Illustration: Auf dem linken Rand einer großen weißen Hand ist eine Figur zu sehen, die Fußbälle in ein Fernsehgerät einspeist. Der Fernseher zeigt auf ein Fußballstadion in Katar, das in der Hand versinkt. Am rechten Rand der Hand befindet sich ein großer WM-Pokal, dessen Ball die Weltkugel darstellt und gleich auf das Stadion kippen wird. Rechts daneben stehen Sendetürme, die das Ganze übertragen.

Die Regeln des globalen Spiels

Wenn Sport darauf reduziert wird, tollen Leuten im Fernsehen zuzusehen und dabei Bier zu trinken, ist Sport nichts, was wir selbst hervorbringen. Wir sind lediglich auf unseren Sofas mit den Olympischen Spielen oder Fußball beschäftigt.

Illustration: Sofa und Fernseher vor gelbem Hintergrund. Eine Person schaut Fußball.
Während wir nach einem bizarren Tag der Arbeit und des stundenlangen Pendelns auf einem Sofa sitzen, liefern uns die surrealistischen Seifenopern im Fernsehen einen Überblick über das globale Spiel, Illustration: Ikon Images / Celyn via picture alliance

Man kann kaum anders , als zu denken, dass wir in einem riesigen Zirkus leben. Während wir nach einem bizarren Tag der Arbeit und des stundenlangen Pendelns auf einem Sofa sitzen, liefern uns die surrealistischen Seifenopern im Fernsehen einen Überblick über das globale Spiel: so viele Bomben über der Ukraine, mehr Flüchtlinge an den Grenzen, Probleme mit dem Großkapital, die letzten Treffer von Messi, die Diskussion, wie die Weltmeisterschaft in Qatar endete. Und ja, und wer nach Großbritannien, wie Ungarn, Griechenland, Polen damit droht, die EU zu verlassen, im Namen höherstehender nationaler Ideale.

Sicher ist das eine Art Spiel. Die Berichte von Crédit Suisse und Oxfam zeigen die Kluft zwischen denen, denen das Spiel gehört und denen, die zusehen: 62 Milliardäre besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Welt.

Haben sie all dies produziert? Offensichtlich hängt alles davon ab, welche Rolle man in dem Spiel übernimmt. In São Paulo drängen sich die sehr Reichen in die umzäumten und bewachten Eigentumswohnungen von Alphaville, während die Armen im Viertel sich selbst Alphavella nennen. Jemand muss ja den Rasen mähen und die Einkäufe erledigen.

Der WWF (World Wide Fund For Nature) hat seine globale Beurteilung zur Zerstörung der wilden Tierwelt erstellt. 52 Prozent sind in den 40 Jahren zwischen 1970 und 2010 verschwunden. Im Jahr 2022 sind es fast zwei Drittel. Grundwasserverseuchung oder – Ausschöpfung ist weit verbreitet. Die Ozeane rufen um Hilfe, Klimaanlagen boomen. In Indonesien werden die Wälder abgeholzt, mehr als im Amazonasgebiet, dass vormals weltweit den ersten Platz belegte. Europa wird erneuerbare Energie erhalten, billiges Fleisch und schönes Mahagoni-Holz.

Die Berichte von Crédit Suisse und Oxfam zeigen die Kluft zwischen denen, denen das Spiel gehört und denen, die zusehen: 62 Milliardäre besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Welt.

Das Netzwerk Steuergerechtigkeit hat gezeigt, dass rund 30 Billionen Dollar in Steueroasen liegen, bei einem globalen Bruttoinlandsprodukt von 73 Billionen im Jahr 2012. Im Jahr 2022 schätzte The Economist, dass der Anteil der weltweiten Unternehmensgewinne, der in Steuerparadiese fließt, in den letzten zwei Jahrzehnten von 30 % auf 60 % gestiegen ist. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel zeigt uns, dass offene Derivate, das Spekulationssystem zu Rohstoffen, 630 Billionen Dollar erreicht hat, mehr als das Sechsfache des Welt-BIP im Jahr 2022, und die die gegenwärtigen Schwankungen der Grundnahrungsmittel schon lange vor der Ukraine verursacht haben.

Das größte Spiel auf dem Planeten spielt mit Getreide, eisenhaltigen und nicht eisenhaltigen Mineralien und Energie, in den Händen von im Wesentlichen 16 Konzernen, von denen die meisten formal in Genf sitzen. Dank des Schweizer Globalisierungskritikers Jean Ziegler wissen wir: La Suisse lave plus blanc. In diesem Spiel gibt es keinen Schiedsrichter, wir befinden uns in einem bewachten Umfeld. Die Franzosen haben eine exzellente Definition für unsere Zeit: On vit une époque formidable!

