Illustration: Eine Hängebrücke über einem Abgrund. Zwischen den Tragkabeln zwei Hände, die geschüttelt werden.

Neujustierung nach dem Debakel

Europa ist mit sich selbst beschäftigt und überlässt Menschenrechtsaktivisten in Nordafrika, im Nahen Osten oder in Afghanistan ihrem Schicksal. Welche Ansätze sind nötig, um die europäische Auswärtige Kulturpolitik im Mittelmeerraum neu zu justieren?

Zwanzig Jahre nach 9/11 fällt die Bilanz der Bemühungen Europas, demokratische Strukturen und Akteure in den Gesellschaften des globalen Südens zu befördern – mit einigen Ausnahmen – ernüchternd aus. Die Gründe für die Schwierigkeiten des „demokratischen Werteexports“ sind vielfältig und unterscheiden sich stark von Land zu Land.

Die allgemeinen Entwicklungen des globalen Systems seit den Anschlägen des 11. September 2001 und der regionalen Ordnung durch die Folgen des Irakkriegs, des gescheiterten Arabischen Frühlings, des Syrien-Kriegs, des Libyenkonflikts und des Agierens der Trump Administration, haben die Rahmenbedingungen für europäische Demokratisierungsbemühungen nicht vereinfacht. Doch neben diesen Faktoren beruht die Krise, das Verblassen, die Ambiguität europäischer Ambitionen auch auf internen Problemen.

Europa ist einmal mehr mit sich selbst beschäftigt, während mutige Menschenrechts- und Demokratieaktivisten in Nordafrika, im Nahen Osten oder nun auch in Afghanistan meist sich selbst und ihrem Schicksal überlassen werden. Europas interne Krise und Desintegration reicht vom Brexit, über anti-europäische Regierungen in Ungarn und Polen, dem Aufwind europakritischer rechts- und linksextremer Bewegungen und Diskurse, bis hin zur Unfähigkeit, gemeinsame europäische Antworten auf die Corona-Epidemie, die anhaltende Migrationsproblematik oder den Klimawandel zu finden. Europa, die EU, ihre Mitgliedstaaten und ihre Gesellschaften bleiben oft verhaftet in alten Denkmustern, inklusive der europäischen Hybris und Arroganz und eines gewissen Opportunismus. Selten wird wahrgenommen, wie unglaubwürdig Europa sich selbst als Demokratie- und Werteexporteur gemacht hat. Doch die Schlussfolgerung daraus kann nicht sein, das Eintreten für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte aufzugeben, sondern vielmehr an der internen und externen europäischen Glaubwürdigkeit zu arbeiten.

Eine Außenpolitik ohne Schadensbilanz

Drei kleine Pflanzensprösslinge auf einem Holzbrett.
Außenpolitik soll in bestehende Kooperationen investieren, Foto: Daniel Öberg via Unsplash

Hierbei ermöglicht der Ansatz „do no harm“ alternative Lösungsansätze. Gemeint ist eine Außenpolitik, die keinen Schaden anrichtet, sondern geeignete konfliktsensible Methoden und Instrumente entwickelt, und die positiven wie negativen Auswirkungen des eigenen Handelns von vorneherein noch selbstkritischer und aufmerksamer mitdenkt als bisher. Vielleicht ist in diesen Zeiten weniger mehr, im Sinne einer Fokussierung auf gelungene, qualitativ wertvolle Kooperationen anstatt einer Fülle an immer neuen Programmen, Maßnahmen und Aktivitäten.

Europa ist einmal mehr mit sich selbst beschäftigt, während mutige Menschenrechts- und Demokratieaktivisten in Nordafrika, im Nahen Osten oder nun auch in Afghanistan meist sich selbst und ihrem Schicksal überlassen werden.

Auch die Stimmungslage auf der südlichen und östlichen Seite des Mittelmeers ist diffus, ernüchtert und enttäuscht. Weite Teile der Gesellschaften vom Libanon bis nach Marokko hatten große Hoffnungen in die vom Arabischen Frühling 2011 ausgelöste Veränderungsdynamik gesetzt. Das „window of opportunity“ hatte sich in den meisten Ländern der MENA-Region (Middle East & North Africa) jedoch schnell wieder geschlossen. Heute, zehn Jahre später, ist die Situation teils autoritärer, desaströser oder disparater als zuvor, wie die Beispiele Ägypten, Syrien, Irak oder Libyen zeigen.

