Instrumentalisierung der Krise
Spulen wir in die Gegenwart vor. Nach dem Ausbruch von Corona im ersten Quartal 2020 arbeiteten die europäischen Regierungen ständig im Notfallmodus und konzentrierten die Entscheidungsgewalt an der Spitze der Pyramide. Virusbezogene Politik wurde ad hoc ausgehandelt, wobei parlamentarische Systeme in einigen Ländern Europas weitgehend umgangen wurden. Wissenschaftler wie Cas Mudde, ein niederländischer Politikwissenschaftler, der sich mit politischem Extremismus und Populismus in Europa und den Vereinigten Staaten befasst, warnten vor autoritärem Machtstreben, zum Beispiel des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der das Coronavirus nutzen könnte, um „den letzten Nagel in den Sarg der angeschlagenen Demokratie des Landes zu schlagen.“
Es ist nicht überraschend, dass sich erhebliche Unterschiede in der Einstellung der Menschen zur Corona-Politik herausbildeten. Undurchsichtige, uneinheitliche und voreilige Entscheidungen in ganz Europa führten zu einer politischen Kakophonie, die in einigen Teilen der Bevölkerung für Unbehagen und Unordnung sorgte. Wie wäre es mit ein paar Beispielen aus dem letzten Jahr?
Seit dem Ausbruch von Corona im ersten Quartal 2020 arbeiten die europäischen Regierungen ständig im Notfallmodus und konzentrieren die Entscheidungsgewalt an der Spitze der Pyramide.
Heftige Proteste in Serbien verhinderten einen geplanten zweiten Lockdown; die deutsche Regierung kündigte einen Lockdown zu Ostern an und nahm dies innerhalb kürzester Zeit wieder zurück, und in Italien schleuderten Demonstranten Molotowcocktails und Steine gegen Bereitschaftspolizisten, die Tränengas einsetzten. Das Gute daran ist, dass wir aus dieser chaotischen europäischen Vorgehensweise ein paar Dinge lernen können.
- Erstens: Proteste können zwar ein wirksames Mittel sein, um Unzufriedenheit zu zeigen, aber wir sollten uns nicht einbilden, dass diese Proteste wirklich die Präferenzen der Gesellschaft als Ganzes widerspiegeln (zumindest so lange, bis dies wirklich bewiesen ist).
- Zweitens: Der ständige Wechsel zwischen vollständigen „Lockdowns“ und vollständigen „Wiedereröffnungen“ (nur um die Schließungen wieder vozunehmen) wirkte in einigen Ländern Europas willkürlich und sorgte für politische Unzufriedenheit. Die einen verwiesen auf die Vor- und Nachteile des schwedischen Laissez-faire-Ansatzes, die anderen auf die strengeren französischen Maßnahmen oder die slowakischen Massentests hin.
- Drittens, und das ist der wichtigste Punkt: Die europäische Öffentlichkeit wurde nicht sinnvoll in die politische Entscheidungsfindung zur Eindämmung von Corona einbezogen. Selbst routinemäßige Formen, die Öffentlichkeit mit nur minimalem Aufwand rasch zu beteiligen, wurden kaum eingesetzt. Dies ist umso bemerkenswerter, da in der Literatur über Gesundheitskatastrophen immer wieder empfohlen wird, die Öffentlichkeit zu beteiligen.
Statistiken zeigen, dass die Risiken während einer Epidemie zu einem stärker betroffenen Opfer zu werden, in der Gesellschaft ungleichmäßig verteilt sind. Das heißt, je nach Geldbeutel, sozialer Schicht, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und sozialer Einbindung ist es wahrscheinlicher, dass man Schaden nimmt bzw. sich schneller erholt als andere. Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht in die Lage versetzt werden, sich an Gesundheitsmaßnahmen zu beteiligen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass blinde Flecken entstehen, obwohl die Maßnahmen oft eine einheitliche Herangehensweise verlangen.
Empirische Belege zeigen zudem, dass die Öffentlichkeit Risiken in ihrem eigenen Kontext kalkuliert und rechtfertigt. So haben etwa Verkehrsforscher der TU Delft herausgefunden, dass Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen Anordnungen zur Selbstquarantäne und Reisebeschränkungen häufiger ignorierten, da ihre relativen Einkommensverluste höher waren als bei anderen Einkommensgruppen.
Gleichwohl waren die Bürger alles andere als teilnahmslos. Viele Probleme isolierter und älterer Haushalte wurden durch selbstorganisierte Hilfe unzähliger Freiwilligen-Projekte angegangen. In Ermangelung staatlicher Maßnahmen beschlossen die Bürger, ihre eigenen COVID-19-Maßnahmen zu organisieren. Es wäre völlig kurzsichtig, die Öffentlichkeit als eine panische Menge zu behandeln, die kontrolliert werden müsse.