Mein Notebook zeigt die falsche Uhrzeit an – sie unterscheidet sich um eine ganze Stunde von der litauischen Zeit. Ich habe im Frühjahr letzten Jahres zwei Monate in Berlin gewohnt und mein Computer hat noch immer die deutsche Zeit im Gedächtnis. Für mich ist dieser Abstand von einer Stunde symbolisch und vieldeutig. In meinem Roman „Drei Sekunden Himmel“ habe ich auch eine Zeitdifferenz beschrieben – eine Lücke von drei Sekunden im Leben und im Bewusstsein eines Menschen, der zwei Jahre in der sowjetischen Armee gedient hat (eine weitere zufällige Entsprechung: Ich selbst habe meinen Wehrdienst ausgerechnet in Deutschland abgeleistet). Wenn ein Mensch längere Zeit im Gefängnis, im Exil oder in Einsamkeit zubringt, dann tut sich immer eine Kluft auf – ein Riss, der sich bis zum Ende des Lebens oft nicht mehr schließen lässt. Das ist ein Drama. In sozialer wie auch existenzieller Hinsicht. Eine Kluft, die dem Menschen das Gefühl für das Hier und Jetzt nimmt.
Ganz ähnlich kann es auch einem ganzen Volk ergehen, z. B. meinem – den Litauern. Bis in die Gegenwart ist bei uns in Alltag und Bildung, in Wirtschaft und Politik sowie zweifellos auch in der Kultur diese Zeitdifferenz von einer Stunde deutlich zu spüren.
Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass Litauen schon seit der christianisierung, also seit 1387, der europäischen Kultur angehört, sie pflegt und sich aus ihr speist. Das ist im Großen und Ganzen auch wahr, aber komplizierte historische Umstände haben unser kleines Land immer wieder in völlige Vergessenheit, an den Rand oder sogar ins Jenseits der europäischen Politik und Kultur verstoßen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unser Volk fünfzig Jahre lang furchtbar verletzt und gequält, und deshalb hat sich auch unsere Kultur in einem Zustand befunden, den man durchaus als fortwährend schizophren bezeichnen kann. Eigentlich waren es nämlich zwei Kulturen: Die sowjetische, das heißt, die russische, uns von außen aufgezwungene, fremde Kultur der Besatzungsmacht und unsere eigene litauische Kultur. Europäer zu sein hat für die Litauer in Vergangenheit und Gegenwart fast immer bedeutet, aufholen zu müssen, ein fortgesetztes Bemühen, diese verdammte Lücke zu schließen, die verfluchte Kluft zu überwinden und ein adäquates Gefühl für die europäische Zeit, für europäische Traditionen und Werte zu entwickeln.
Ich kann mit der Frage nach der Rolle der Kultur in Europa nichts anfangen, sie löst bei mir Verwirrung aus. Meiner Ansicht nach ist die Kultur ohnehin das einzig Bedeutsame im Leben des Menschen. Wenn man sie als Gegenteil der Natur versteht, als Gesamtheit aller vom Menschen geschaffenen materiellen und geistigen Werte, dann ist alles, dann sind selbst Waffen und idiotische, aggressive, Millionen von Menschenleben zerstörende Ideologien Produkte der Kultur. Es heißt ja schließlich nicht ohne Grund, dass der Krieg ein Motor des Fortschritts sei. Und Kultur und Fortschritt sind, wie zum Beispiel Albert Schweitzer meinte, fast ein und dasselbe.
Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass Litauen schon seit der Christianisierung, also seit 1387, der europäischen Kultur angehört.
Ich wüsste nicht, wie ich den Begriff Kultur noch weiter eingrenzen könnte. Vielleicht wäre die Kunst mit ihren verschiedenen Ausdrucksformen (wie beispielsweise der Architektur) eine Alternative. aber es ist ja nichts anderes als die Kultur, die es mir gestattet, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Ich fahre nicht ins Ausland, um dort etwas zu kaufen oder zu verkaufen, und auch nicht, weil ich etwa auf der Suche nach einer Frau oder einer Religion wäre – ich reise wegen der Kultur: Um sie zu teilen, sie zu finden, mit ihr zu leben und so weiter. Über ihren Sinn und Unsinn kann ich mich nicht äußern, weil sie der Boden ist, auf dem ich meine Häuser baue, den Palast meines Daseins, meine Welt. Die Frage nach der Kultur gleicht für mich der Frage, ob es für den Menschen sinnvoll sei, einen Kopf zu haben. Joseph Guillotin würde mir sicher mit fröhlichem Gelächter zustimmen.
Ossip Mandelstam, einer der interessantesten russischen Lyriker, hat den Akmeismus als „Sehnsucht nach Weltkultur“ definiert. In Litauen war diese Auffassung immer verbreitet, und die Künstler haben die Sehnsucht nach Welt- oder europäischer Kultur ganz besonders empfunden, weil sie bei uns in Quantität und Qualität nur sehr spärlich vorhanden war. Der eiserne Vorhang war für uns nicht bloß eine bequeme politische Metapher, sondern er war die abstoßende Wirklichkeit. Nur vom Politbüro in Moskau, von der Zensur, vom KGB zugelassene Werke konnten den eisernen Vorhang passieren.