Europäische Herausforderungen

Trotz allem gehen die Transformationsprozesse und Kooperationsbemühungen weiter, langsam und stetig, meist unaufgeregt und teilweise wenig sichtbar – nur leider auch ohne ein gemeinsames Ziel, ohne eine Verständigung auf eine gemeinsame Vision, weder auf europäischer Ebene, noch zwischen Europa und seinen Partnern in Nordafrika und im Nahen Osten. Europa wiederum hat nicht erst seit dem Brexit im Januar 2020 mit zahlreichen internen Herausforderungen zu kämpfen:

Desintegrationstendenzen, populistische und extremistische Bewegungen, anti-europäische und verschwörungstheoretische Diskurse stellen das europäische Projekt stark in Frage. Vor diesem Hintergrund fällt es immer schwerer eine glaubhafte gemeinsame Politik nach innen und nach außen zu vertreten. Umso wichtiger erscheint es, den europäischen Integrationsprozess erneut zu befördern, Integration und Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten und europäischen Gesellschaften weiter zu vertiefen.

Wenn Europa und die EU ein freiheitliches politisches und gesellschaftliches Alternativmodell zu anderen Akteuren im internationalen System darstellen möchten, dann müssen sich die Werte auch im konkreten Handeln niederschlagen.

Hierzu ist eine fortlaufende, selbstkritische Analyse der eigenen, der vermeintlich „europäischen“ Werte notwendig. Gemeint sind universale Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Respekt der Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Religions- und Meinungsfreiheit, Toleranz, Diversität, ein ressourcenschonender Umgang mit Natur und Umwelt, Klimagerechtigkeit. Wenn Europa und die EU ein freiheitliches politisches und gesellschaftliches Alternativmodell zu anderen Akteuren im internationalen System darstellen möchten, dann müssen sich die Werte auch im konkreten Handeln niederschlagen.

Wie soll man an das freiheitliche Projekt Europa glauben, wenn Geflüchtete nach Syrien zurückgeschickt werden, obwohl bekannt ist, dass ihnen dort Haft, Folter und Tod drohen, wenn Mitstreiter der letzten 20 Jahre in Afghanistan achtlos oder hilflos im Terrorregime der Taliban zurückgelassen werden oder wenn europäische Unternehmen ohne jeden moralischen Skrupel Überwachungssoftware an menschenverachtende, autoritäre Regime in der MENA-Region verkaufen und diese dadurch weiter stärken.

Zwei Vögel fliegen über Spiegel, der im Gras liegt.
Die europäischen Werte müssen sich in dessen Handeln wiederfinden, Foto: Jovis Aloor via Unsplash

Ernsthafte Überprüfung der europäischen Grundprinzipien

Eine ernsthafte Überprüfung der eigenen Grundprinzipien, des Verständnisses von gemeinsamen Werten und Absichten zwischen den EU-Mitgliedstaaten fällt aktuell besonders schwer (z.B. die politische Situation in Polen und Ungarn). Nichtdestotrotz existiert eigentlich keine Alternative zum proaktiven Vertreten eben dieser Werte – angesichts des weltweiten Vormarschs an autoritären, populistischen, extremistischen und gewaltbereiten Akteuren. Gleichzeitig wären ein Herunterfahren der europäischen Ansprüche angesichts der eigenen Unzulänglichkeiten und eine Rückbesinnung auf das eigene Handeln, die historische Verankerung und Entstehungsgeschichte der Europäischen Union sicherlich angebracht.

Damit ist aber nicht ein Rückzug auf die europäische Friedensinsel, ein Rückzug ins Private, in die europäische Komfortzone oder ein eurozentrierter Ausbau europäischer Souveränität gemeint. Gemeint ist: die Ansprüche an andere in Fragen der Good Governance auch immer wieder in Relation zum eigenen Verhalten und dessen Wirkung zu setzen. Natürlich kann Europa, die EU, ein freiheitliches Alternativmodell zu China oder anderen autoritären Regimen darstellen und das tut die Europäische Union auch. Die Wertschätzung hierfür kann gar nicht groß genug sein. Nur wurden beim europäischen Integrationsprozess viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und -milieus nicht mitgenommen und nehmen den Mehrwert der EU nicht (mehr) wahr oder haben ihn nie wirklich verinnerlicht.

Gemeint ist: die Ansprüche an andere in Fragen der Good Governance auch immer wieder in Relation zum eigenen Verhalten und dessen Wirkung zu setzen.

