Illustration zeigt eine Frau mit Rednerpult, die sich an Demonstranten wendet, vor blauem Hintergrund

Bühne für Propaganda

Spätestens in den 1980er Jahren mutierten ganze Fangruppen in Jugoslawien zu nationalistisch-ethnischen Bewegungen. Ihnen dienten die Stadien als politische Bühne, sie wurden zum Ort der Durchsetzung ihrer politischen und nationalen Propaganda.

All das, was in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens im Sozialismus tabu und nicht erlaubt war, das Absingen nationaler Lieder, das Tragen nationalistischer Symbole, förderten die Fans in den Arenen zutage. Ihr symbolisches Kommunizieren war von intensivem Hass gekennzeichnet. Sportliche Rivalen wurden nicht als solche, sondern als Angehörige einer feindlichen politischen, nationalen und religiösen Gruppe betrachtet.

In Belgrad wurden kroatische Sportler mit derben Flächen als „Ustascha”, also als Anhänger der kroatisch-faschistischen Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg beschimpft, in Zagreb und Split hagelte es Rufe wie „Cigani!“, „Zigeuner“ oder „Ubij Srbina“, „Töte den Serben“. Daran hat sich übrigens bis heute nicht viel verändert.

In der Folge der Massenschlägerei vom Mai 1990 zogen sich Fußballverbände aus Kroatien, Slowenien und Kosovo mit sofortiger Wirkung aus den Nationalen Ligen zurück. Aus Protest, wie sie sagten, gegen die „serbische Herrschaft“. „Jugoslawien“ sei mit Serbien an der Spitze nicht mehr ihr Land. Die Kapitulation des Vielvölkerstaats im Fußballstadion von Zagreb war der Anfang vom Ende Jugoslawiens. Was danach geschah, weiß heute die ganze Welt. Das große europäische Drama, mitten in der Euphorie nach dem Fall der Mauer, hatte viele Akte, viele Aufs und Abs.

Parallel zum jugoslawischen Zerfallsdrama sah man den Optimismus für eine leuchtende und friedliche Zukunft, parallel zu den Kriegsbildern, die Europa erschütterten, die tanzenden, von der Sowjetunion befreiten Osteuropäer. In Europa hatte man geglaubt, dass sich der Schrecken, der sich zwischen 1941 und 1945 ereignet hatte, nicht wiederholen darf. Umso weniger war man vorbereitet auf einen vergleichbaren Schrecken in kleinerem Maßstab während eines ganzen Jahrzehnts, von 1991 bis 1999, in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo: Massengräber, Morde an Kindern und Greisen, der Genozid von Srebrenica, Flüchtlingskolonnen und Flugzeuge, deren Bomben Brücken und Häuser zerstörten.

Zerstörung eines Staats

Vor aller Augen geschah die Zerstörung eines multiethnischen Staats in Europa, eines Staats, an den Deutsche, Franzosen, Briten, Amerikaner oder Österreicher nur gute Erinnerungen hatten. Sie waren als Touristen an den schönen Küsten gewesen, sie hatten die Spitzensportler Jugoslawiens bewundert, Staatschefs hatten den autokratischen Landesvater Josip Broz Tito empfangen. Zehn Jahre bestialische Kriege zerstörten auch das Land, das die anderen Europäer kannten.

Nach dem Ende des Kosovokrieges, 1999, tauchten dann wieder die Nationen auf, als losgelöste Einzelteile eines einstmals Ganzen, als Gesellschaften, die massenhaftes Leid hinter sich hatten, Traumata in ihrem Inneren und eine ungewisse Zukunft vor sich.

Jetzt, erst jetzt, nach alledem, greift man in den Stadien nicht mehr zu den Erinnerungen an die Ressentiments aus dem Zweiten Weltkrieg, um Nachbarn zu beschimpfen. Jetzt kann man sich auf die jüngeren Konflikte beziehen. Das Ende der Zerfallskriege brachte zwar das Ende direkter Gewalt mit sich, markierte aber erst den Beginn tiefgreifender, gesellschaftlicher, vor allem nationalistischer Transformation.

„Messer, Stacheldraht, Srebrenica“

Am 12. Oktober 2005 trafen die Mannschaften von Serbien-Montenegro und Bosnien-Herzegowina im entscheidenden Match um die Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland im Fußballstadion von „Roter Stern“ in Belgrad aufeinander. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina war zehn Jahre her. Und serbische Hooligans inszenierten sowohl im Stadion als auch auf den Straßen Belgrads ihre Reprise, einen Kleinkrieg gegen bosnische Anhänger. Elf Menschen wurden verletzt. Mit Gesten und Worten drohte man den Opfern des Bosnienkrieges die Fortsetzung der Gräuel an. Als Höhepunkt entrollten serbische Hooligans ein übergroßes Transparent mit der Botschaft „Messer, Stacheldraht, Srebrenica“, eine bewusste, tiefe Beleidigung der Opfer des größten Massakers der jugoslawischen Kriege im Jahr 1995.

