Illustration: zwei Fingerspitzen berühren sich, im Hintergrund ist eine Weltkugel zu sehen.

Erweiterter Kommunika­tionsraum

Sport ist sehr viel einfacher und selbstverständlicher „grenzenlos" als andere gesellschaftliche Aktivitäten. Großereignisse im internationalen Fußball, Basketball, Tennis, im Golfsport und Triathlon illustrieren das Phänomen der Entgrenzung hervorragend.

Auch wenn es in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise einen gegenläufigen Trend gibt: Nationalstaatliche Grenzen haben in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren, oder besser – ihren Charakter verändert. Mit der Entgrenzung wird der Nationalstaat als oberste Analyse-Einheit modernen politischen Denkens und Handelns in Frage gestellt.

Erforderlich werden zusätzliche Mechanismen politischer Steuerung, die als transnationales Regieren (oder global governance) bezeichnet werden. Selbst wer sich nie als Ferntourist oder Geschäftsreisender bewegt, ist als Fernsehzuschauer, etwa bei einem Sportgroßereignis, als Internetnutzer oder als Mitarbeiter an seinem Arbeitsplatz in einem Maß an die Welt angeschlossen, wie dies historisch für so viele Menschen noch nie der Fall war. 

Ein junger Mann hält ein Schild mit der Aufschrift "Black Lives Matter" während der jährlichen CSD Pride Parade in Köln am 20. Juli 2022, an der in diesem Jahr eine Million Menschen teilnehmen.
Auch kulturelle Gemeinschaften wandern um den Globus, Foto: Nur Photo / Ying Tang, picture alliance.

Eine Konsequenz der Entgrenzung besteht darin, dass nationale Kulturen nicht (mehr) unbestritten den Ausgangspunkt und substanziellen Kern politischer Wir-Gefühle bilden, auf denen die kollektive Identität der meisten Nationen beruhte. Kulturelle Misch- und Zwittergebilde (oder Hybride) werden im globalen Rahmen bedeutsamer, und es entstehen unerwartete und neuartige Phänomene in transnationalen Zwischenräumen.

Auch Unternehmen haben keine scharf gezogenen Grenzen mehr; sie ähneln, bildlich gesprochen, Magnetfeldern oder Wolken, für die unscharfe und flüchtige Grenzen charakteristisch sind. Transnationale Konzerne sind entstanden, also Unternehmenskonglomerate, die effektiv in mehreren Staaten gleichzeitig tätig sind, was über den seit Langem üblichen Verkehr zwischen Mutterhäusern und Auslandsfilialen hinausreicht. Das Transnationale an solchen Verflechtungen ist nicht der seit Langem übliche zwischenstaatliche oder internationale Geschäftsverkehr; vielmehr ist ein von nationalen Rücksichten freier Geschäfts- und Kulturraum entstanden, in dem Nationalität als Staatsangehörigkeit an Bedeutung verliert. Das Bezugssystem für solche Operationen ist heute definitiv die Weltgesellschaft, auch wenn Mobilität im heutigen Weltmarkt noch weniger verbreitet ist, als dies der Wirtschaft der Gesellschaft theoretisch möglich wäre. Globalisierung ist also nicht beschränkt auf Unternehmensfusionen, Internet-Kommunikation und Finanztransaktionen. Auch kulturelle Gemeinschaften wandern um den Globus, und sie tun dies nicht nur in der organisations- und Apparat-gestützten Weise großer Unternehmen, sondern vor allem als dezentrale Bewegungen – als eine inoffizielle und heterodoxe, sich selbst begründende Zivilgesellschaft.

Kulturen ziehen Grenzen, die andere Systeme wie die Wirtschaft ignorieren oder niederreißen; zugleich erlauben sie eine Kommunikation, die zwischen den Systemen von Wirtschaft, Moral usw. nicht stattfindet.

Interkulturelle Kommunikation erschließt neue Kommunikationsräume, und eben daraus kann sich neue Kultur entwickeln.

