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Illustration: schematisch gezeichnete Personen mit Social Media Zeichen im Kopf

Ein Tisch mit vier Beinen

In Europa hat jeder das Recht auf Gedankenfreiheit. Die Freiheit, Ideen zu erforschen, ist für eine freie Gesellschaft von grundlegender Bedeutung, und nirgendwo gilt dies mehr als in Forschung und Bildung. Diese Freiheit ist auf der ganzen Welt unter Druck. Wie kann Europa sie verteidigen?

Das Scholars at Risk Network, ein US-basiertes internationales Netzwerk akademischer Institutionen, hat Hunderte von Angriffen auf die akademische Freiheit dokumentiert. Dazu gehören Morde, Gewalt und das Verschwinden von Wissenschaftlern, Mitarbeitern und Studenten, ungerechtfertigte Strafverfolgung und Inhaftierung, Verlust des Arbeitsplatzes und Ausschluss vom Studium, Reisebeschränkungen und die Schließung von Universitäten in 47 Ländern.

Die Anthropologin Homa Hoodfar saß monatelang in einer iranischen Gefängniszelle. Unerschrocken fand sie dennoch einen Weg zu schreiben. „Da ich keinen Stift und kein Papier hatte, benutzte ich das hintere Ende meiner Zahnbürste als Stift und die Wände meiner Zelle als Schreibunterlage und Schreibtisch.“ Das Thema, über das Hoodfar schrieb, war die akademische Freiheit, die sie als einen Tisch mit vier Beinen beschreibt. Das erste ist die Freiheit, zu forschen und zu lehren. Das zweite Bein ist die Freiheit der Studierenden, das Gleiche zu tun. Das dritte Bein ist das Recht, sich an der Leitung akademischer Einrichtungen zu beteiligen, damit diese nicht von kommerziellen Interessen beeinflusst werden, und das vierte Bein ist das Recht von Akademikern und Mitgliedern von Bildungseinrichtungen, als öffentliche Intellektuelle zu handeln.

Eckpfeiler der liberalen Demokratie

Diese Freiheit ist ein Eckpfeiler der liberalen Demokratie. Wer die wissenschaftliche Forschung, Lehre und Schreiben unterdrückt, tut dies, um die Bürger daran zu hindern, frei zu denken, Ideen auszutauschen und den Status quo in Frage zu stellen. Die akademische Freiheit muss verteidigt werden, aber oftmals hat Europa dabei versagt. Einige europäische Universitäten und akademische Verlage schauen lieber weg, als lukrative Vereinbarungen in Ländern wie China zu gefährden. Die Cambridge University Press gibt die wissenschaftliche Zeitschrift China Quarterly heraus.

Im Jahr 2017 beschloss der Verlag, über 300 Artikel von seiner chinesischen Website zu entfernen, und zwar auf Wunsch seines Importeurs in China. Erst nach einem Sturm akademischer Proteste stimmte der Verlag zu, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Die deutsche Verlagsgruppe Springer Nature erklärte sich bereit, mehr als 1.000 Artikel von den Websites des Journal of Chinese Political Science und der International Politics, zwei Springer- Zeitschriften, auf dem chinesischen Markt zu entfernen. Die Artikel enthielten Schlüsselwörter, die von den chinesischen Behörden als politisch „sensibel" eingestuft wurden, darunter „Taiwan“, „Tibet“ und „Kulturrevolution“. Springer Nature hat seine Entscheidung nicht rückgängig gemacht.

Die akademische Freiheit muss verteidigt werden, aber oftmals hat Europa dabei versagt. 

„Fake News“ gehören zu den bestimmenden Themen unserer Zeit. Wie nie zuvor schüren im Internet sensationslüsterne und irreführende Geschichten Verschwörungstheorien und Misstrauen. Fake News zu verbreiten, gehört neben Spionage, Sabotage und Propaganda zu den cyberbasierten Techniken, die Staaten einsetzen, um Konkurrenten und Gegnern zu schaden.

Die Praxis, Informationen zu manipulieren, ist nicht neu. Es ist seit Langem bekannt, dass Politiker die Wahrheit selektiv einsetzen, und Werbetreibende verdienen damit ihr Geld. Neu ist jedoch das Ausmaß der heutigen Desinformation, das Ausmaß, in dem sie von Regierungen und politischen Führern genutzt wird, und die zersetzende Wirkung, die dies auf das Vertrauen in demokratische Gesellschaften hat.

