Illustration: Hochhaus mit EU-Flagge, dem verschiedene Puzzle-Teile fehlen mit Dollar und Eurozeichen im Hintergrund.

Politische Gestaltung statt Marktgläubigkeit

Die EU darf nicht Katalysator der Spaltungen des Kontinents sein. Der Versuch, die Europawahl 2019 zur Entscheidungsschlacht gegen die Rechtspopulisten zu stilisieren, ist gescheitert. Die Gegner des bisherigen Integrationsprozesses haben gewonnen, Christ- und Sozialdemokraten wurden abgestraft. Was ist schiefgelaufen?

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfach in spezifischen nationalen Konstellationen zu suchen. Leider – muss man hinzufügen. Denn erneut ist es nicht gelungen, das gemeinsame europäische Interesse in den Fokus der Wahlkampagnen zu rücken. Transnationale Listen wurden im Vorfeld der Europawahl ebenso verhindert, wie die Sichtbarkeit der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten.

Die oft eingeforderte europäische Öffentlichkeit war nicht einmal zum zeitgleichen Wahlakt präsent. Viele Parteien auf dem Kontinent kochten ihr eigenes Süppchen und positionierten sich inhaltlich entweder aus einer klar nationalen Perspektive oder allzu vage zu konkreten Europaprojekten für die nächste Legislaturperiode des Europäischen Parlaments bis 2024.

Sedativer Wahlkampf

Europa, so scheinen insbesondere die einstmals großen Volksparteien der Christ- und Sozialdemokraten zu denken, spiele in den Befindlichkeiten der Bürgerinnen und Bürger keine besondere Rolle. Wer sich nicht als EU-Gegner sieht, könne mit Verweis auf die Errungenschaften von bald 70 Jahren Integrationsprozess abgelenkt werden von drängenden Zukunftsfragen an die EU. Reisefreiheit, Wirtschaftsraum, Friedenssicherung – wer wollte dies nicht verteidigen?

Schon gar gegen Ambitionen von ganz rechts, denen die Schengener Personenfreizügigkeit ebenso ein Dorn im Auge ist, wie der Euro. Doch der sedative Wahlkampf, die hochgejazzte Entscheidung in der Wahlkabine zwischen "Für" und "Gegen" Europa war inhaltlich und strategisch ein Fiasko.

 

So gab es wenig ausformulierte Angebote, wie die EU ihre Spaltungslinien überwinden und in eine gestalterische Position finden kann. Und die politische Mitte hat sich in einer sämigen Konsenssoße versteckt, die Unterschiede unkenntlich machte und so den Rechtspopulisten in ihrem Dagegen-Sein eher genützt als geschadet hat.

Grenzüberschreitende Herausforderungen

Denn die Europäerinnen und Europäer haben sehr wohl verstanden, dass es ein einfaches "Weiter so" nicht geben kann. Nichts hat in den letzten zehn Jahren die transnationale Dimension vieler Politikfelder deutlicher gezeigt als die kleinen und großen Krisen in der EU: Den Klimawandel begrenzen, die soziale Spaltung kitten, Migration und Integration gestalten, Marktexzesse – vom Finanzmarkt über den Standortwettbewerb bis hin zur Immobilienspekulation – regulieren und rahmen.

All dies kann nicht vom klassischen Nationalstaat im Alleingang bewältigt werden, und sei er auch noch so groß, ökonomisch potent und politisch einflussreich. Die Verfechter einer Rückbesinnung auf die Nation irren, wenn sie glauben, diesen Problemen käme man mit einem Mehr an nationaler Souveränität besser bei als in Kooperation mit den Nachbarn.

Nichts hat in den letzten zehn Jahren die transnationale Dimension vieler Politikfelder deutlicher gezeigt als die kleinen und großen Krisen in der EU.

Grenzüberschreitende Herausforderungen verlangen nach grenzüberschreitenden Antworten. Die globale Interdependenz lässt sich nicht per Kippschalter an- und ausstellen. Die Suggestion unilateraler Handlungserfolge geht einher mit Abschottung, Externalisierung und Verdrängung globaler Risiken.

Schattenseiten der Globalisierung

Doch auch die Anhänger der europäischen Idee sind auf dem Holzweg, wenn sie die kritiklose Kontinuität der Europapolitik ins Schaufenster stellen. Die intern zerstrittene EU hat sich während der Krisen der letzten Jahre unfähig gezeigt, dem wachsenden Unbehagen etwas Substantielles entgegenzusetzen. Dieses Unbehagen speist sich in fast allen europäischen Ländern aus dem Verdruss über die Schattenseiten der Globalisierung, dem Verlust des Aufstiegs- und Wohlstandsversprechens sowie der Politik der Postdemokratie, die Maßnahmen mit deren angeblichen Alternativlosigkeit begründet.

Die intern zerstrittene EU hat sich während der Krisen der letzten Jahre unfähig gezeigt, dem wachsenden Unbehagen etwas Substantielles entgegenzusetzen.

