Illustration: Eine Gruppe von Lebewesen in einem Rahmen, darunter steht das Wort "Wir"

"Das gemeinsame kulturelle Leben zelebrieren"

Vor 60 Jahren schloss die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Noch immer fehlt in der offiziellen Erinnerung die Perspektive der sogenannten Gastarbeiter:innen. Literaturwissenschaftlerin Nesrin Tanç spricht über Ursachen und Empfehlungen.

ifa (Institut für Auslandsbeziehungen): Sie haben sich für das ifa-Forschungsprogramm mit der Erinnerung an die "Gastarbeiter:innen" aus der Türkei in Deutschland beschäftigt. Die Studie trägt den Titel "Ne Kaldi?", was auf Deutsch so viel heißt wie: "Was ist (übrig) geblieben?" Wie würden Sie diese Frage beantworten?
 

Brautpaar umringt von Menschen
Eine türkische Familie feierte am 28. Juni 1986 eine "Großhochzeit zur Völkerverständigung". Alle interessierten Bürger:innen waren zur Hochzeitsfeier geladen, © picture alliance/Franz-Peter Tschauner

Nesrin Tanç: Einerseits haben wir heute eine divers geprägte Gesellschaft, Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden. Geblieben sind aber auch die Kontroversen, vor allem zu innen- und außenpolitischen Fragen. Denken wir an das sogenannte EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei oder die türkische Diasporapolitik, die immer wieder zu polarisierenden, massenmedial beförderten Bildern und heftigen Bewegungen in der Bevölkerung führen. Geblieben sind aber natürlich auch die menschlichen Verbindungen innerhalb der Erinnerungsgemeinschaft, ihre Rituale und Narrative, zum Beispiel die Entwicklung Deutschlands zum Einwanderungsland als erste große muslimische Gemeinschaft mitgestaltet zu haben.

Das Gemeinsame in den Vordergrund stellen

ifa: Laut Ihrer Studie spielen diese Narrative in der deutschen Erinnerungskultur und in der kulturellen Praxis und Forschung bislang kaum eine Rolle. Woran liegt das?

Tanç: Das hat vor allem integrationspolitische Gründe. Wir haben es versäumt, eine Integrationspolitik gezielt zu den sogenannten Gastarbeiter:innen aus der Türkei zu betreiben – und zwar auf der Ebene der Kultur- und Bildungspolitik. Diese Integration müssen wir nun fördern. Das Problem ist aber, dass die zweite und dritte Generation der sogenannten Gastarbeiter:innen jetzt, 60 Jahre später, nicht mehr von Integration sprechen möchte – zu Recht, denn sie sind längst Teil der Gesellschaft. Wir müssen den Integrationsbegriff aufgeben und stattdessen das Gemeinsame in den Vordergrund stellen. Und dazu gehört die kulturelle Verwobenheit, die mit dem Anwerbeabkommen und der damit verbundenen Migration vor 60 Jahren ausgelöst wurde. 

Eine Anerkennungsstrategie ist notwendig

ifa: Sie sprechen in der Studie von mangelnder Expertise als einer der Gründe für die bislang fehlende Perspektive. Können Sie das erläutern?

Tanç: In den Kulturinstitutionen, also in Museen, Archiven und Theatern, aber auch in Bildungs- und Weiterbildungseinrichtungen, mangelt es an mehrsprachigem Personal. Nehmen wir beispielsweise die Literatur der Einwander:innen aus der Türkei, die bis heute nicht, oder nur teilweise, ins Deutsche übersetzt wurde. Es fehlt aber auch an Materialien, Formaten und Strategien, die Narrative der Erinnerungsgemeinschaft zu vermitteln. Und genau dort spielt die Forschung eine wichtige Rolle. Es gibt in Deutschland bis heute nur einen einzigen Studiengang, der sich mit der Kultur und Literatur der Türkei beschäftigt. Daher fordert die Studie, geisteswissenschaftliche Zentren in Deutschland zu etablieren, die sich sowohl mit der Türkei als auch mit dem kulturellen Leben der sogenannten Gastarbeiter:innen aus der Türkei in Deutschland beschäftigen. Dazu gehören Vernetzungs- und Koordinierungsstellen, um die Ergebnisse der Forschung in die Praxis zu übersetzen. Das wäre Teil einer Anerkennungsstrategie, die wir dringend benötigen.