Digitale Unordnung

Ein leuchtendes Handy liegt auf neon-orangenem Hintergrund.
Mehr als ein Drittel der jungen Menschen im Vereinigten Königreich geben an, es falle ihnen schwer, in den sozialen Medien zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, Foto: Brian McGowan via unsplash

Früher verbreiteten sich Nachrichten mit der Geschwindigkeit der Übertragung durch Zeitungen, Radio und Fernsehen. Heute verbreiten das Internet und die sozialen Medien Informationen sofort an Millionen von Menschen auf der ganzen Welt; ihr Umfang und ihre Geschwindigkeit sind beispiellos. Lügen verbreiten sich leider am schnellsten: sechsmal schneller als die Wahrheit, wie eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) aus dem Jahr 2018 zeigt.

Die elektronischen Medien haben die Möglichkeiten von Regierungen erweitert, Gedanken und Gefühle ihrer Zielgruppen im In- und Ausland zu beeinflussen. Immer mehr Regierungen nutzen diese Möglichkeiten, um zu manipulieren und zu kontrollieren. Von China bis zur Türkei ist der digitale Autoritarismus auf dem Vormarsch.

Regierungen zensieren elektronische Medien oder sperren sie komplett, um ihre Bürger daran zu hindern, Kritik oder „kulturelle Verschmutzung“ aus dem Ausland zu verbreiten oder darauf zuzugreifen; Systeme künstlicher Intelligenz und Überwachungskameras werden eingesetzt, um Verhalten zu kontrollieren. Russische Trolle und Bots verbreiten Desinformationen.

Desinformationen erschweren es, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. Sie verstärken das Misstrauen in einer Zeit, in der das Vertrauen in die meisten demokratischen Länder bereits auf einem Tiefpunkt ist. Mehr Amerikaner beziehen ihre Nachrichten aus sozialen Medien als aus Zeitungen, aber die Mehrheit empfindet es als schwierig, zwischen Wahrheit und Online-Desinformation zu unterscheiden. Mehr als ein Drittel der jungen Menschen im Vereinigten Königreich geben an, es falle ihnen schwer, in den sozialen Medien zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden; ein ähnlicher Anteil sagt, dass sie durch die sozialen Medien ein negativeres Bild von der Politik bekommen haben.

Eine sachkundige politische Entscheidung erfordert eine fundierte Debatte. Wenn Fakten zu Meinungen und Meinungen zu Fakten werden, leidet die Demokratie. Dies ist ein besonderes Problem in den sozialen Medien, wo Algorithmen die Einnahmen steigern, indem sie die Nutzer dazu bringen, auf Material zuzugreifen, das ihre bestehenden Ansichten und Vorurteile unterstützt. 

Lügen verbreiten sich [...] am schnellsten: sechsmal schneller als die Wahrheit, wie eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zeigt.

Dennoch ist es wichtig, zwischen der Verantwortung von Regierungen und der von Online-Kommunikationsplattformen zu unterscheiden. Einige Regierungen verbreiten absichtlich Desinformationen; soziale Medien lassen dies manchmal zu. Die Unterscheidung gerät leicht aus dem Blickfeld, wenn beide Phänomene als Fake News bezeichnet werden. Dies ist ein Grund, warum der Begriff „Fake News“ am besten vermieden werden sollte.

Seit Donald Trump den Begriff „Fake News“ eingeführt hat, um Journalisten und Medien ihre Legitimation abzusprechen, haben Politiker ihn auf der ganzen Welt begeistert aufgegriffen, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Untersuchungen der Universität Oxford haben ergeben: Der Begriff wurde 2017 von politischen Führern in Birma, Kambodscha, China, Ägypten, Frankreich, Deutschland, Hongkong, Ungarn, Kuwait, Libyen, Malaysia, den Philippinen, Polen, Russland, Singapur, Somalia, Syrien, Tansania, Thailand, der Türkei, den USA und Venezuela verwendet. In Tansania beispielsweise wurden mehrere unabhängige Zeitungen und Radiosender geschlossen oder suspendiert, weil Präsident Magufuli die Berichterstattung als „ungenau“ bezeichnete. Das alte Nazi-Schimpfwort der „Lügenpresse“ hat weltweit Anhänger gefunden.

Fancy Bear, eine russische Cybergruppe, hackte die Server der Demokratischen Partei in den USA und veröffentlichte E-Mails an WikiLeaks [...].