Anhand der Ereignisse im Fußball lässt sich, wie mittels der Daten eines Seismografen, die Geschichte des vergangenen Vierteljahrhunderts im ehemaligen Jugoslawien mitsamt seinem Zerfall von Staat und Gesellschaft rekonstruieren.

So auch vor anderthalb Jahren, am 10. Oktober 2014 in Belgrad. Beim Qualifikationsspiel für die Europameisterschaft zwischen Serbien und Albanien in Belgrad kam es zu Tätlichkeiten zwischen den Spielern. Der britische Schiedsrichter pfiff das Spiel kurz vor der Halbzeit ab – es war vorbei. Denn in der 42. Minute war über dem Stadion eine Flugdrohne mit einer Fahne aufgetaucht, die die Umrisse eines – fiktiven – Großalbanien zeigte.

Für die Aktion soll laut serbischen Medien der Bruder des albanischen Regierungschefs Edi Rama verantwortlich sein, der selbst eher auf Versöhnung aus ist. Sein Bruder habe die Drohne von der VIP-Loge aus fliegen lassen. Der beim SC Freiburg spielende Serbe Stefan Mitrovic konnte die Fahne vom kleinen Flugapparat abreißen, worauf albanische Spieler auf ihn losgingen. Aufgebrachte serbische Zuschauer stürmten das Spielfeld, um albanische Spieler zu attackieren, die sich in die Umkleideräume retten wollten. Nach einer Stunde Unterbrechung kehrten die serbischen Fußballer noch einmal kurz auf den Rasen zurück, um sich von ihren Fans zu verabschieden.

Serbischen Berichten zufolge sollen sich die albanischen Spieler geweigert haben, das Match fortzusetzen. Sie hätten als Bedingung verlangt, dass alle, überwiegend Belgrader Zuschauer, das Stadion verlassen. Denn auf Empfehlung der Europäischen Fußball-Union waren laut Albaniens Fußballverband gar keine albanischen Anhänger zu dem Länderspiel gereist. Im Gegenzug sollten dann auch im kommenden Jahr keine serbischen Fans zum Rückspiel in Tirana reisen. Darauf, so hieß es, hätten sich die nationalen Verbände geeinigt.

Anhand der Ereignisse im Fußball lässt sich, wie mittels der Daten eines Seismografen, die Geschichte des vergangenen Vierteljahrhunderts im ehemaligen Jugoslawien mitsamt seinem Zerfall von Staat und Gesellschaft rekonstruieren.

Noch immer sind die Beziehungen zwischen beiden Nationen belastet. Das Kosovo mit seiner großen albanischen Bevölkerung gehörte lange Zeit dem früheren Jugoslawien und später auch noch Serbien an, ehe 1999 der letzte der Zerfallskriege zur späteren Unabhängigkeit des Gebiets führte. Die Ausschreitungen im Belgrader Stadion vom Oktober 2014 gefährdeten zunächst den geplanten Besuch des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama in Serbien. Als erster albanischer Regierungschef sollte er am 22. Oktober 2014 nach Belgrad reisen. Ohne die Anrufe von Angela Merkel bei Edi Rama in Tirana und bei Ministerpräsident Aleksandar Vuĉić in Serbien, wäre der Besuch ins Wasser gefallen.

Helden oder Versager

Sind wir im Jahr 2016 klüger geworden? Ich bin mir nicht sicher. Die Geschichte wiederholt sich, und das spiegelt sich auch im Sport wider. Wenn im ehemaligen Jugoslawien in einem Sportstadion der Funke flog, der einen Krieg entzündete, vielleicht gelingt es uns dann, besser zu erkennen, auf welchen Sportarenen und Fußballplätzen, in welchen Trainingslagern sich heute etwas zusammenbraut.

Vielleicht achten wir generell mehr auf die allzu passionierten Sportler? „Venice Flying Services – Huffman Aviation“, so hieß die Flugschule, an der die nach Aussage ihrer Lehrer „durchschnittlich begabten Piloten“ Mohammed Atta und Marwan Al-Shehhi, 33 und 23 Jahre alt, zu „sportlichen“ Zwecken die Attacke übten, die als Elfter September bekannt wurde, den Angriff auf den westlichen Lebensstil, auf westliche Freiheit und Sicherheit. Es war eine Kriegserklärung, und ihre eskalierenden Folgen reichen bis in die Gegenwart.

Nein, es wäre nicht richtig und nicht fair, den Sport, schon gar nicht den Fußball als meine Lieblingssportart, als Unruhstifter zu brandmarken. Teamgeist, Fairness, Freude an Bewegung, es gibt so viel Gutes am Sport, auch und gerade an fairen Wettkämpfen. Aber er ist eben auch ein Seismograf der Gesellschaft, er kann Ehrgeiz, Rivalität, Betrug, Hass, Nationalismus, Fanatismus und Größenwahn ans Licht bringen und sogar befördern.