In dem Maße, wie sich die Welt-Erfahrung der Menschen entgrenzt und ihre Selbst-Erfahrung „globalisiert“, findet auch eine Entgrenzung der Öffentlichkeit statt. Als Öffentlichkeit bezeichnen wir alles, was weder geheim noch privat ist, konkret: einen tatsächlichen oder auch nur gedachten Ort, der prinzipiell allen offensteht und an welchem die „res publica“, die alle interessierenden Angelegenheiten, besprochen und womöglich auch entschieden werden. Politische Öffentlichkeiten waren lange und sind heute oft noch auf einen nationalen oder regionalen Kommunikationsraum begrenzt, auch wenn Nachrichten aus fernen Ländern und fremden Erdteilen seit Jahrhunderten eine besondere Bedeutung beigemessen wird. So kann man auch bereits seit Langem von transnationalen Medienereignissen sprechen, vorbildlich in der Kommunikation eines welterschütternden Erdbebens wie in Lissabon 1755 und in San Francisco 1906. Aber zugleich war die Herausbildung nationalstaatlicher Einheiten das Ergebnis einer erfolgreichen Bündelung und Zuspitzung von Kommunikation auf eine bestimmte, nämlich sprachlich und kulturell vermittelte Einheit, die eine wirksame Distanz und Hierarchie zwischen der eigenen Nation und fremden Nationen herstellte.

 

Transnationale Medienereignisse

In diesem Sinne kann man die Weltgesellschaft nun zusammenfassend als einen erweiterten Kommunikationsraum bestimmen und die schon auf verschiedenen Ebenen, etwa Nation, Umwelt, Politik und Wirtschaft, thematisierte Entgrenzung im Kern als eine Folge der Erweiterung von Information und Kommunikation ansehen.

Die Regionen und Völker der Weltgesellschaft haben sich vor allem durch Kommunikation „entdeckt“, und heute ist, nicht nur in den reichen Ländern, über Postverkehr und Telefonnetze, Satellitenfernsehen und Internet eine „Interkonnektivität“ erreicht wie nie zuvor.

Und es finden transnationale Medienereignisse statt: Maßstäbe dafür bilden Fußball-Weltmeisterschaften und Live-Konzerte, Fernseh-Kriege wie seit 1991 am Golf, später in Jugoslawien oder Afghanistan und Zeremonien wie das Begräbnis von Lady Diana oder Papst Johannes Paul II. Sie haben dem Phänomen „Weltöffentlichkeit“, das sich früher nur schemenhaft ausgeprägt hatte, eine präzisere Gestalt verliehen, nämlich als eine „Gemeinschaft der Völker“ und virtuelles „Weltgewissen“, aber auch als globale Spielwiese und Unterhaltungsarena. Zum Universalismus der Menschenrechte trat die nachkoloniale Forderung, kulturelle Sonderwege zu respektieren und eben dieses Recht auf Differenz selbst universal zu verankern, wodurch in der heutigen Weltgesellschaft auch Verschiedenheit als Universalie anerkannt ist. Befördert, wenn auch gelegentlich manipuliert, werden solche Ansprüche durch eine elektronische Medienöffentlichkeit, die sich thematisch wie von ihrer Reichweite her global erweitert hat. Elektronische und digitale Medien erlauben Reisen durch Zeit und Raum, ohne dass wir, die Zuschauer und Zuhörer, unseren jeweiligen Standort, sagen wir: die Fernsehcouch, überhaupt noch verlassen müssen. Dabei geht es nicht vornehmlich um die Berichterstattung über Ereignisse, die metaphorisch „alle Welt“ interessieren; spezialisierte Sender wie CNN können über die Inszenierung von „Großereignissen“ buchstäblich die ganze Welt in den Bann schlagen, und die Einschaltquote ist der globale Indikator für Medienaufmerksamkeit.

Medien mit globaler Reichweite werden damit nicht gerade zu Hütern einer universal gültigen Moral, sie integrieren aber die Weltgesellschaft, indem sie kulturelle Differenzen und Standards zum Thema machen. Mit dieser Irritation schaffen sie die Grundlage für einen bescheidenen, stets fragilen Kosmopolitismus, der eine früher kaum mögliche Solidarität mit Fremden erlaubt.