Europa könnte sich genau jetzt als ein Vorreiter in Fragen des schonenden Umgangs mit Ressourcen hervortun, als Förderer des freien Denkens und offener Gesellschaften, als undogmatischer, aber rechtsstaatlicher und auch sozial gerechter Akteur, nach innen wie nach außen (auch wenn innen und außen als Kategorien zunehmend verschwimmen). Die EU und die Außenministerien der EU-Mitgliedsaaten denken und agieren weiterhin meist in nationalstaatlichen Kategorien; nationale Regierungen sind auch für die EU weiterhin die zentralen politischen Ansprechpartner. Das liegt etwas in der Natur der Sache. Die multilaterale Zusammenarbeit im Mittelmeerraum zwischen der EU, den EU-Mitgliedstaaten und den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern ist über die Jahre immer mehr in den Hintergrund getreten. Übrig geblieben sind intensivierte bilaterale Beziehungen zwischen der EU und einzelnen Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten.

Wo ist der Geist des Multilaterismus?

Multilateralismus klingt heute wie ein Begriff aus einer anderen Zeit. Ein Grund hierfür ist sicherlich die Polemik Donald Trumps. Doch auch aus Europa waren in dieser Hinsicht nur wenige überzeugte Gegenstimmen zu hören. So war zum Beispiel das 2018 auf Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gegründete Pariser Friedensforum (Forum de la Paix) ein Versuch, den Geist des Multilateralismus auf internationaler staatlicher Ebene neu zu entfachen. Doch auch auf die Bemühungen Frankreichs, die multilaterale Zusammenarbeit im Mittelmeerraum wiederzubeleben, etwa mit dem „Sommet des deux rives“ („Gipfel der zwei Küsten“) 2019 folgten wenig Taten, wenig Unterstützung seitens der EU-Mitgliedstaaten und geringes Interesse der südlichen und östlichen Mittelmeerstaaten. Die Tendenz geht weiter hin zum „jeder für sich“. Die „Union für den Mittelmeerraum“ dümpelt seit 2008 vor sich hin.

Eine Person im Taucheranzug balanciert auf einem Board.
Wir brauchen neue Ansätze für multilaterale Zusammenarbeit, Foto: Gustavo Torres via unsplash

Angesichts der überschaubaren Erfolge der multilateralen Zusammenarbeit im Mittelmeerraum in den letzten zehn bis 20 Jahren, stellt sich die Frage, wie bestehende abgrenzende Denk- und Handlungsmuster, Hindernisse und Grenzen der Zusammenarbeit überwunden werden könnten. Vielleicht erlauben es ja mehr horizontale, transkulturelle, thematisch orientierte Ansätze eher aus den hergebrachten Schemata mit dem Gegensatzpaar von „Norden“ und „Süden“ herauszukommen und das existierende strukturelle Machtungleichgewicht auszugleichen. Letztendlich wurden alle wichtigen Ziele und Themen der globalen Zusammenarbeit bereits 2015 in den Sustainable Development Goals (SDG) durch die Vereinten Nationen definiert, die über die Agenda 2030 erreicht werden sollen. Der Schutz und die Förderung von Kultur sind in diesem Rahmen sowohl ein Ziel an sich (siehe Unterziel 11.4) als auch inhärenter Teil mehrerer SDGs.

Die Rolle von Interkultureller Zusammenarbeit

So kann Kultur einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Ziele weltweit, also auch in Europa und in den südlichen und östlichen Mittelmeerländern, erreicht werden (z.B. Ziel 16: „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“, Ziel 4: „Hochwertige Bildung“, Ziel 8: Kultur- und Kreativsektoren als Beitrag zu Beschäftigung und Wachstum, Ziel 11: „Nachhaltige Städte und Gemeinden“, Umgang mit der Natur als Beitrag zu den ökologischen Zielen 12-15). Der klimagerechte und schonende Umgang mit Ressourcen sollte ja eigentlich im Interesse aller Mittelmeeranrainer liegen. Interkulturelle und transkulturelle Zusammenarbeit, inklusive wissenschaftlicher Zusammenarbeit, kann zivilgesellschaftliche Organisationen und Akteure in fast all diesen Themenfeldern stärken und befähigen.

