Sie müssen sich vorstellen, dass die Polizisten schlechter bewaffnet sind als die Kriminellen, die wiederum ganze Stadtteile kontrollieren.
Rechtsstaatlichkeit zu fördern und das Land politisch zu stabilisieren, sind Ziele der aktuellen UN-Mission BINUH*, an der sich Deutschland mit fünf Polizist:innen zur Ausbildung und Beratung der haitianischen Polizei beteiligt. Wie schätzen Sie den bisherigen Erfolg dieser Mission ein?
Jens Kraus-Massé: Es ist richtig, dass das Bundeskabinett die Entsendung der Polizeibeamt:innen beschlossen hat, aber bislang ist das leider nicht erfolgt. Den haitianischen Verantwortlichen ist es bisher nicht gelungen, Ausbildungs- und Beratungsbedarfe zu definieren. Die Polizei ist weder materiell noch personell ausreichend ausgestattet, um die Bedarfe überhaupt festzustellen. Die Beanspruchung ist einfach enorm. Sie müssen sich vorstellen, dass die Polizisten schlechter bewaffnet sind als die Kriminellen, die wiederum ganze Stadtteile kontrollieren. Und zur Bearbeitung von Entführungen stehen weniger Beamte zur Verfügung als Personen, die entführt sind.
Was unternimmt die Bundesregierung darüber hinaus, um Haiti beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen zu unterstützen?
Jens Kraus-Massé: Unser Interesse liegt darin, die sehr stark durch die politischen Rahmenbedingungen des Landes geprägte Gedankenstruktur aufzubrechen. Das machen wir zum Beispiel mit einer Veranstaltungsreihe zum Thema Rechtsstaatlichkeit, die wir im Februar 2021 im Rahmen des Vortragsprogramms der Bundesregierung erstmals durchführen konnten. Die Resonanz war enorm. Mehr als 30.000 Menschen haben sich die Veranstaltung angesehen, was bei einem Land mit elf Millionen Menschen beachtlich ist. Es ging um die Frage, wie rechtsstaatliche Strukturen nach Diktaturen aufgebaut werden können. Wir haben das am Beispiel der der deutschen Erfahrungen nach dem Ende der NS-Diktatur und der DDR diskutiert. In Haiti wurde zwar nach der Diktatur eine Verfassung geschaffen, aber sie ist den Strukturen des Landes nicht angemessen, unter anderem weil wichtige Faktoren wie Staatsvertrauen und parlamentarische Erfahrung fehlen.
Die Online-Diskussion richtete sich hauptsächlich an ein intellektuelles Publikum. Was können Veranstaltungen wie diese bewirken?
Jens Kraus-Massé: Sie können vor allem Denkanstöße geben und neue Perspektiven für Lösungen eröffnen, die bis jetzt vielleicht noch nicht bedacht wurden. In diesem Sinne ist es wichtig, dass es sie gibt, weil sie einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung leisten, den Dialog mit der Zivilgesellschaft stärken und die Menschen einbeziehen, die in irgendeiner Weise über ihr Land nachdenken.