Das alles bedeutet: Erstens hat sich, quer zur herkömmlichen Differenzierung der Weltgesellschaft nach Funktionsbereichen, kulturelle Fragmentierung eingestellt. Zweitens entterritorialisieren und virtualisieren sich soziale Räume, so dass man weniger denn je die Deckungsgleichheit von kulturellen Gemeinschaften mit Staatsgrenzen unterstellen kann. Drittens bilden sich transnationale Gemeinschaften und Identitäten durch Nationen und Nationalstaaten hindurch. Die Diversifikation sozialer Zugehörigkeiten stellt den Nationalstaat als Leitlinie kollektiven Handelns wie als politisches Leitmotiv in Frage. 

 

War die Nation seit dem 19. Jahrhundert, in Verbindung mit dem bürokratischen Anstaltsstaat und demokratischer Repräsentation, auch ein Fixpunkt personaler Identität und eine Bedingung sozialer Zugehörigkeit, entstehen heute flexible Formen von Zugehörigkeit und Gemeinschaft, welche die Repräsentativität und Legitimität demokratischer Herrschaft herausfordern.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund können wir nun die spezifischen Beiträge des Sportsystems zum Prozess der Entgrenzung ins Auge fassen. Sport ist sehr viel einfacher und selbstverständlicher „grenzenlos“ als andere gesellschaftliche Aktivitäten. Die Spiele der „Top 20“ im internationalen Fußball- oder Basketballgeschäft, auch Großereignisse im Tennis und im Golfsport, im Eishockey und im Baseball, beim Segeln, Rugby und Triathlon können das Phänomen der Entgrenzung hervorragend illustrieren. 

Ein Fußball fliegt in die untere linke Hälfte eines Fußballtors. Der Fußball ist durch die Bewegung verschwommen.
Sport ist sehr viel einfacher und selbstverständlicher "grenzenlos" als andere gesellschaftliche Aktivitäten, Foto: Aflo, picture alliance.

In Deutschland etwa gibt es die Aufteilung der Identifikation der deutschen Bevölkerung einerseits auf die Nationalmannschaft, andererseits auf transnational zusammengesetzte Vereinsmannschaften. Durch die Freizügigkeit auf dem Spielermarkt dominieren in europäischen Spitzenteams längst ausländische, oft auch farbige Spieler aus sämtlichen Regionen der „Dritten Welt“. Das ist eine Entwicklung, die sich mittlerweile beim Trainer-Personal wiederholt: Europäische Spitzentrainer führen nichteuropäische Nationalmannschaften zur Weltspitze, ausländische Trainer werden für nationale Vereinsmannschaften verpflichtet.

Nicht nur zwischen den Top 20 besteht eine intensive Spielerzirkulation. Einige Beispiele von deutschen Teams der letzten Jahre sind der „kleine Grenzverkehr“ des Gelsenkirchener Vereins Schalke mit Belgien und Holland, in Nürnberg mit slowakischen Spielern, in Rostock mit Teams aus Schweden und bei Bayern München mit den „Red Bulls“ Salzburg. Ein anderes ist die „Entwicklungshilfe“ alternder Stars in den USA Ende der 1970er Jahre, in Japan in den 1990ern und heute in Katar. Spektakuläre Vereinswechsel von Topspielern können weltweites und wochenlanges Medieninteresse beanspruchen, und die Zentrifugalwirkung dieser Rotation ist noch bis in die dritten Ligen hinein spürbar. Die Sache hat allerdings einen Haken: Nationalmannschaften fehlt es dadurch an Rekrutierungsmöglichkeiten unter talentiertem Nachwuchs, sofern die ausländischen Spieler nicht eingebürgert werden und für die Nationalelf spielberechtigt sind. Diese, nennen wir es „Kreolisierung“, mindert den auf Fußballvereine projizierten Lokalpatriotismus nicht, allerdings sind auch Klagen der Fans zu hören über eine „squadra globalizzata“, wie die italienische Tageszeitung „La Repubblica“ das Legionär-Team von Inter Mailand schon einmal bezeichnet hat, als keine aus der heimischen Lombardei stammende Spielerpersönlichkeit noch als Identifikationsfigur in Betracht kam.