Über die gemeinsame horizontale Zusammenarbeit zu Themen, die viele angehen (wie der Klimawandel, Migration oder Jugendkulturen), kann neue kulturelle Nähe entstehen, die in den letzten Jahren teilweise auch in euro-mediterranen zivilgesellschaftlichen Milieus abhandengekommen ist, unter anderem aufgrund des europäischen Umgangs mit der Migrationsproblematik.

Gemeint ist eine inter- und transkulturelle Zusammenarbeit, die Menschen und ihre sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte in den Vordergrund stellt und zugleich offen, integrativ und ressourcenschonend ist.

Gemeint ist eine inter- und transkulturelle Zusammenarbeit, die Menschen und ihre sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte in den Vordergrund stellt und zugleich offen, integrativ und ressourcenschonend ist. Auch die Einbindung der in Europa lebenden Exilanten und Diasporas in diesem Kontext ist noch ausbaufähig. Viele dieser Ansätze werden bereits angewandt, von den kulturellen und zivilgesellschaftlichen Mittlerorganisationen, doch auf staatlicher Ebene und auch bei solchen Mittlerorganisationen, die Regierungen nahestehen, hat sich eine Änderung der inneren Haltung (von einer rein repräsentativen auswärtigen Kulturpolitik hin zu einer kooperativen kulturellen Zusammenarbeit auf Augenhöhe) noch nicht immer durchgesetzt und in einigen Ländern der MENA-Region lässt sich auch das ein oder andere Programm nicht so frei umsetzen wie gedacht.

Die Resilienzkräfte sind bei vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren aufgezehrt.

Unabhängig vom Grad der kulturellen und intellektuellen Freiheit, sind die Lebensrealitäten von weiten Teilen der Gesellschaften in der MENA-Region geprägt von Existenznöten, sozialen Problemen oder schwierigen Alltagskonditionen. So durchlebt zum Beispiel der Libanon, lange ein kulturelles Zentrum in der Region, seit der Explosion im Hafen Beiruts im August 2020 eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise. Das politische System befindet sich schon länger in der Krise, doch nun haben Korruption und Unfähigkeit das Leben vieler Menschen gekostet. Einige Kreative mussten zusehen, wie ihr Atelier und Lebenswerk vor ihren Augen in Schutt und Asche gelegt wurden. Manch ein Kreativer, auch in anderen Ländern der Region, verliert die Zuversicht, dass sich die Verhältnisse verbessern könnten und zieht sich, wenn möglich, ins europäische Exil zurück. Die Resilienzkräfte sind bei vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren aufgezehrt.

Postkolonialer Dialog zwischen den Gesellschaften

Das koloniale Erbe, aber auch die Folgen der beiden Weltkriege und des Kalten Kriegs in der MENA-Region wirken bis heute nach. Eine gemeinsame, postkoloniale Aufarbeitung der geteilten Geschichte steht jedoch noch immer am Anfang; sie ist von vielen politischen Akteuren unterschiedlichster Couleur, auf allen Seiten des Mittelmeers, nicht einmal gewollt. Gleichzeitig suchen viele in der Vergangenheit die Hauptursachen der heutigen oft schwierigen Lebenskonditionen, von Armut, über soziale und wirtschaftliche Ungleichheit bis hin zu politischen oder religiösen Extremismen in der MENA-Region. Eine gemeinsame postkoloniale Aufarbeitung zentraler Kapitel der gemeinsamen Geschichte im Mittelmeerraum ist dennoch eine unerlässliche Grundvoraussetzung, wenn es das Ziel ist, die Beziehungen zwischen Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten auf eine neue Ebene zu heben.

Kulturelle Projekte ermöglichen es, vertiefte Kenntnisse zwischen den Gesellschaften zu fördern, Räume des Austauschs und der Koexistenz zu schaffen, Verbindungen zu knüpfen, gemeinsame Erfahrungen zu produzieren, kulturelle und soziale Differenzen zu erkennen, Brücken zu bauen, Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Aber nicht nur die Kolonial- und Kriegsgenerationen, sondern auch die aktuell verantwortliche Generation hat in Nordafrika und im Nahen Osten viele Scherben und Unglück hinterlassen: sei es durch militärisches Eingreifen (Libyen) oder durch Nicht-Eingreifen (Syrien), durch Opportunismus, Handlungsunfähigkeit oder Ignoranz. Umso wichtiger sind Wiederaufbau und kulturelle Austauschprogramme, nicht um aufzuwiegen, sondern um andere, bessere Grundvoraussetzungen für internationale (kulturelle) Zusammenarbeit zu schaffen. Kulturelle Projekte ermöglichen es, vertiefte Kenntnisse zwischen den Gesellschaften zu fördern, Räume des Austauschs und der Koexistenz zu schaffen, Verbindungen zu knüpfen, gemeinsame Erfahrungen zu produzieren, kulturelle und soziale Differenzen zu erkennen, Brücken zu bauen, Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Kultur und Kunst können ja auch eine befreiende und integrative Wirkung haben. Sie können Individuen dazu befähigen, mehrere Identitäten gleichzeitig zu leben und auszudrücken und sich nicht für eine entscheiden zu müssen oder auf eine reduziert, festgelegt zu werden.