Wir haben 2015 gründliche Arbeit geleistet: eine globale Bestandsaufnahme dazu, wie man Entwicklung in Addis Abeba finanziert, die nachhaltigen Entwicklungsziele für 2030 in New York und das Abkommen zum Klimawandel in Paris. Die Herausforderungen, Lösungen und Kosten sind klar niedergeschrieben. Unsere globale Gleichung lässt sich ganz leicht formulieren: Die Billionen in der Finanzspekulation müssen umgeleitet werden, um soziale Inklusion zu finanzieren, und um den technologischen Paradigmenwandel zu fördern, der es uns ermöglichen wird, den Planeten zu retten. Und uns selbst natürlich. Aber um die Spieler zu motivieren, verkünden die Player der Wall Street die Moral dieses Sports: Gier ist gut!

Geld an der Spitze generiert sagenhaft reiche Degenerierte, die Fußball-Klubs kaufen, und die im hohen Alter an ihre Zukunft denken und eine NGO gründen.

Wir ertrinken in Statistiken. Die Weltbank schlägt vor, dass wir etwas für „die nächsten vier Milliarden“ tun sollten. Gemeint ist die Zahl der Menschen, die „keinen Zugang zu den Vorzügen der Globalisierung“ haben, ein ziemlich taktvoller Verweis auf die Armen. Wir haben auch die Milliarden, die von weniger als zwei Dollar am Tag leben, und sogar die Milliarde, die von weniger als 1,25 Dollar am Tag lebt. Die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft zeigt uns sehr detailliert, wo die 850 Millionen sind, die an Hunger leiden.

Unicef zählt die rund fünf Millionen Kinder, die jedes Jahr sterben, weil sie unzureichenden Zugang zu Nahrung oder sauberem Wasser haben. Das sind ungefähr vier New Yorker Wolkenkratzer am Tag, aber sie sterben in der Stille an armen Orten und die Eltern sind hilflos. Sicherlich verbessern sich die Dinge, aber das Problem ist, dass wir jedes Jahr 80 Millionen mehr Menschen haben – ungefähr die Bevölkerung von Ägypten – und weiter wachsen. Da hilft eine Gedächtnisstütze, denn niemand versteht wirklich, was eine Milliarde ist: Als mein Vater 1900 geboren wurde, waren wir 1,5 Milliarden. Jetzt sind wir 8 Milliarden.

Ich spreche nicht von Altertumsgeschichte, es geht um meinen Vater. Und da es nicht zu Ihrem Alltag gehört, zu verstehen, was ein Milliardär ist, hier ein anderes Bild: 

 

Wenn man eine Milliarde Dollar investiert und läppische fünf Prozent in einen Fonds einzahlt, verdient man 137.000 Dollar am Tag. Das kann man unmöglich ausgeben, also füttert man weitere Finanzkreisläufe, wird noch sagenhaft reicher und füttert noch mehr Finanzakteure.

Bidens Budget zur Sanierung der US-Wirtschaft liegt bei 6 Milliarden Dollar, Larry Fink von BlackRock verwaltet 10 Milliarden. Er hatte es nicht nötig, gewählt zu werden oder ein Programm vorzulegen. Willkommen in der globalen finanziellen Unproduktivität.

Da es sich mehr auszahlt, unsere finanziellen Ressourcen in Finanzprodukte zu stecken, als sie in die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu investieren – wie es die guten alten nützlichen Kapitalisten getan haben – kann Zugang zu Geld keinesfalls stabilisiert werden und noch weniger kann es nach unten durchsickern

Eine in der Hälfte geteilte Münze auf der Straße.
Geld zieht es dorthin, wo es sich am besten vermehren kann; das entspricht seiner Natur, wie auch der Natur der Banker, Foto: Gio Bartlett via unsplash

Geld zieht es natürlich dorthin, wo es sich am besten vermehren kann; das entspricht seiner Natur, wie auch der Natur der Banker. Geld in den Händen des Bodens der Pyramide generiert Konsum, produktive Investitionen, Güter und Arbeitsplätze. Geld an der Spitze generiert sagenhaft reiche Degenerierte, die Fußball-Klubs kaufen, und die im hohen Alter an ihre Zukunft denken und eine NGO gründen. Sicher ist sicher. Thomas Piketty, Michael Hudson, Mariana Mazzucato und viele andere haben schlüssig dargelegt, wie das finanzielle Schneeballsystem funktioniert.