 

Kreolisierung der Nationalmannschaften

Das lange sportlich wie performativ dominierende Starteam von Real Madrid gab dagegen vor Jahren die Losung „Zidanes y Pavones“ aus, das bedeutet: den identifikationsfreudigeren Mix aus Weltenbummlern (wie dem damaligen Spieler Zinedine Zidane) und hauseigenem Nachwuchs (wie Francisco Pavon). Ähnlich praktizierte dies der Rivale Manchester United, während Borussia Dortmund, wirtschaftlichen Sparzwängen gehorchend, wieder vornehmlich auf heimische Youngsters setzte – übrigens sehr zur Freude des Anhangs im Stadion Rote Erde, das auch schon lange nicht mehr so heißt. Die mit internationalen Stars aufwartenden Teams erwecken den Anschein transnationaler Großunternehmen, was insbesondere ihre Umsätze belegen sollen. Freilich bleiben Performanz und Seriosität der Fußballkonzerne, die einen Großteil ihrer Einnahmen nicht mehr aus dem unmittelbaren Spielbetrieb beziehen, weit hinter Anspruch und Erwartung zurück. Die aus dem Ruder gelaufene Verschuldung vieler Profiklubs in Italien und Spanien, aber auch in Deutschland belegt dies; oft wird dann, wie im Fall des Berliner Klubs Hertha BSC eine (in diesem Fall auch noch klamme) Stadt um finanzielle und moralische Unterstützung gebeten.

Diese Zuflucht beim Interventionsstaat ist interessant, denn aus systematischen Gründen verbietet sich ja eine Firmenfusion nach US-amerikanischem Muster, indem sich etwa eine potente Spitzenmannschaft wie Bayern München eine zweite „Hauptstadtmannschaft“ leisten könnte oder beispielsweise der AC Milan die feindliche Übernahme des Stadtrivalen Internazionale in Betracht zieht. Leitlinie der europäischen Sportpolitik bleibt, den Wettbewerb zwischen bestehenden Teams aufrechtzuerhalten und das Gesamttableau durch Auf- und Abstieg der Mannschaften zu bewegen. In Europa kann man diesbezüglich übrigens eine Spielart der „Anti-Globalisierungs-Bewegung“ registrieren. Als Manchester United 2003 durch den fußball-fernen US-Tycoon Malcolm Glazer übernommen wurde, gab es wütende Proteste und Absetzbewegungen unter Fans, von denen einige den „authentischen“ ManU-Supporter-Klub (in der siebten Liga!) unterstützten.

Obwohl Nationalität im Sportgeschehen offenbar relativ wird, ist die Faszination von Nationalmannschaften erhalten geblieben; sie aktualisiert sich besonders anlässlich der großen Welt- und Kontinentalturniere, die zugleich die enge Verschränkung von Sport, Politik und Mediensystem offenlegen. 

Ähnliches geschah vor Jahren schon beim FC Wimbledon, nachdem dessen Heimspielstätte verlegt und das Publikum entwurzelt werden sollte. Obwohl Nationalität im Sportgeschehen also offenbar relativ wird, ist die Faszination von Nationalmannschaften erhalten geblieben; sie aktualisiert sich besonders anlässlich der großen Welt- und Kontinentalturniere, die zugleich die enge Verschränkung von Sport, Politik und Mediensystem offenlegen. Hier werden in einem exemplarischen Maße „transnationale Medienereignisse“ inszeniert, die bei aller Standardisierung durch Spielregeln, Wettkampfdauer und die Eigenart der jeweiligen Sportarten eine Szenerie schaffen, welche aus der Routine und Normalität alltäglicher Erfahrung und dem Erwartungshorizont der Akteure herausfallen. Eine Besonderheit von Sportübertragungen besteht offenbar darin, dass sie erwartbare und überraschende Aspekte besonders gut kombinieren können. Zugleich sind Sportereignisse hervorragend geeignet für kollektive diskursive Aufbereitung, also für Kommunikationsakte, in denen sich die Akteure und Zuschauer erst über die Kriterien für die Wahrnehmung des Geschehens als Ereignis oder „Event“ verständigen.

Was ein gutes oder schlechtes Spiel (gewesen) ist, entscheidet sich bekanntlich erst, während darüber auf der Tribüne diskutiert wird und danach, wenn darüber im Rundfunk, im Fernsehen, in maßgeblichen Zeitungen und im Internet gefachsimpelt wird – und solche Bewertungen können noch nach Jahren wechseln. Die in den elektronischen Medien ausgetragenen Debatten und Kontroversen stellen Ereignisse in doppeltem Sinne dar: Sie bilden Ereignisse ab und sind selbst Ereignisse.