Foto von Nesrin Tanç
Nesrin Tanç, © Fatih Kurçeren
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, seine Frau Elke Büdenbender, Atila Karabörklü und Robert Fuchs vor einen Exponat.
Beim Festakt zum 60-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei erhielten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l) und seine Frau Elke Büdenbender (2.v.l.) von Atila Karabörklü und Robert Fuchs (r) eine Führung im Haus der Kulturen der Welt durch die DOMiD-Ausstellung, © picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

ifa: In verschiedenen deutschen Städten sind Denkmäler für Gastarbeiter:innen und Einwanderung im Gespräch, erst vor Kurzem würdigte die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel die "Lebensleistung der sogenannten Gastarbeiter:innen" mit einem Festakt. Sind das weitere, richtige Schritte auf dem Weg zu einer Anerkennungsstrategie?

Tanç: Es sind wichtige Schritte, aber dieses Engagement darf nicht aufhören. Ich sehe derzeit ein großes "Feuerwerk" an Veranstaltungen, Festakten und Programmen, aber ich sehe leider auch ein Ende. Das Zelebrieren der gemeinsamen Werte und des gemeinsamen kulturellen Lebens darf nicht nur alle Jubeljahre stattfinden – es muss verstetigt werden! Außerdem müssen die Erinnerungsgemeinschaft und die lokalen erinnerungskulturellen Player viel stärker in die Programme und Veranstaltungen einbezogen werden. Dazu zählen auch die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich infolge der NSU-Morde und der Anschläge wie in Solingen, Mölln usw. gebildet haben. Ihnen müssen ebenso Erinnerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zugeteilt werden. Was wir brauchen, sind dezentrale Erinnerungsorte und Diskursräume, die es uns ermöglichen, das kulturelle Leben hier und in der Türkei stetig zu gestalten, zu reflektieren – und zwar außerhalb von Integrations- und Sicherheitsfragen und über Denkmäler hinaus.

Das Zelebrieren der gemeinsamen Werte und des gemeinsamen kulturellen Lebens darf nicht nur alle Jubeljahre stattfinden – es muss verstetigt werden!

ifa: Eine Ihrer Empfehlungen für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) lautet, zivilgesellschaftliche Akteur:innen in Deutschland und in der Türkei zu stärken. Wie kann das konkret aussehen? 

Tanç: Im Rahmen der Anerkennungsstrategie muss das außenpolitische Handlungsfeld eng mit der Bildung von Erinnerungskulturen und Kulturpraktiken in Deutschland verbunden werden. Dazu braucht es die bereits erwähnten festen erinnerungskulturellen Zentren, die die Vernetzung und Koordinierung von Akteur:innen aus Wissenschaft und Kultur mit Orten der auswärtigen Kultur gewährleisten können. Aber auch in den bereits bestehenden Orten der AKBP in der Türkei müssen Programme und Veranstaltungsreihen geschaffen werden, die sich regelmäßig mit der Erinnerungskultur der sogenannten Gastarbeiter:innen beschäftigen – und zwar in Kooperation mit dortigen zivilgesellschaftlichen Playern. Dazu gehört beispielsweise die Stiftung des inhaftierten Kulturschaffenden und Aktivisten Osman Kavala, "Anadolu Kültür", die sich seit fast 20 Jahren für Menschenrechte und die Verständigung zwischen Europa und der Türkei einsetzt. Dieser zivilgesellschaftliche Dialog darf nicht abreißen. 


Interview von Juliane Pfordte

Über Nesrin Tanç
Portrait von Nesrin Tanç
Nesrin Tanç
Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, Beraterin, Kuratorin, Autorin

Nesrin Tanç arbeitet als freiberufliche Kultur- und Literaturwissenschaftlerin u.a. für das Kultursekretariat NRW, als Beraterin für öffentliche Kulturinstitutionen im Bereich Diversität und Öffnung, als Kuratorin, Dozentin und Autorin. Sie promovierte am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen zum Thema des kulturellen und literarischen Erbes der Immigrantinnen und Immigranten aus der Türkei im Ruhrgebiet. Ihre Forschung konzentriert sich auf das Thema Kultur und Literatur der Einwanderungsgesellschaft. Sie ist Mitbegründerin des Vereins Kunst- und Kulturwissenschaften Duisburg (KuKstDu e.V.).

Forschungsprogramme

Im Forschungsprogramm "Kultur und Außenpolitik" und der Programmlinie "Forschung" der Martin Roth-Initiative untersuchen Expert:innen aktuelle Fragestellungen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Die Forschungsprogramme setzen Themen und erarbeiten Empfehlungen, um die internationalen Kulturbeziehungen zu stärken und weiterzuentwickeln. Begleitet werden die Forschungsaufträge durch Konferenzen und Workshops. Die Forschungsergebnisse werden in der ifa-Edition Kultur und Außenpolitik, als ifa-Input oder als Policy Brief veröffentlicht.
Weitere Informationen auf der Website des ifa.