Agenda für geteilten Wohlstand

Viele Menschen haben verstanden, dass die Regeln des Spiels manipuliert sind. Wenn die gleichen sagenhaft Reichen Politik finanzieren und Gesetzgebung gemäß ihrer steigenden Bedürfnisse fördern, Spekulation, Steuerflucht und allgemeine Instabilität zu einem strukturellen und legalen Prozess machen, dann ist eine globale Reparatur eindeutig notwendig. Der Umweltanalytiker Lester Brown hat die Zahlen zur Umwelt zusammengestellt und schrieb Plan B. Er zeigte eindeutig, dass unser aktueller Plan A tot ist. Der Umweltanwalt Gus Speth, die politischen Ökonomen Gar Alperovitz, Jeffrey Sachs und so viele andere arbeiten am Projekt „Das nächste System“, wobei sie implizieren und zeigen, dass das aktuelle System über das eigene Limit hinausgeschossen ist.

Joseph Stiglitz und eine Gruppe Ökonomen starteten „Eine Agenda für geteilten Wohlstand“, wobei sie „die alten ökonomischen Modelle“ ablehnen: Ihrer Ansicht nach „stellen Gleichheit und wirtschaftliche Leistung in Wirklichkeit sich ergänzende und nicht gegeneinander arbeitende Kräfte dar“.

Frankreich brachte die Bewegung Alternatives Economiques hervor, in Großbritannien haben wir die New Economics Foundation, Studenten der Wirtschaftswissenschaften in ihrer traditionellen Form boykottieren ihr Studium in Harvard und an anderen Spitzenuniversitäten. Mehr Licht!

Und die Armen haben dieses Spiel deutlich satt. Es exisieren noch einige sehr wenige isolierte und unwissende Bauern, die bereit sind, mit ihrem Schicksal zufrieden zu sein, was auch immer es ist. Aber es gibt ein weltweites Bewusstsein unter den Armen, dass sie eine gute Schule für ihre Kinder haben könnten und ein anständiges Krankenhaus, um sie darin auf die Welt zu bringen. Zudem können sie im Fernsehen sehen, dass dies funktionieren kann: In Brasilien haben 97 Prozent der Haushalte Fernsehgeräte, wenn auch keine anständige sanitäre Versorgung.

Wie können wir über das Gewässer hinweg, das wir Mittelmeer nennen, Frieden erwarten, wenn 70 Prozent der Arbeitsplätze informell sind, und wenn die Jugendarbeitslosigkeit bei über 40 Prozent liegt? Und wenn die Menschen im Fernsehen die Freizeit und den Wohlstand gegenüber in Nizza sehen? Wir bombardieren sie mit Lebensweisen, die außerhalb ihrer ökonomischen Möglichkeiten liegen. Nichts davon ergibt Sinn und auf einem schrumpfenden Planeten hat es eine explosive Kraft. Wir sind dazu verdammt, zusammenzuleben, die Welt ist flach, die Herausforderungen gehen uns alle an, und die Initiative muss von den Bessergestellten ausgehen.  Und zum Glück sind die Armen nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie haben die Nase voll, und politische Instabilität macht sich breit. Ab einem bestimmten Maß an Ungleichheit ist die Rede von Demokratie eine Farce.

Können wir nicht die Wirtschaft haben, aber auch weniger Ungleichheit, weniger Umweltzerstörung und mehr Lebensqualität? Dies ist keine wirtschaftliche Frage, sondern eine Frage der sozialen und politischen Organisation. Im Jahr 2022 werden wir ein Welt-BIP von 100 Milliarden Dollar erreichen. Geteilt durch die Weltbevölkerung entspricht dies 4.600 Dollar pro Monat und vierköpfiger Familie.

Das bedeutet schlicht und einfach, dass das, was wir derzeit an Waren und Dienstleistungen produzieren, ausreicht, um allen Menschen auf dem Planeten ein würdiges und komfortables Leben zu ermöglichen. Wir haben die Ressourcen, wir haben die Technologien, wir ertrinken in Statistiken über jedes Drama, und wir haben sogar die Schritte auf den Gehweg gemalt: Die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) haben es auf den Punkt gebracht.

 

„Ach! Sagte Bach!“

Ich habe schon immer eine viel umfassendere Sicht von Kultur gehabt als die Tradition: „Ach! Sagte Bach!“ Mit anderen Spaß zu haben, ob man nun etwas baut, schreibt oder einfach Blödsinn macht. Geselligkeit. Ich habe vor Kurzem etwas Zeit in Warschau verbracht. An den Sommerwochenenden sind die Parks und Plätze voller Menschen und es gibt überall kulturelle Aktivitäten. Unter freiem Himmel, mit vielen Menschen, die am Boden saßen oder auf einfachen Plastikstühlen, spielte eine Theatertruppe eine Parodie darüber, wie wir alte Menschen behandeln. Wenig Geld, viel Spaß. Ein bisschen weiter, in verschiedenen Teilen des Lazienki Parks spielten zahlreiche Gruppen Jazz oder klassische Musik, Menschen saßen im Gras oder auf improvisierten Sitzgelegenheiten, Kinder rannten in der Umgebung herum.