Jetzt, da der Begriff „Fake News“ zu einem Instrument der Zensur geworden ist, ist es am besten, ihn zu vermeiden. Die Europäische Union verwendet stattdessen den Begriff „Desinformation“. Unter Desinformation versteht man nachweislich falsche oder irreführende Informationen, die zu wirtschaftlichen Zwecken oder zur Täuschung der Öffentlichkeit erstellt, präsentiert und verbreitet werden und der Öffentlichkeit Schaden zufügen können. Zum öffentlichen Schaden gehören Bedrohungen demokratischer Prozesse sowie öffentlicher Güter wie Gesundheit, Umwelt oder Sicherheit. Nicht zu den Desinformationen zählen versehentliche Fehler, Satire und Parodie sowie eindeutig als parteiisch gekennzeichnete Nachrichten und Kommentare.

Systematischer Gebrauch von Desinformation

Russland praktiziert systematisch Desinformation, um liberalen Demokratien zu schaden. Die russische Militärdoktrin befürwortet ausdrücklich den Informationskrieg als militärische Taktik. Russische Nationalisten bedauern den Verlust von Territorium und Status nach dem Zerfall der Sowjetunion, den sie auf feindliche westliche Absichten zurückführen. Sie sehen Russland unter ständigem Beschuss durch westliche Ideologie und Informationsoperationen. Um sich zu verteidigen, muss Russland seine eigenen Informationstaktiken, einschließlich „dezinformatsiya“, gegen die USA und Europa einsetzen.

Russland nutzt traditionelle Instrumente wie den staatlichen Satellitenfernsehsender Russia Today und die Nachrichtenagentur Sputnik, aber auch Cyberoperationen. Fancy Bear, eine russische Cybergruppe, hackte die Server der Demokratischen Partei in den USA und veröffentlichte E-Mails an WikiLeaks, um Hillary Clintons Präsidentschaftskampagne 2016 zu schaden.

Eine vom US-Senat in Auftrag gegebene Analyse zeigt, dass Russland auf allen wichtigen Social-Media-Plattformen Konten unter falschen Namen nutzte, um die Präsidentschaftswahlen 2016 zu beeinflussen (Facebook, Google+, Instagram, PayPal, Pinterest, Reddit, Tumblr, Twitter, Vine, YouTube). Konservative Wähler wurden mit Beiträgen zu den Themen Einwanderung, Waffenrecht und Rasse angesprochen. Am häufigsten wurden Afroamerikaner angegriffen, um Stimmen für Hillary Clinton zu unterdrücken. Die Forscher stellten fest, dass die Botschaften die Republikanische Partei und insbesondere Donald Trump begünstigen sollten.

Die Hauptlast der russischen Informationsoperationen liegt jedoch in Europa. Russische soziale Medien stifteten Verwirrung über die Rolle der russischen Streitkräfte bei der Eroberung der Krim und führten eine Kampagne, um die ukrainische Regierung für die Zerstörung des Malaysia Airline Fluges 17 verantwortlich zu machen. Das russische Staatsfernsehen verbreitete eine Geschichte, wonach ein 13-jähriges russlanddeutsches Mädchen von Migranten vergewaltigt worden sei. Nachdem die deutsche Polizei die Geschichte als unwahr entlarvt hatte, nutzte der russische Außenminister Lawrow sie, um Deutschland zu kritisieren. Der Fall Lisa schürte die zunehmend einwanderungsfeindliche Stimmung in Deutschland. Am 22. März 2016, dem Tag, an dem Terroristen 32 Menschen in Brüssel töteten, verbreiteten mit Russland verbundene Twitter-Konten Hashtags wie #islamistheproblem, #Islamkills und #StopIslam, die in Belgien und den Niederlanden zu den fünf wichtigsten Trending Topics gehörten.

Kommunikation ist Kultur

In Frankreich veröffentlichten russische Hacker Gigabytes an Daten – darunter gefälschte E-Mails –, um Emmanuel Macrons Wahlkampf 2017 zu schaden. In Schweden entdeckten Forscher Dutzende von Fälschungen und gefälschten Artikeln, darunter ein gefälschtes Schreiben, das angeblich vom Verteidigungsminister verfasst wurde und den Verkauf hochentwickelter Waffen an die Ukraine ankündigt.