Dadurch bewirken Sportereignisse Medienevolution, und zwar auf Seiten der Produzenten, die ihre technische Apparatur auf höhere Reichweite, bessere Qualität, verstärkte Animation und dergleichen einstellen, genau wie auf Seiten der Empfänger, die sich aus Anlass solcher Medienereignisse neue Geräte mit besseren Empfangs- und Unterhaltungseigenschaften anschaffen. Sport und Medien sind hier auf spezielle Weise verknüpft, indem sie technische Mittel der Massenverbreitung verlangen oder generieren, die soziale Kommunikation zunehmend verdichten.

 

Der ursprüngliche „Kommunikationsraum” der Moderne, wir sagten es, war die Nation oder der Nationalstaat; heute ist Vergesellschaftung nicht mehr allein an diese historische Form gebunden.

So wie die Leser reformatorischer oder revolutionärer Flugschriften gewissermaßen nebenbei eine Nation begründeten, gehen Zuschauer der ersten Mondlandung, eines Rolling-Stones-Konzerts oder einer Fußball-WM eine (flüchtige) transnationale Gemeinschaft ein. Welche Grenzen hier wo zu ziehen sind, ist nicht vom Ereignis oder Medium vorgegeben, es wird im Kommunikationsakt selbst bestimmt. Dabei schafft Kommunikation über Grenzen hinweg selbst wieder Grenzen, eine Art „virtuelle Geografie“.

Insofern ist Sport als transnationales Medienereignis ein Verstärker von Globalisierung.

 WM Studio für die Fußball WM in Katar auf dem Gelände des ZDF auf dem Mainzer Lerchenberg.
WM Studio für die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar auf dem Gelände des ZDF auf dem Mainzer Lerchenberg, Foto: Arne Dedert, picture alliance.

Räumliche Entfernungen werden überwunden und „spielend“ relativiert; zugleich legen Zuschauer bei diesem Angebot eine besonders hohe Empfangsbereitschaft an den Tag, die auch Bereitschaft zu zeitweiliger Vergemeinschaftung zeigt. So wird das soziale Gedächtnis der heraufziehenden Weltgesellschaft konstruiert. Medienereignisse im Sinne einer Soziologie des Außergewöhnlichen beantworten die Frage, wie in einer Überfülle von Informationsangeboten Aufmerksamkeit gehalten werden kann, und hier lässt vor allem das Fernsehen per Live-Übertragung ein Ereignis und seine mediale Inszenierung ineinander übergehen. In einer weltweiten Sportübertragung etwa werden mediale Artefakte geschaffen, die auch das Medium und die Art der medialen Präsentation zum Ereignis stilisieren.

Damit ist das große Sportereignis ein Motor kultureller Entwicklung und ein Katalysator grenzüberschreitender Wissensbildung, die nicht mehr an die Öffentlichkeit einer Nation gerichtet ist.

Denn Sport hat sich längst von der „schönsten Nebensache der Welt“ zum Hauptobjekt politischer Entscheidungen entwickelt, die nationales Prestige und wirtschaftlichen Erfolg verbürgen sollen. In Europa kann man wachsenden Einfluss der Politik im und auf den Sport feststellen, dessen Autonomie gleichwohl betont wird; dabei ist Sport, anders als in den USA, ein Aufgabenfeld des Interventions- und Wohlfahrtsstaats und wird dezidiert als soziale oder kulturelle Aktivität bewertet. Deren kommerzielle Dimension wird mittlerweile auch in der Alten Welt zunehmend anerkannt und gefördert, womit Investitionen der öffentlichen Hand eine „Sportdividende“ erzeugen sollen.

Diese besteht im Prestige-Gewinn einer Nation durch exzellentes Abschneiden bei internationalen Wettbewerben, ablesbar etwa am Medaillenspiegel der Olympischen Spiele oder am Vordringen von Athleten und Mannschaften in Finalkämpfe von Turnieren. So sehr sich das Sportgeschäft dabei entgrenzt und die Grenzen von Nationalstaaten überschritten hat, so sehr ist es eine Eigenheit transnationaler Sportpolitik, dass sie symbolisch immer auf einen lokalen oder nationalen Patriotismus zurückverweist. Dem Sportsystem haftet also eine gewisse Widerständigkeit gegen die Gleichmacherei und Vaterlandslosigkeit der „Einen Welt“ an, und wahrscheinlich besteht in dieser patriotischen Reservekapazität exakt die Aufgabe des Sportsystems in transnationalen Interaktionen.