Das Vertrauen in eine sich von allein ergebende politische Vertiefung der europäischen Integration ist spätestens durch den jüngsten Krisenmarathon erschüttert. Ein Binnenmarkt ohne Verhinderung von Steuer- und Sozialdumping, eine Währungsunion ohne wirtschaftspolitisches Koordinierungszentrum, Personenfreizügigkeit ohne Außengrenzschutz und Einwanderungspolitik – die politische Union kommt nicht von allein. Sie kommt nicht durch das Festhalten an einer bizarren Marktgläubigkeit, mit der die politische Gestaltung des gemeinsamen Marktes als schlecht für dessen angebliche Selbstregulierung und nachteilig für den globalen Wettbewerb gebrandmarkt werden und als abwegig gelten, weil nationalstaatliche Kompetenzen erhalten werden sollen.

Natürlich war es für die Mitgliedstaaten immer einfacher, Grenzen, Zölle und nationale Währungen aufzugeben, als neue politische Strukturen, Institutionen und Regeln zu schaffen. Dort, wo auf europäischer Ebene eine Einigung über politischen Ziele erfolgte, wie etwa beim Klimaschutz, hat man aus Rücksichtnahme auf den Markt und nationale Befindlichkeiten kein hinreichendes Instrumentenset verabredet, das zur Umsetzung und mehr Ambition drängt.

Auswege aus dem Dilemma

Wie kommen wir da raus? Zunächst mit der Erkenntnis, dass die EU nicht der Verursacher des Unbehagens mit der Globalisierung, der Formierung von Abstiegsgesellschaften und von der Gestaltungs- und Überzeugungsschwäche der Politik ist, zugleich aber auch nicht länger als deren Katalysator herhalten darf. Es waren die Mitgliedstaaten, die mit nationaler Deregulierung und marktschaffenden europäischen Verträgen der marktliberalen Dominanz das Tor aufgestoßen haben. Sie können es nur dann wieder schließen, wenn Europa ihnen durch einen regulierenden Rahmen Schützenhilfe leistet.

Die Krisen der letzten Jahre und ihr ungenügendes Management bieten Anlass, das eigene, das europäische Haus in Ordnung zu bringen. Begonnen werden könnte in zwei besonders strittigen Feldern: dem krisenfesten Umbau der Währungsunion und der Stärkung von sozialen Rechten in der EU.

Stabilisierung durch eine Fiskalunion

Mit der Eurokrise hat sich die Spaltung der Währungsunion verfestigt. Bislang geben die Anhänger einer Stabilitätsunion den Ton an, die Austerität und Strukturreformen ins Zentrum rückten. Ohne eine Weiterentwicklung der Eurozone in Richtung einer Fiskalunion wird sie jedoch krisenanfällig bleiben.

Krisenfest könnte sie werden durch einen europäischen Stabilisator zur Bekämpfung regional auftretender Krisen, Garantien der geteilten Risikoübernahme im Krisenfall und der frühzeitigen Verhinderung makroökonomischer Ungleichentwicklungen durch einen neuen Makrodialog auf Gemeinschaftsebene, der alle relevanten Wirtschaftsakteure an einen Tisch bringt.

Europäische soziale Mindeststandards

Lange war die EU attraktiv durch ihr Ziel, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Mittlerweile zeigen die sozioökonomischen Indikatoren eher Divergenzen statt wachsender Konvergenz an.

Auch wenn die letzte Wirtschaftskrise vorüber ist, leiden viele Länder nach wie vor unter hohen Arbeitslosen- und Armutsquoten. Doch die soziale Spaltung ist nicht nur das Problem derer, die unter den Krisen zuletzt besonders litten: Der Wettbewerb der Wohlfahrtsstaaten um niedrige Steuern, Löhne und Sozialabgaben schädigt die nationalen Sozialsysteme aller.

Die EU als Modell der institutionalisierten Kooperation ist die Lösung für transnationale Herausforderungen.

Die Asymmetrie der europäischen Integration, die auf Marktvertiefung statt auf Marktgestaltung setzt, könnte in eine neue Balance gebracht werden, indem die kürzlich proklamierte, rechtlich nicht untermauerte Europäische Säule sozialer Rechte gestärkt wird. In einem Sozialprotokoll mit Vertragsrang könnte sie durch verbindliche Mindeststandards und Zielwerte ergänzt werden.

Die EU als Modell der institutionalisierten Kooperation ist die Lösung für transnationale Herausforderungen, denen alle Staaten begegnen. Die Europäerinnen und Europäer haben längst verstanden, wie wertvoll dieses gewachsene Konstrukt trotz aller inhärenten Widersprüche und Unzulänglichkeiten für sie ist. Die seit 25 Jahren höchste Wahlbeteiligung zur Europawahl zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, Kompromisse zu suchen und die Spaltungen zu überwinden. Ist es die Politik auch?

Über den Autor
Björn Hacker
Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin

Dr. Björn Hacker ist Professor für europäische Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Seine Schwerpunkte sind europäische Wirtschafts- und Währungsunion, ökonomische und politische Integrationsprozesse, Transformation von Wohlfahrtsstaaten, soziale Dimension der EU und Makroökonomie. Hacker studierte an der Universität Osnabrück und am Institut d’Études Politiques de Paris und promovierte über das Europäische Sozialmodell.