Eine Hand hält einen Bleistift und radiert das Wort Demokratie aus

Kultureller Bürgerkrieg

Europa und die Vereinigten Staaten erleben einen kulturellen Bürgerkrieg, der in den Köpfen der Menschen ausgetragen wird und in dem es um die kulturelle Hegemonie geht. Darum, zu definieren, wer wir sind, in welcher Art von Gesellschaft wir leben und wen wir als unsere Freunde sehen.

Europäer und Amerikaner haben es lange Zeit genossen, sich als Beispiele für zivilisierte, kultivierte und demokratisch denkende Menschen zu präsentieren. Sie prahlten gerne damit, dass ihre Aufklärung so einzigartig sei, die, neben anderen guten Dingen, schließlich zur Aufzeichnung der Menschenrechte geführt hat. Während des Kalten Kriegs sahen sich die Menschen im Westen als demokratischen Gegenpol zur kommunistischen Diktatur und nach deren Ende als libertäre Alternative zu ethnischem Chaos und muslimischem Extremismus. Sie waren die Guten, was mit ihren Werten Liberalismus, Freiheit und Demokratie zu tun hatte, zumindest aus ihrer Perspektive.

Es schien dabei nicht allzu relevant zu sein, dass diese Selbstwahrnehmung bei früheren Kolonien wie Namibia, Algerien, Vietnam und so vielen anderen Orten oder aus der Sicht von Auschwitz einige Zweifel hervorgerufen haben dürfte. Die Menschen im Westen stellten sich gerne vor, ihre Länder und Werte oder ihr ökonomisches System seien Leuchtfeuer zur Orientierung der gesamten Menschheit. Historischer „Fortschritt“ bedeutete, dass alle anderen Länder und Kulturen, nachdem sie einmal eine „Entwicklung“ durchlaufen hätten, mehr und mehr wie der Westen werden würden.

Die Modernisierungstheorie der 1950er und 1960er Jahre drückte diese Erwartung sehr offen aus und der betrunkene Triumphalismus nach dem Ende des Kalten Kriegs produzierte viele Beispiele für solches Wunschdenken. Ein Paradebeispiel war die außergewöhnliche Idee, sogar die gesamte Geschichte sei an ihrem Ende angelangt. Westliche Werte waren die Erfüllung dieser menschlichen Geschichte. Wenn man zurückblickt, ist man versucht, sich über solche Exzesse von kulturellem Narzissmus lustig zu machen. Aber tatsächlich waren sie keineswegs lustig. Selbsttäuschung ist etwas Trauriges, zumindest, wenn wir uns daran erinnern, wo die USA und Westeuropa inzwischen kulturell und politisch angekommen sind, und wie schnell dies geschah.

Was bedeuten „westliche Werte“ heute, was sind „europäische Werte“ im Jahr 2018 und darüber hinaus? Die Vereinigten Staaten von Amerika sind – immer noch – das wichtigste Land der Welt und obschon wir zögern würden, es noch „den Anführer der freien Welt“ zu nennen, ist es immer noch demokratisch und westlich. Was aber ist mit den „westlichen Werten“ passiert?

Über die westlichen Werte

US-Präsident Donald Trump scheint alles zu verachten, was darunter fällt. Er ist erkennbar stolz darauf, rassistisch zu sein. Er ist fremdenfeindlich, zumindest wenn die Menschen nicht aus Norwegen stammen. Haiti, El Salvador und Afrika sind „DrecklöcherLänder“, „shithole countries“, soweit er weiß. Mexikaner sind Drogendealer und Vergewaltiger, Moslems sogar noch gefährlicher. In seinem eigenen Land versteht Trump Rechtstaatlichkeit oder Gewaltenteilung nicht und er akzeptiert diese auch nicht. Er denkt, systematisches Lügen sei sein unveräußerliches Recht, denn seine Lügen sind „alternative Fakten“; gleichzeitig wird jeder andere beschimpft, der nicht die Wahrheit gesagt hat (selbst wenn dies der Fall war). Er kennt nicht die Bedeutung der freien Medien oder einer demokratischen Opposition und es schert ihn auch nicht. Er droht einer ausländischen Diktatur mit – nuklearer – Zerstörung, und kurz darauf macht er eine Kehrwende, um zu betonen: „Ich habe wahrscheinlich eine sehr gute Beziehung zu Kim Jong-un.“ Der zufällig die gleiche Person ist, die Trump kurz zuvor Anführer einer „Bande von Kriminellen“ nannte und über den er später sagte, er sei ein „Wahnsinniger“ oder „ein kranker Welpe.“ Es ist „wahrscheinlich“ nicht beruhigend, dass der US-Präsident plötzlich meint, er habe eine gute Beziehung mit diesem Gentleman.

Hier gibt es zwei wichtige Dinge anzumerken:

  • Erstens ist es ziemlich schwierig, auszumachen, was überhaupt unter diesen so viel besprochenen „westlichen Werten“ zu verstehen sei, wenn dieser Anführer der freien Welt spricht – oder Nachrichten verschickt.
  • Zweitens ist das Hauptproblem nicht die Person Donald Trump, sondern, dass seine Präsidentschaft auf eine große kulturelle Verschiebung in den USA verweist.