In Estland, Lettland, Litauen und der Ukraine nutzt Russland soziale Medien, um einen Keil zwischen die russischstämmige oder russischsprachige Bevölkerung und die Regierungen der Gastländer, die NATO und die Europäische Union zu treiben.

Russische Bots und Trolle bemühen sich ständig darum, die Europäische Union zu delegitimieren. Sie wird als korrupt, dekadent, verlogen, impotent und von Muslimen überrannt dargestellt.

Vogelperspektive: Alles in Schwarz, zwei Hände tippen auf einer Tastatur.
Russland praktiziert systematisch Desinformation, um liberalen Demokratien zu schaden, Foto: Tim Goode via picture alliance

Im Vereinigten Königreich haben russische Medien den Brexit aktiv unterstützt. Pro-russische lokale Medien in der EU und auf dem Balkan greifen die Anti-EU-Narrative auf.

Es ist unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, wie wirksam diese Desinformationskampagnen sind. Einige sind unüberlegt, wie etwa die Bemühungen, Macrons Wahlkampf zu stören, aber insgesamt sind sie gut organisiert und systematisch. Zwischen 2015 und 2017 wurden beispielsweise Informationen, die von russischen Twitter-Trollen verbreitet wurden, mindestens 30 Mal von führenden Nachrichten- und Meinungsseiten in den Niederlanden zitiert. Die EU hat 3.500 Beispiele für Kremlfreundliche Desinformationen identifiziert, die öffentlich zugänglichen Fakten widersprechen und in vielen Sprachen und bei vielen Gelegenheiten wiederholt wurden. 

Die russischen Desinformationskampagnen müssen ernst genommen werden, weil sie das wachsende Misstrauen gegenüber liberalen Demokratien ausnutzen – und verstärken. Dieses Misstrauen hat viele Ursachen; einige sind politisch, andere haben mit der Wirtschaft und Gesellschaft zu tun. Eine der Hauptursachen ist die Rolle, die die sozialen Medien spielen. Während Russland absichtlich Misstrauen verbreitet, tun dies die sozialen Medien unabsichtlich.

Russische Bots und Trolle bemühen sich ständig darum, die Europäische Union zu delegitimieren.

In den sozialen Medien bezahlen die Menschen mit persönlichen Daten für Unterhaltung und Nachrichten, die sie für kostenlos halten. Der daraus resultierende Verlust der Privatsphäre ist ein Grund für Misstrauen; Zweifel an der Verlässlichkeit von Informationen in sozialen Medien sind ein weiterer. „Kommunikation ist Kultur", wie der amerikanische Kommunikationstheoretiker, Medienkritiker und Journalismus-Dozent James Carey schrieb. Die führenden digitalen Kommunikationsunternehmen üben heute eine außerordentliche kulturelle Macht aus. Amazon hat einen Anteil von 70 Prozent am E-Book-Markt. Google hat einen Marktanteil von 88 Prozent bei der Suchwerbung. Facebook (einschließlich Instagram, Messenger und WhatsApp) kontrolliert mehr als 70 Prozent der sozialen Medien auf mobilen Geräten. Google beherrscht mehr als 90 Prozent des Weltmarktes für Suchmaschinen. Facebook hat mehr Nutzer als China Einwohner.

Reparatur des Internets

Wie können diese digitalen Giganten zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sich so viel Macht in so wenigen Händen konzentriert? Einige glauben, die Technologie könne dazu beitragen, das Gleichgewicht zwischen Bürgern und Unternehmen wiederherzustellen. Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide Web, hat ein Projekt gestartet, um das Internet zu verbessern. Verärgert über den Missbrauch der Privatsphäre im Internet möchte Berners-Lee das derzeitige Modell ersetzen, bei dem die Nutzer persönliche Daten an digitale Giganten im Austausch für einen vermeintlichen Nutzen weitergeben müssen. Seine Initiative mit dem Namen Solid (Social Linked Data) ermöglicht es den Nutzern, Informationen zu finden und auszutauschen, ohne die Privatsphäre opfern zu müssen.