Gemeinsame Werte aushandeln

Es geht nicht um Werte für uns (Europäer) und Werte für Andere (im globalen Süden), um „Werteexport“ – es sollte um gemeinsame Werte gehen. Natürlich sind Identitäten und Werte nichts Definitives, nichts Absolutes, sondern das Ergebnis unendlicher Aushandlungsprozesse. Vielleicht wäre es an der Zeit, solche Aushandlungsprozesse anders, partizipativer, inklusiver, integrativer zu gestalten. Sollte es nicht das Ziel von Außenkulturpolitik sein, Möglichkeiten, Räume und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen, die es ermöglichen, immer wieder aufs Neue die jeweiligen Geschichtsnarrative, auch der deutschen und europäischen Kolonialpolitik, in Frage zu stellen und neu zu lesen und zu verstehen? Sollte es nicht das Ziel sein, das Bewusstsein in diesem mediterranen Kontext für die Konstruktion, Dekonstruktion, Transformation und Weiterentwicklung von Normen, Identitäten und Werten zu schärfen?

Verschiedene Werkzeuge liegen auf einem Haufen.
Kulturelle Projekte sind wichtige Werkzeuge für internationale Zusammenarbeit, Foto: Haupes via unsplash

Kultur und Kunst können ja auch eine befreiende und integrative Wirkung haben. Sie können Individuen dazu befähigen, mehrere Identitäten gleichzeitig zu leben und auszudrücken und sich nicht für eine entscheiden zu müssen oder auf eine reduziert, festgelegt zu werden. Es geht auch darum, die Schicksale und Talente einzelner Menschen in den Vordergrund zu stellen, ohne in Exotismus und Orientalismus zurückzufallen. Dazu gehört auch, die Anerkennung und Sichtbarkeit der Künstler und Künstlerinnen des globalen Südens in Europa weiter zu vergrößern. In 120 Jahren Nobelpreisgeschichte (die erste Verleihung fand 1901 statt) wurde der (fast) jährlich vergebene Nobelpreis für Literatur bislang nur ein einziges Mal an einen arabischen Schriftsteller verliehen, den ägyptischen Schriftsteller Nagib Mahfus 1988. Da ist noch Luft nach oben.

Doch Preise sind natürlich nur eine punktuelle Anerkennung, die schnell verblasst. Noch wichtiger ist es, den Zugang zu Kunst und Kultur – als „Freiheits- und Erkenntnisraum“ – für alle Teile der Gesellschaften zu ermöglichen und aktiv zu befördern, auf allen Seiten des Mittelmeers, ganz im Sinne des SDG-Prinzips „Leave No One Behind“. Vielleicht gehört dazu auch, das richtige Gespür zu entwickeln – für Empathie und zugleich für eine respektvolle, aber auch kritische Distanz.

Über die Autorin
Portrait von Isabel Schäfer
Isabel Schäfer
Politikwissenschaftlerin, Fachautorin, Beraterin und Dozentin

Isabel Schäfer ist Politikwissenschaftlerin, Fachautorin, Beraterin und Dozentin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind europäische Mittelmeer- und Nahostpolitik, euro-mediterrane Partnerschaft sowie die kulturelle Dimension der Internationalen Beziehungen, insbesondere der Beziehungen zwischen Europa und der arabischen Welt.

Bücher:

  • Political Revolt and Youth Unemployment in Tunisia. Exploring the Education-Employment Mismatch. Palgrave Macmillan, London 2018
  • Vom Kulturkonflikt zum Kulturdialog? Die kulturelle Dimension der Euro-Mediterranen Partnerschaft (EMP). Nomos, Baden-Baden 2007

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.