Illustration zeigt sechs Personen, die auf zerbrechendem Boden stehen und in unterschiedliche Richtungen schauen.

Gespaltene Gesellschaft. An der Zahl der Verlierer bemisst sich die Größe der Risiken

Gesellschaftsspaltung hat die Moderne seit der Industrialisierung geprägt. In den 1990er und 2000er Jahren wurde ihre Wirkung allerdings verdrängt. Ein gesellschaftshistorischer Rückblick zum Verständnis der Lage seit der Finanz- und Wirtschaftskrise.

Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich eine Gewissheit verfestigt. Sie ging aus den dramatischen Erfahrungen der großen Rezession der 1930er Jahre sowie des Zweiten Weltkriegs und der Schoah hervor: Moderne Gesellschaften brauchen Stabilisierungsmaßnahmen. Arbeitnehmer sollen von den Konsequenzen der wiederkehrenden Wirtschaftskrisen geschützt und am gesellschaftlichen Reichtum beteiligt werden. Dies sei nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch im Interesse der liberalen Demokratie. Denn totalitäre Ideologien haben weniger Erfolgschancen, wenn alle Staatsbürger über sichere Lebensumstände verfügen. Davon jedenfalls geht die soziologische Theorie demokratischer Staatsbürgerschaft aus, die T. H. Marshall mit der Studie Citizenship and Social Class 1950 begründete. Im Übrigen war dies das Prinzip, nach dem der Wohlfahrtstaat in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde. Mit Roosevelts New Deal waren die USA hier bereits in den 1930er Jahre vorangegangen.

In den "glorreichen dreißig Jahren" von 1945 bis 1975 setzten die sozialstaatlichen Stabilisierungsmaßnahmen einen positiven Gesellschaftswandel in Bewegung. Die höhere Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten stimulierte die Binnennachfrage. Die Mittelschicht entwickelte sich allmählich und die Bildungsexpansion ermöglichte den Übergang zur Technologierevolution der 1980er Jahre. Trotz stürmischer Verteilungskonflikte konnte eine Spaltung der Gesellschaft, wie sie in der Zwischenkriegszeit stattfand, in Schach gehalten werden. Die wohlfahrtsstaatliche Regulierung der Arbeitsmärkte und die Bekämpfung der Schwarzarbeit entfalteten darüber hinaus eine nicht immer gewollte doch allmählich fortschreitende inklusive Wirkung. Gleiche Arbeitsbedingungen entschärften den Konkurrenzkampf zwischen autochthoner und migrantischer Arbeitskraft. Durch den Erwerb erster Sprach- und Kulturkompetenzen wurde Arbeit darüber hinaus zum maßgeblichen Integrationsmechanismus.

Verlierer Mittelschicht

Der Wandel der Wohlfahrtspolitik in Europa seit den 1980er Jahren setzte dieser Entwicklung jedoch ein Ende. Die Flexibilisierung der Arbeitsmarktgesetzgebung war anfänglich als vorübergehende Kompensation des verschärften Konkurrenzkampfs auf den globalen Märkten gedacht. Sie verstetigte sich jedoch. So entstand der duale Arbeitsmarkt. Seite an Seite mit den wohlfahrtsstaatlich gesicherten Arbeitnehmern existiert heute eine Schaar prekarisierter Arbeitskräfte. Hauptsächlich sind es Frauen. Befristete Verträge, Teilzeit-Jobs, Leiharbeit, bis zum Extrem der "zero-hour contracts" gehören zum Alltag nicht nur auf Baustellen, in Werkstätten, Industriehallen und Kneipen, sondern auch in Verwaltungen, Universitäten und Ministerien. Dazu kommen migrantische Arbeitskräfte in illegalen Beschäftigungsverhältnissen.

Aus demografischen Gründen ist eine geregelte Migration nach Europa notwendiger denn je, da die Anzahl der Beitragszahler bald zu knapp sein wird, um die Rentensysteme in einer alternden Gesellschaft zu finanzieren. Doch unter den gegebenen Bedingungen des dualen Arbeitsmarktes wird sie nur als Konkurrenzpotenzial wahrgenommen. Wütende, verunsicherte und sich abgehängt fühlende autochthone Blue sowie White Collars treffen auf diskriminierte migrantische Schwarzarbeiter. Die Chancen in dieser Situation eine gemeinsame Interessenvertretung aufzubauen, sehen schlecht aus, sodass die gesellschaftliche Spaltung voranschreitet.

Seite an Seite mit den wohlfahrtsstaatlich gesicherten Arbeitnehmern existiert heute eine Schaar prekarisierter Arbeitskräfte.