Andere sind der Meinung, dass die öffentlichen Behörden eingreifen müssen. Dies war der vorherrschende Ansatz in Europa. Die EU hat sich auf strenge Regeln geeinigt (Datenschutz- Grundverordnung), damit Unternehmen die persönlichen Daten ihrer Kunden schützen. Die Europäische Kommission hat außerdem eine Rekordstrafe von 4,3 Milliarden Euro gegen Google verhängt, weil es mit Android seine dominierende Stellung auf dem Markt zementiert hat. Es könnte mehr getan werden, um die Macht der Oligopole zu bändigen. Die EU könnte zum Beispiel von Unternehmen mit einem Anteil von mehr als zehn Prozent an einem datengesteuerten Markt verlangen, anonymisierte Daten mit anderen Unternehmen zu teilen.

Wie können diese digitalen Giganten zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sich so viel Macht in so wenigen Händen konzentriert?

Die EU hat bisher noch keine Rechtsvorschriften erlassen, um digitale Händler zu zwingen, gegen Online-Desinformation vorzugehen. Ihr bevorzugter Ansatz ist bisher die Selbstregulierung. Die Kommission hat einen EU-Verhaltenskodex herausgegeben, um den privaten Sektor gegen Desinformation zu mobilisieren. Dieser Ansatz mag seine Vorteile haben. Als unbeabsichtigter Nebeneffekt könnte er sogar Plattformen wie Facebook, Google, YouTube und Twitter dazu veranlassen, Schritte zur Achtung und Förderung der Menschenrechte zu unternehmen.

Der globale Standard für Unternehmen, die die Rechte ernst nehmen, wird durch die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte gesetzt. In diesen Grundsätzen, die vom UN-Menschenrechtsrat gebilligt wurden, werden Unternehmen aufgefordert, Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit ihrer Geschäftstätigkeit zu verhindern und zu bekämpfen. Unternehmen sollten unter anderem eine Sorgfaltsprüfung in Bezug auf die Menschenrechte durchführen und für Abhilfe sorgen, unter anderem durch zugängliche, funktionierende Beschwerdemechanismen.

Nicht ohne Risiken

Der Ansatz der EU ist jedoch nicht ohne Risiken. Indem die Regierungen die Unternehmen sozialer Medien verpflichten, als Torwächter zu fungieren und unerwünschte Inhalte herauszufiltern, delegieren sie Regulierungsfunktionen an private Unternehmen. Diese Art der Privatisierung öffentlicher Aufgaben wirft zwei Probleme auf: Die Unternehmen könnten versucht sein, rechtmäßige Inhalte herauszufiltern, um einer Haftung zu entgehen. Dies ist bereits der Fall. Facebook verbietet Anzeigen mit sexuell orientiertem Inhalt, einschließlich solcher zu künstlerischen oder pädagogischen Zwecken. Dies veranlasste das Unternehmen, Anzeigen des flämischen Fremdenverkehrsamtes zu entfernen, die „nacktes“ Material enthielten – ein Gemälde von Peter Paul Rubens, das den vom Kreuz abgenommenen Jesus in einem Lendenschurz zeigt. Als spielerische Reaktion veröffentlichte das Flämische Fremdenverkehrsamt ein Video, in dem die „Nacktpolizei“ Besucher des Rubenshauses in Antwerpen verjagt. Es bedauerte aber auch, dass es sein einzigartiges kulturelles Erbe nicht im beliebtesten sozialen Netzwerk der Welt zeigen kann.

Die Risiken für die freie Meinungsäußerung, die damit verbunden sind, Kontrolle an die sozialen Medien zu übertragen, liegen auf der Hand. Es wäre eine traurige Ironie, wenn Europa, das versucht, seine Bürger gegen Desinformation zu schützen, am Ende indirekt deren Meinungsfreiheit einschränken würde.

Es wäre eine traurige Ironie, wenn Europa, das versucht, seine Bürger gegen Desinformation zu schützen, am Ende indirekt deren Meinungsfreiheit einschränken würde.

Das zweite Problem bei der Übertragung öffentlicher Verantwortung an private Unternehmen ist das der Rechenschaftspflicht. Regierungen sind den Bürgern gegenüber demokratisch rechenschaftspflichtig; Unternehmen sind bestenfalls ihren Anteilseignern gegenüber rechenschaftspflichtig. Die Geheimhaltung, mit der Facebook und andere soziale Medien ihre Daten umgeben, macht eine Kontrolle von außen äußerst schwierig.

