ifa: Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius schlug nach seiner Griechenlandreise im November 2019 vor, unbegleitete Minderjährige nach Deutschland zu holen. Die Bundesregierung lehnte einen deutschen Alleingang ab, mit der Begründung, es könne in der Verhandlung um ein neues europäisches Asylsystem falsche Signale senden. Wie sollte sich Deutschland hier positionieren?
Bendel: Es gibt ja nicht nur in Deutschland, sondern europaweit große Netzwerke und Initiativen engagierter Kommunen, die willens sind, freiwillig mehr Geflüchtete aufzunehmen. Diese Städte und Gemeinden könnten durch europäische Fonds und eine direktere Mitsprache bei der Verteilung unterstützt werden. Die Bundesregierung sollte die Gesetze in Deutschland dementsprechend ändern und begreifen, dass die Bereitschaft der Kommunen eine Chance ist und kein Risiko.
Obwohl Skaramangas nicht so überlastet ist wie die Lager auf den Inseln, ist die Situation doch aussichtslos. […] Dort wächst eine verlorene Generation heran.
Insgesamt braucht es in Europa für die Aufnahme von Geflüchteten eine Koalition der Willigen. Zu dieser hat sich Deutschland ja bekannt, zumindest, was die aus Seenot Geretteten betrifft. Nichtsdestotrotz brauchen wir eine Reform des europäischen Asylsystems. Das war auch in den Gesprächen vor Ort immer wieder Thema.
ifa: Im Juli dieses Jahres übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Was erwarten Sie von der Bundesregierung im Bereich Migrationspolitik?
Bendel: Die EU-Ratspräsidentschaft ist eine Riesenchance für Deutschland, sich in den Verhandlungen um ein neues EU-Asylsystem als Vermittler zu positionieren. Und wir werden durchaus als ehrlicher Mittler wahrgenommen, gerade weil wir mit unserer Politik der letzten Jahre glaubwürdig sind.
Der SVR kann sich auch ein variables Modell vorstellen, in dem die Aufgaben Grenzsicherung, Entwicklungskooperation sowie Aufnahme und Integration von Geflüchteten auf verschiedene Mitgliedstaaten verteilt werden. Als größter Geber von Entwicklungshilfe in der EU käme Deutschland die Aufgabe der Entwicklungskooperation zu. Und natürlich der Integration, denn wir haben gezeigt, dass wir das können.
ifa: Was genau bedeutet Integration für Sie?
Bendel: Integration ist eine Aufgabe für alle. Sie bezieht sich nie nur auf Eingewanderte oder auf Menschen mit Migrationshintergrund. Integration ist die möglichst chancengleiche Teilhabe aller an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Es ist aber auch ein dauerhafter Prozess, der nie Ergebnisgarantie sein kann. Das hat der Gründungsvorsitzende des SVR, Klaus Bade, einmal sehr schön formuliert: "Integration ist eine Ermöglichungsstrategie". Sie hat zum Ziel, allen hier lebenden Menschen die Möglichkeit zu geben, sich mit ihren Begabungen und Kompetenzen durch die Mobilisierung ihrer Fähigkeiten einzubringen – auch mit ihren Träumen von einem besseren Leben.
Die EU-Ratspräsidentschaft ist eine Riesenchance für Deutschland, sich in den Verhandlungen um ein neues EU-Asylsystem als Vermittler zu positionieren.