolg dieser Mission ein?
Jens Kraus-Massé: Es ist richtig, dass das Bundeskabinett die Entsendung der Polizeibeamt:innen beschlossen hat, aber bislang ist das leider nicht erfolgt. Den haitianischen Verantwortlichen ist es bisher nicht gelungen, Ausbildungs- und Beratungsbedarfe zu definieren. Die Polizei ist weder materiell noch personell ausreichend ausgestattet, um die Bedarfe überhaupt festzustellen. Die Beanspruchung ist einfach enorm. Sie müssen sich vorstellen, dass die Polizisten schlechter bewaffnet sind als die Kriminellen, die wiederum ganze Stadtteile kontrollieren. Und zur Bearbeitung von Entführungen stehen weniger Beamte zur Verfügung als Personen, die entführt sind.
Was unternimmt die Bundesregierung darüber hinaus, um Haiti beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen zu unterstützen?
Jens Kraus-Massé: Unser Interesse liegt darin, die sehr stark durch die politischen Rahmenbedingungen des Landes geprägte Gedankenstruktur aufzubrechen. Das machen wir zum Beispiel mit einer Veranstaltungsreihe zum Thema Rechtsstaatlichkeit, die wir im Februar 2021 im Rahmen des Vortragsprogramms der Bundesregierung erstmals durchführen konnten. Die Resonanz war enorm. Mehr als 30.000 Menschen haben sich die Veranstaltung angesehen, was bei einem Land mit elf Millionen Menschen beachtlich ist. Es ging um die Frage, wie rechtsstaatliche Strukturen nach Diktaturen aufgebaut werden können. Wir haben das am Beispiel der der deutschen Erfahrungen nach dem Ende der NS-Diktatur und der DDR diskutiert. In Haiti wurde zwar nach der Diktatur eine Verfassung geschaffen, aber sie ist den Strukturen des Landes nicht angemessen, unter anderem weil wichtige Faktoren wie Staatsvertrauen und parlamentarische Erfahrung fehlen.
Die Online-Diskussion richtete sich hauptsächlich an ein intellektuelles Publikum. Was können Veranstaltungen wie diese bewirken?
Jens Kraus-Massé: Sie können vor allem Denkanstöße geben und neue Perspektiven für Lösungen eröffnen, die bis jetzt vielleicht noch nicht bedacht wurden. In diesem Sinne ist es wichtig, dass es sie gibt, weil sie einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung leisten, den Dialog mit der Zivilgesellschaft stärken und die Menschen einbeziehen, die in irgendeiner Weise über ihr Land nachdenken.
Sie haben den Dialog mit der Zivilgesellschaft angesprochen. Was sind die Hoffnungen und Wünsche der haitianischen Zivilgesellschaft?
Jens Kraus-Massé: Zunächst einmal ist der Begriff in Haiti eher schwammig, weil im Prinzip jeder dazu gehört, der sich als Teil dessen erklärt, auch wenn er gestern noch Minister war. Im Wesentlichen ist die Zivilgesellschaft ein Teil der Elite, was auch daran liegt, dass Bildung in Haiti eine Frage des Geldbeutels ist. Es gibt einerseits die wenigen Graswurzelbewegungen, die sich eine eher dezentral organisierte Gesellschaft und Entscheidungen näher am Menschen wünschen, weniger Diskussionen über die große Politik. Die politisierte Zivilgesellschaft hingegen möchte funktionierende Strukturen schaffen und die Korruption bekämpfen. Letzteres ist sicherlich eine sehr große Herausforderung, denn der Drang, an die Fleischtöpfe des Staates zu gelangen – und damit an die Möglichkeit, durch Entscheidungen korrupt Mittel zu erlangen –, ist groß, und zwar auf allen Ebenen.
Korruption ist auch einer der Gründe, weshalb der Wiederaufbau nach dem schweren Erdbeben 2010 eher schleppend vorangekommen ist – trotz Spendengeldern in Milliardenhöhe. Kritik richtet sich aber auch gegen die internationale Gemeinschaft. Ihr wird vorgeworfen, die korrupten Strukturen mitfinanziert und eine Art Staat im Staate aufgebaut zu haben.