Dem kommt eine zunehmende Fragmentierung der Mittelschicht hinzu. So spalten sich die aufstrebenden hoch qualifizierten Vertreter der Wissensökonomie zunehmend von den traditionellen Mittelschichten ab, die zu den größten Verlierern der Finanz und Wirtschaftskrise gehören. Ihre Ersparnisse wurden oft vernichtet, ihre Lebensversicherungen büßten wesentlich an Wert ein. In den USA verloren viele zudem ihre Immobilien. Ihre soziale Position und ihr Prestige waren verspielt. Ein Gefühl des drohenden sozialen Abstiegs verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Keine Alternative?

Nun stellt sich die Frage, ob diese Fehlentwicklung hätte vermieden werden können oder ob sie den Charakter einer Naturkatastrophe hat. Angesichts des verschärften internationalen Konkurrenzkampfs in der Wirtschaft war seit den 1970er Jahren klar, dass der Wohlfahrtsstaat reformiert werden musste.

Doch die Wucht mit der die etablierten Rechte schwächerer Gesellschaftsschichten ausgehöhlt wurden, war erst durch die Schlagkraft des Neoliberalismus möglich, der zur vorherrschenden Ideologie emporwuchs. Jede politische Entscheidung sollte sich den Interessen der Wirtschaft unterordnen, ‚weil es keine Alternative gab‘ – so die berühmte Formulierung Margaret Thatchers.

Eine weitere Folge dieser Politik war die Deregulierung der Finanzmärkte. Die Spekulation nahm erneut ihren Lauf und erfand die undurchsichtigsten Produkte, um ihre Risiken an Kleinanleger weiterzugeben. So wurde die Kettenreaktion der Finanzkrise fatal, die mit der Pleite der US-amerikanischen Investment-Bank Lehman Brothers am 15. September 2008 einsetzte. Nachdem dreißig Jahre lang die Selbstregulierungsmacht der Märkte gepredigt wurde, mussten die Steuerzahler die Banken retten. Es folgten Wirtschaftskrise, Rezession und Austerität – die Kosten der Krise wurden weitgehend sozialisiert.

Wiederherstellung des gesellschaftlichen Gleichgewichts

Politische Unternehmer rechtspopulistischer Prägung haben die Gesellschaftsspaltung für sich auszunutzen gewusst, die der Abbau des Wohlfahrtstaates in Kombination mit der Deregulierung der Finanzmärkte generiert hat. Nationalismus, Autoritarismus, Ablehnung von Migration, ethnische Schließung der Wohlfahrtssysteme sind ihre Parolen. Sie bedienen widersprüchliche sozialpolitische Erwartungen, die zu lange ohne Gehör blieben.

Konservative und sozialdemokratische Volksparteien können diese Propaganda schlecht entschärfen, da sie die neoliberale Politik oft maßgeblich mitgetragen haben. Die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Gleichgewichts würde somit die Entstehung einer neuen politischen Kultur voraussetzten, die in der Lage wäre, allen Gesellschaftsmitgliedern den Zugang zu gesicherten Lebensbedingungen ohne ethnische Diskriminierung zu garantieren.

Politische Unternehmer rechtspopulistischer Prägung haben die Gesellschaftsspaltung für sich auszunutzen gewusst, die der Abbau des Wohlfahrtstaates in Kombination mit der Deregulierung der Finanzmärkte generiert hat.

Sozialpolitische Maßnahmen wären: Abbau des dualen Arbeitsmarkts. Bekämpfung der Schwarzarbeit. Regulierung der Finanzmärkte und Eindämmung der Spekulation mit lebensnotwendigen Gütern, wie Wohnraum. Kulturpolitisch hieße es, die kurzsichtige Gewinner- und Verlierer-Mentalität des neoliberalen Zeitalters abzulegen und eine gesellschaftliche Praxis der Anerkennung prekärer Lebenslagen zu etablieren. Ihr Motto: An der Verliererzahl einer Gesellschaft liest sich die Größe der unkontrollierten Risiken, die sie eingeht.

Über den Autor
Gregor Fitzi
Soziologe

Gregor Fitzi ist Co-Director des Centre for Citizenship, Social Pluralism and Religious Diversity an der Universität Potsdam. Er forscht zu Soziologischer Theorie, Geschichte der Soziologie und Politischer Soziologie. 2019 hat er zusammen mit Bryan Turner und Jürgen Mackert Band 3 von "Populism and the Crisis of Democracy" herausgegeben.