Die „transnationale Gesellschaft des Sports“ ist allerdings nicht allein auf eine kompensatorische Funktion festzulegen, vielmehr ist sie im eben dargestellten Medien/Wirtschaft-Komplex auch ein treibender Akteur der Entgrenzung. SINGO’s und BINGO’s, wie staatliche Sport- und Wirtschaftsorganisationen genannt werden, sind die ausschlaggebenden Akteure bei der Vorbereitung und Gestaltung von Olympischen Spielen und Fußball-Weltmeisterschaften. Beteiligt sind führende Unternehmen und Verbände, umgeben von einem Kranz aus Reiseveranstaltern, Merchandising-Firmen, Versicherungen, Anwalt-Sozietäten, PR-Agenturen und dergleichen, wobei es hier stets zu Reibungen zwischen traditionellen, bürokratisch zugeschnittenen Interessengruppen wie dem Nationalem Olympischen Komitee (NOK) und etwa in Deuschland dem Deutschen Sportbund (DSB) auf der einen Seite und der Management-Kultur transnationaler Unternehmen auf der anderen Seite kommt. Die Auseinandersetzung um die Zuteilung von Tickets, die Rednerliste bei der Eröffnung der Fußball-WM und zahllose Protokollfragen belegen diesen Machtkampf.

 

Drei ältere Menschen stehen vor Plakaten von Ronaldo, Neymar und Messi.
In der transnationalen Sportpolitik sind Sport, Politik und Wirtschaft allesamt auf Wettbewerb, auf Inszenierung und auf Profitabilität ausgerichtet, Foto: Philippe Leone, unsplash.

Die wesentlichen Interaktionsverhältnisse transnationaler Sportpolitik lassen sich wie folgt skizzieren: Es gibt eine gleichläufige, aber nicht identische „Logik“ der Subsysteme Sport, Politik und Wirtschaft, die allesamt auf Wettbewerb, auf Inszenierung und auf Profitabilität ausgerichtet sind. Das Mediensystem spielt hier eine vermittelnde Rolle, in dem es den Star oder den Prominenten als symbolische Leitfigur heraushebt, die auch im Fall aktiver Sportler weniger bei der Ausübung ihrer Tätigkeit als bei deren diskursiver Vermittlung im Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit in Szene gesetzt wird. Die Zuschauer halten es genauso: Auch für sie zählt weniger eigene Betätigung als passives Dabeisein bei der „realen Virtualität“ des Mediensports, der überdies herkömmliche Unterschiede von Geschlecht, Bildung, Einkommen, Wohnort und lokaler Sporttradition einebnet. Ein schlagendes Beispiel dafür ist der „systemwidrige“ Erfolg von Soccer, vom europäischen Fußball in den USA, und das gerade bei Frauen.

Gemeinsam ist hier das Motiv der Kommerzialisierung des Sports, dem die Sportpolitik zuarbeitet und den Wettbewerb sichernde Grenzen setzt. Konvergent ist ebenfalls die Fixierung auf Stars und Idole des Sports, die man als „Prominenzierung“ bezeichnen könnte; Sport-Prominente wie Franz Beckenbauer oder Michel Platini konnten in der Vergangenheit politische, mediale und wirtschaftliche Schlüsselrollen ausüben (jetzt sind sie wegen Korruptionsvorwürfen geschwächt); sie könnten sogar gegenüber Ressortpolitikern wie Wolfgang Schäuble, gegenüber Verbandsfunktionären wie Sepp Blatter (der allerdings derzeit suspendiert ist) von der Fifa oder dem DFB eine gewisse Autonomie demonstrieren.