In Brasilien wurde unter Kulturminister Gilberto Gil die neue Politik Pontos de Cultura verfolgt: Jede Gruppe Jugendlicher, die eine Band gründen möchte, kann um Unterstützung bitten und Musikinstrumente erhalten oder was auch immer sie benötigen, und kann Auftritte organisieren oder online produzieren. Tausende haben sich gemeldet. Um Kreativität zu fördern, genügt es, ein bisschen zu kratzen, die Jungen haben es im Blut.

Diese Politik wurde von der Musikindustrie stark angegriffen; es wurde gesagt, man nehme den professionellen Künstlern die Butter vom Brot. Sie wollen keine Kultur, sie wollen eine Unterhaltungsindustrie und Geschäfte. Die gesamte kulturelle Bewegung wurde durch den politischen Putsch zu Fall gebracht, der 2016 die Präsidentin Dilma Rousseff stürzte und uns "Austerität" und rechtsextreme Repression brachte. Glücklicherweise kehrt mit der Rückkehr von Lula ins Präsidentenamt im Jahr 2023 die Hoffnung zurück, trotz der fanatischen Angriffe der extremen Rechten.

Den Unterhaltungs-Karneval gibt es natürlich und Touristen bezahlen dafür, dazusitzen und die umwerfende und reichhaltige Show zu sehen, aber der echte Spaß ist woanders [...]

Kann der brasilianische Karneval wieder zu dem werden, was er einst war? Der Karneval in São Paulo 2016 war überwältigend. Straßenkarneval und improvisierte entfesselte Kreativität ist wieder da, wo sie angefangen haben, nachdem diese von Kommunikationsmogul Rede Globo gezähmt und in ein diszipliniertes und teures Showbusiness verwandelt worden waren; sie sind zurück auf den Straßen. Menschen improvisieren Hunderte von Veranstaltungen in der ganzen Stadt, es herrscht wieder ein beliebtes Chaos, wie es nie aufgehört hat zu existieren in Salvador, Recife und in anderen ärmeren Regionen des Landes.

Den Unterhaltungs-Karneval gibt es natürlich und Touristen bezahlen dafür, dazusitzen und die umwerfende und reichhaltige Show zu sehen, aber der echte Spaß ist woanders, wo das Recht eines jeden, zu tanzen und zu singen, zurückerobert worden ist. Mit den Extremisten an der Macht, der Austerität, Corona und Finanzabflüssen ging die Begeisterung verloren. Mit Lula wird sie sicherlich zurückkehren. Aber brauchen wir diese dramatischen Auf- und Abschwünge?

Ich habe früher gut Fußball gespielt. Und ich ging mit meinem Vater los, um die Corinthians im traditionellen Stadion Pacaembu in São Paulo spielen zu sehen. Magische Momente, lebenslange Erinnerungen. Aber vor allem haben wir selbst gespielt, wo immer und wann immer wir konnten, mit echten oder improvisierten Bällen. Das ist keine Nostalgie für die gute alte Zeit, vielmehr ein Gefühl der Verwirrung darüber, dass Sport, wenn er darauf reduziert ist, zuzusehen, wie tolle Leute tolle Dinge im Fernsehen machen, während wir Süßigkeiten knabbern und ein Bier trinken, nicht nur Sport ist, sondern allgemeiner akzeptierte Kultur, die zu einer Angelegenheit zwischen Produzent und Konsument geworden ist, nicht etwas, das zu dem gehört, was wir selbst hervorbringen.

 

Die Unterhaltungsindustrie will keine Kultur, sie will Geschäfte, Foto: John Cameron via unsplash

In Toronto staunte ich darüber, viele Menschen an so vielen Orten spielen zu sehen, Kinder oder alte Menschen, denn zugänglichen öffentlichen Raum gibt es fast überall. Offenbar überleben sie, jedenfalls im Sport, durch den Geist des gemeinsamen Spaßes.