 Eine offizielle Untersuchung im Vereinigten Königreich kam zu dem Schluss, dass Facebook nicht transparent genug war, um es den Nutzern zu ermöglichen, nachzuvollziehen, wie und warum sie von einer politischen Partei oder Kampagne angesprochen werden könnten. Die Europäische Kommission stimmt zu, dass die sozialen Medien es versäumt haben, angemessen auf die Herausforderung durch Desinformation und die manipulative Nutzung ihrer Plattformen zu reagieren. 

In jedem Fall werden Selbstregulierung und freiwillige Instrumente die digitalen Händler wahrscheinlich nicht dazu bringen, ihr Geschäftsmodell zu ändern, das auf dem Verkauf der Daten beruht, die die Nutzer freiwillig oder unwissentlich zur Verfügung stellen. Echte Transparenz und Rechenschaftspflicht, einschließlich zugänglicher Rechtsbehelfe, stoßen nach wie vor auf Widerstand und erfordern wahrscheinlich eine staatliche Regulierung. Einige Regierungen, darunter Deutschland, haben diesen Weg bereits eingeschlagen. Das britische Parlament möchte, dass die nichtfinanziellen Aspekte von Technologieunternehmen, einschließlich ihrer Sicherheitsmechanismen und Algorithmen, geprüft werden, um sicherzustellen, dass sie verantwortungsvoll handeln. Irgendwann könnte eine europäische Gesetzgebung erforderlich sein, um für gleiche Wettbewerbsbedingungen zu sorgen.

Medienkompetenz entscheidend

Jeder dieser Ansätze – Technologie, Regulierung und Selbstregulierung – kann dabei helfen, Desinformation zu bekämpfen. Letztlich kommt es aber auf den einzelnen Nutzer an: Die Bürger müssen sich in der Lage fühlen, Desinformation zu erkennen und zu verhindern. Die Menschen müssen die Risiken verstehen und sich sicher fühlen, sie zu vermeiden. Medientraining kann dazu beitragen, die kognitive Widerstandsfähigkeit, die notwendigen Fähigkeiten und Einstellungen aufzubauen, um sich gegen Manipulationen in sozialen oder traditionellen Medien zu wehren. Medienkompetenz kann eine entscheidende Rolle für das bürgerschaftliche Engagement junger Menschen spielen.

Schulen und Universitäten sollten hier eine Vorreiterrolle übernehmen, aber viele sind knapp bei Kasse und nur wenige werden dafür ein Budget haben.

EU-Flagge und Weltkugel vor Daten auf einem Bildschirm.
Medientraining kann dazu beitragen, die notwendigen Fähigkeiten und Einstellungen aufzubauen, um sich gegen Manipulationen in sozialen oder traditionellen Medien zu wehren, Foto: Klaus Ohlenschlaeger via picture alliance

Die EU hat einen Rahmen für die digitale Kompetenz der Bürger vorgeschlagen. Sie hat auch ein kleines Pilotprojekt, Media Literacy for All, gestartet, aber jede substanzielle finanzielle Unterstützung wird von nationalen Institutionen kommen müssen. Kulturelle Organisationen und Nichtregierungsorganisationen, die in dieser Debatte bisher eher eine Nebenrolle spielen, könnten viel zur Sensibilisierung beitragen.

Die Bürger brauchen leicht zugängliche, vertrauenswürdige Informationsquellen, sowohl online als auch offline. Unabhängiger, unparteiischer Journalismus ist ein öffentliches Gut. Ohne ihn kann die Demokratie nicht funktionieren, wie Autokraten nur zu gut wissen. Ein solcher Journalismus ist teuer, insbesondere, wenn er Massenmärkte bedient. Crowdfunding kann manchmal erfolgreich sein, wie The Guardian zeigt, aber das funktioniert am besten in großen und liquiden Sprachmärkten wie dem englischen. Die Bürger brauchen Informationen in ihrer Muttersprache, und das benachteiligt Menschen in Minderheitensprachen. Qualitätsjournalismus braucht öffentliche Unterstützung, auch in Europa. Das EU-Programm Kreatives Europa kann die Medienvielfalt fördern, ist aber klein und unterfinanziert. Die EU-Regierungen müssen sich einschalten und einen Beitrag leisten.

Über den Autor
Gijs de Vries
Politiker

Gijs de Vries ist Senior Visiting Fellow an der London School of Economics and Political Science (LSE). Er ist ein ehemaliges Mitglied der niederländischen Regierung und des Europäischen Parlaments. Er war Vorstandsmitglied der Europäischen Kulturstiftung und Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations, sowie des Transatlantic Policy Network.