Zwischen den Subsystemen kommt es, wie das Beispiel der Fußball-WM 2006 noch einmal belegt, zu einer Entdifferenzierung: Sportpolitik privatisiert sich in Gestalt sogenannter Public Private Partnerships, der Leistungssport passt sich den Imperativen der Berichterstattung an, und diese beschränkt sich keineswegs mehr auf die Abbildfunktion der herkömmlichen „Sportreportage“, sondern greift, genau wie führende Wirtschaftsunternehmen, als Sponsor und Werbepartner in das Sportgeschehen ein. So entsteht ein sport-politischer und sportlich-industrieller Komplex, der durch Medienprominente symbolisch zusammengehalten wird.

Ob Wladimir Putin mit den Olympischen Spielen in Sotschi oder in Brasilien durch Fußball-WM und Olympia-Austragung: Stets versuchen Regierungen vom Prestigegewinn durch Sportgroßereignisse zu profitieren.

Für Innen- und Sportminister stellen solche eine kapitale Herausforderung dar, an der jeder Einzelne sich für höhere Aufgaben bewähren kann – oder grandios scheitert. Diese Aufgabe wird, zusammen mit dem konkreten Abschneiden der jeweiligen Nationalteams, als Stimmungs- und Motivationsfaktor erheblich auf das politische und wirtschaftliche System abstrahlen, und schließlich spielt ein Sportgroßereignis eine erhebliche Rolle im Ranking des Austragungslands im Weltmaßstab.

Deshalb kann man ein sportliches Großereignis nie gänzlich seiner patriotischen und nationalistischen Konnotationen entkleiden, deshalb auch sind rassistische Ausfälle gegen farbige Athleten und Multikulti-Teams keine Ausrutscher, deshalb auch werden bei internationalen Wettbewerben immer wieder sogenannte „Ersatzkriege“ ausgefochten.

Exemplarisch war der nach einem Ausscheidungsspiel zur Fußball-WM eskalierte Konflikt zwischen Honduras und El Salvador im Juli 1969, der 3.000 Todesopfer und 6.000 Verletzte kostete. Aber auch das Ausscheiden der türkischen Mannschaft gegen die Schweiz in den Relegationsspielen zur Fußball-WM 2006 oder der angedrohte Besuch des iranischen Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad beim persischen WM-Team in Deutschland kann man hier nennen. Ein Kompromiss zwischen national-staatlicher Organisationsform und transnationaler Sportgesellschaft dürfte exakt die „Marke“ sein, als die sich ein Austragungsland in Bezug auf eine Fußball-WM oder Olympia unter Anleitung einschlägiger PR-Agenturen im Rahmen groß angelegter Image-Kampagnen präsentiert. Markenbewusstsein und Branding verbürgen Restelemente nationaler Identität, sind aber zugleich kompatibel mit den Identitätsfiguren einer transnationalen Gesellschaft und Ökonomie. Die Sportmarke Deutschland etwa, in die immer wieder Erinnerungen an „große Augenblicke“ von 1954, 1990, 2006 bis 2014 eingespielt werden, ist ein wirtschaftsaffiner und sportbezogener Versuch, kulturelle Unterschiede und ökonomische Standardisierung in einer politikfernen Form verbindlich zu machen. Ob der Sport noch geeignet ist, diese kulturelle Differenzierung zu leisten, hängt wesensgemäß ab von seiner Leistungsfähigkeit. Oder wie es Fußballer schlichter ausdrücken: Wichtig is auf 'm Platz.

Über den Autor
Portrait von Claus Leggewie
Claus Leggewie
Politikwissenschaftler

Claus Leggewie lehrte von 1989 bis 2007 Politikwissenschaft an der der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2001 war er Mitbegründer des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) , seit 2015 ist er Inhaber der Ludwig Börne-Professur am ZMI. Er war Gastprofessor an der Universität Paris-Nanterre und der New York University, Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, am Remarque Institute der New York University und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Von 2007 bis 2015 war Leggewie Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und des Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Von 2008 bis 2016 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Leggewie ist Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik.

Bücher (Auswahl):

  • Reparationen. Im Dreieck Frankreich, Algerien, Deutschland. Donata Kinzelbach, Mainz 2022
  • Planetar denken. Ein Einstieg. Mit Frederic Hanusch und Erik Meyer. Transcript, Bielefeld 2021
  • Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa. Mit Ireneusz Pawel Karolewski. Klaus Wagenbach, Berlin 2021
  • Jetzt! Opposition, Protest, Widerstand. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019
  • Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Ullstein, Berlin 2017

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.