Aber das ist offenbar nicht der Mainstream. Die Unterhaltungsindustrie ist in jedes Zuhause der Welt eingedrungen, in jeden Computer, in jedes Mobiltelefon, in Wartesäle, Busse. Wir sind eine Datenstation, ein Knotenpunkt in der Verlängerung eines riesigen und seltsamen Geplappers. Dieses globale Geplapper wird, von offensichtlichen Ausnahmen abgesehen, durch Werbung finanziert.

Die riesige Werbeindustrie wird im Wesentlichen von einer Handvoll Großkonzerne finanziert, deren Überlebens- und Expansionsstrategie darauf basiert, dass Menschen im Wesentlichen zu Konsumenten werden. Da wir pflichtschuldig ein obsessives Konsumverhalten an den Tag legen, statt Musik zu machen, eine Landschaft zu malen, mit einer Gruppe von Freunden zu singen, Fußball zu spielen oder mit unseren Kindern in einem Schwimmbad unsere Runden zu drehen, funktioniert das System.

Was sind wir doch für ein Haufen konsumierender Einfaltspinsel, mit unseren Zwei- oder Dreizimmerwohnungen, mit Sofa, Fernseher, Computer und Mobiltelefon, die zusehen, was andere Menschen machen.

Wer braucht eine Familie? In Brasilien hält die Ehe 14 Jahre und das wird weniger. Unser Durchschnitt sind 3,1 Menschen pro Haushalt. Europa ist uns voraus, dort sind es 2,4 pro Haushalt. In den USA haben nur 25 Prozent der Haushalte ein Paar mit Kindern. Das Gleiche in Schweden. Fettleibigkeit boomt, dank Sofa, Kühlschrank, Fernsehen und Süßigkeiten. Außerdem boomen Operationen gegen Fettleibigkeit bei Kindern, eine Hommage an den Konsumismus. Und man kann eine Armbanduhr kaufen, die anzeigt, wie schnell das eigene Herz schlägt, nachdem man zwei Häuserblocks gelaufen ist. Und die entsprechende Nachricht ist bereits an den eigenen Doktor unterwegs.

Da wir pflichtschuldig ein obsessives Konsumverhalten an den Tag legen [...], funktioniert das System.

Was soll das alles? Ich sehe Kultur als die Art und Weise, wie wir unsere Leben gestalten. Familie, Arbeit, Sport, Musik, Tanz, all das, was mir sagen wird, ob mein Leben lebenswert ist. Ich lese Bücher und lege nach dem Mittagessen eine Siesta ein, wie es jeder zivilisierte Mensch tun sollte. Alle Säugetiere schlafen nach dem Essen. Wir sind die einzigen lächerlichen Zweibeiner, die zur Arbeit hetzen. Nun, es gibt natürlich diese verfluchte Sache mit dem Bruttoinlandsprodukt. All die wirklich angenehmen Dinge, die ich erwähnt habe, steigern das Bruttoinlandsprodukt nicht, erst recht nicht meine Siesta- Hängematte. Sie steigern nur unsere Lebensqualität. Und das Bruttoinlandsprodukt ist so wichtig, dass Großbritannien Schätzungen zu Prostitution und Drogenhandel miteinbezogen hat, um die Wachstumsraten zu steigern. Wenn man bedenkt, welches Leben wir uns aufbauen, haben sie vielleicht recht.

Wir brauchen einen Realitätsschock. Die Elenden der Erde werden nicht verschwinden. Mauern und Zäune zu bauen, wird nichts lösen. Die Klimakatastrophe wird nicht verschwinden. Wenn wir nicht den Blick auf unseren Technologie- und Energiemix richten, wird das Geld nicht dahinfließen, wo es sollte, es sei denn wir regulieren es. Menschen werden keine politische Kraft erzeugen, die stark genug ist, die notwendigen Veränderungen zu unterstützen, es sei denn, sie sind effektiv informiert über unsere strukturellen Herausforderungen.  In der Zwischenzeit hält uns die Fußballweltmeisterschaft mit Messi und Mbappe auf unseren Couches beschäftigt. Wie auch den Autor dieser Zeilen. Sursum corda.

Über den Autor
Foto von Ladislau Dowbor auf einem Podium
Ladislau Dowbor
Professor für Wirtschaft und Verwaltung an der Päpstlichen Katholischen Universität São Paulo

Professor  Dr. Ladislau Dowbor lehrt Wirtschaft und Verwaltung an der Katholischen Universität São Paulo. Er ist Berater der Vereinten Nationen, verschiedener Regierungen und Kommunen wie das Polis Institute, CENPEC, IDEC und das Paulo Freire Institut. Im Rahmen seiner Forschungen beschäftigt er sich mit der Entwicklung dezentraler Verwaltungssysteme, insbesondere für kommunale Verwaltungen.
Veröffentlichungen

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.