Auffällig ist, wie sehr unter Zeitgenossen die Sportler als „Helden“ oder „Versager“ ihrer Nationen gelten können. Wie im Kalten Krieg scheinen sie als Gradmesser der Größe ihrer Länder verwendet zu werden. Parallel zu diesem Phänomen beobachten wir, wie irrational und gefährlich Nationalismen und religiöse Fanatismen wachsen, und sehen Ströme von Flüchtenden auf Lehmwegen, an Grenzen, auf Schienen und Straßen, alles als Folge dieser Leid bringenden Entwicklung.

Am falschen Ort geboren

Immer wenn ich an die Flüchtlinge denke, muss ich an meinem Schulfreund Ismet im Kosovo denken. Ismet, mit dem ich so oft Fußball gespielt habe. Wir nannten ihn „Žungul“, weil er der jugoslawischen Legende aus dem Sportklub Hajduk in den späten 1970er Jahren so ähnlich sah, fast wie geklont. Es war so, als wenn man heute einen Freund hat, der Cristiano Ronaldo ähnlich wäre. Ismet war ein außergewöhnliches Sporttalent, aber sein Problem war: Er wurde am falschen Ort geboren, seine Kindheit fiel in die falsche Zeit. Er wäre vielleicht einer der Größten unserer Generation, Jahrgang 1970, geworden, wenn die Weltgeschehnisse unser Leben nicht so zerstörerisch durcheinandergeworfen hätten.

Ich werde nie das erste Wiedersehen mit Ismet in Deutschland vergessen. Es war im Jahr 1996, mein Leben drehte sich damals um den Alltag in einem Stuttgarter Studentenwohnheim und die Frage, ob aus mir ein Wissenschaftler oder ein Schriftsteller werden sollte. An einem dieser Tage sah ich plötzlich Ismet auf der Königstraße. Er war bei der Arbeit, als Florist! Das große Talent unserer Kindheit und frühen Jugend war nun Blumenhändler in Stuttgart, in Deutschland. Wir waren beide komplett überrascht. Fußball und Jugendträume waren nicht mehr unser Thema. Überall auf dem Balkan und in Europa gab es Flüchtlinge. Wir hatten Leib und Leben gerettet, Ismet einen Job als Flüchtling gefunden, das war die Formel für Glück. Auf meine Frage, ob er versucht hatte, sich vorzustellen, zu spielen, zum Beispiel für den VFB Stuttgart, antwortete er blitzschnell: „Jetzt ist es zu spät für alles.“ Obwohl er nur 26 Jahre alt war. Heute, 20 Jahre später, bereue ich meine Frage.

Tausende von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien in ganz Europa wurden Sportler, von Skandinavien über Deutschland bis nach Österreich und die Schweiz, inzwischen in der zweiten, bald dritten Generation

Ich sah Ismet noch einige Monate lang immer wieder seine Blumen verkaufen, dann war er verschwunden. Wahrscheinlich ist er Vater geworden, hat einen anderen Job gefunden, kümmert sich jetzt um seine Kinder, die vielleicht irgendwo Fußball spielen. Tausende ehemaliger Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in ganz Europa wurden Sportler, von Skandinavien über Deutschland bis nach Österreich und die Schweiz, inzwischen in der zweiten, bald dritten Generation. Kinder mit Eltern serbischer, kroatischer, slowenischer, albanischer Herkunft kicken für Deutschland oder Frankreich. Einige, deren Eltern im Westen leben, spielen inzwischen in deren ehemaliger Heimat, wo sie Land und Sprache erst lernen müssen.

Es hört sich verrückt an, aber viele Albaner sind stolz auf ihren Mit-Weltmeister in Brasilien, den Spieler Shkodran Mustafi, der 2014 die Farben Schwarz-Rot-Gold verteidigte. Als er das Kosovo besuchte, wurde er vom Präsidenten begrüßt, vom Premierminister und dem Minister für Sport – und von Tausenden Fans.

In der Schweiz besteht die halbe Nationalmannschaft aus Albanern aus dem Kosovo oder Mazedonien. Bei der EM in Frankreich spielen Albaner gegen Albaniens Mannschaft – die einen als Schweizer. Ein Vater zweier Spieler aus dem Kosovo, Taulant und Granit Xhaka, musste unter dem Druck der Schweizer und der albanischen Öffentlichkeit entscheiden, welcher der Söhne für welche Mannschaft spielt. Nun, Granit wird für die Schweiz kicken, Taulant für Albanien spielen. Der Beste soll gewinnen! Fairness und Talent sollen die Sieger sein.

Vielleicht ist es die größte Ironie jener Geschichte, in der Sport von Nationalisten missbraucht und entstellt wurde, wie der Sport im Exil wieder zu sich finden kann. In der Diaspora, auf den Umwegen über die Flucht, kann eine neue Mischung der Emotionen entstehen: Wir sind gern bei den anderen und auch gern für uns, wir sind mit den anderen, und zugleich ganz bei uns. Das wäre ein gutes Gelände für die Zukunft des Sports.

Über den Autor
Beqë Cufaj
Autor, Botschafter a. D.

Beqë Cufaj, 1970 im Kosovo geboren, ist langjähriger Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ ). Daneben hat er Romane und Essay-Bücher veröffentlicht. Cufaj war 2018 bis 2021 Botschafter der Republik Kosovo in Deutschland. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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