Vor nicht allzu langer Zeit wäre es noch undenkbar gewesen, dass eine Person zum amerikanischen Präsidenten gewählt wird, die arrogant damit prahlt, aufgrund ihres Prominentenstatus einer Frau an „die Pussy fassen“ zu können. Das kulturelle Klima in den USA hat sich dramatisch verändert und die Auswirkung auf die politischen Werte ist beträchtlich.

In Europa und darüber hinaus können wir ebenfalls entsprechende Entwicklungen beobachten. Die Brexit-Kampagne in Großbritannien opferte Verstand, rationale Debatte und Logik verwirrten Gefühlen und Fremdenfeindlichkeit. Zu einem hohen Grad war es ein Referendum gegen Migration, mit Untertönen von „Großbritannien zuerst“. Gleichzeitig haben wir Regierungen in Polen und Ungarn, die extreme nationalistische Diskurse führen, auch hier mit starken fremdenfeindlichen Elementen und antimuslimischer Hysterie. Bemerkenswerterweise schwächen auch sie die Unabhängigkeit der Gerichte, beschränken die Meinungsfreiheit und arbeiten auf eine Demokratie hin, die von oben kontrolliert wird. Nach den Regeln zu spielen und die Werte der Europäischen Union anzunehmen, scheint für diese EU-Mitglieder nicht akzeptabel zu sein. In Frankreich, in den Niederlanden, in Österreich, Deutschland und Italien beobachten wir den Aufstieg rechter populistischer Bewegungen, die sich an den Wahlurnen sehr gut schlagen.

Ein Paradebeispiel war die außergewöhnliche Idee, sogar die gesamte Geschichte sei an ihrem Ende angelangt. Westliche Werte waren die Erfüllung dieser menschlichen Geschichte.

Nationalismus als zentrales Instrument

Obschon sich all diese Bewegungen und Regierungen voneinander unterscheiden, haben sie doch mehrere gemeinsame kulturelle (und politische) Merkmale:

  • Zunächst ist der Nationalismus zentrales Element ihrer Rhetorik. Es ist ein ethnisch definierter Nationalismus, der sich nicht auf ein gemeinsames politisches System gründet, nicht auf demokratische und inklusive Werte, sondern auf ethnische Identität.
  • Zweitens verbindet sich diese Identität oftmals mit einer sehr konservativen oder rechtsgerichteten kulturellen und politischen Rhetorik. Schwule und Lesben, Progressive und Minderheiten werden ideologisch ausgeschlossen.
  • Drittens ist Fremdenfeindlichkeit ein Schlüsselfaktor. Ausländer im Allgemeinen und, in vielen Fällen, Muslime im Besonderen werden als Bedrohung wahrgenommen, als Eindringlinge oder als Fünfte Kolonne.
  • Viertens: Während die Demokratie an sich offiziell nicht abgelehnt wird, wird sie doch begrenzt, neu definiert, eingeschränkt. Die demokratische Kultur wird systematisch unterhöhlt.

Solche Trends gibt es nicht nur in EU-Mitgliedsländern. Putin, Erdoğan oder Duterte sind Teil eines rechten Populismus, der auf allen Kontinenten hochgekommen ist. Doch für die USA und die EU stellt sich das Problem anders dar. Russland, die Türkei oder die Philippinen haben sich nämlich nicht systematisch dargestellt als Symbole der Aufklärung, Demokratie, Toleranz und des Liberalismus und sind noch weniger als solche wahrgenommen worden. Aber für die EU und die USA waren genau diese Werte ihr Markenzeichen. Sogar die Nato präsentiert sich nicht nur als militärische Allianz, sondern auch als eine Wertegemeinschaft. Drei Aspekte sind wichtig:

  • Erstens steht die Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel. Andere Länder über Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und demokratische Werte im Allgemeinen zu belehren, ist sehr viel weniger überzeugend, wenn mehrere EU-Mitgliedsländer damit beschäftigt sind, diese Werte zu untergraben, zu entwerten und infrage zu stellen.
  • Zweitens wird die europäische Identität beeinträchtigt, unterhöhlt oder deformiert. Was es heißt, „europäisch“ (oder „westlich“) zu sein, verändert sich. Auch wenn die positive Selbstwahrnehmung (West-)Europas als zivilisiert, demokratisch und aufgeklärt in der Vergangenheit zu einem bestimmten Grad Übertreibung und Prahlerei gewesen ist, so war sie doch nicht völlig falsch. Statt die Wirklichkeit zu beschreiben, war sie eher ein fortlaufendes Projekt, das noch seiner Vollendung harrte. Es war aber nicht falsch, sondern einfach die Vorgabe, man habe bereits ein Ziel erreicht, wenn es tatsächlich bis dahin noch ein langer Weg war. Verglichen mit den Katastrophen und der Verrohung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dessen zweite Hälfte sehr viel demokratischer und zivilisierter verlaufen. Verglichen mit vielen anderen Regionen der Welt war Westeuropa eine positive Ausnahme und ist dies immer noch. Die Möglichkeit, weiteren Fortschritt in diesem Sinne zu erreichen, ist nun von innen her gefährdet.
  • Drittens werden Demokratie, Liberalismus und Menschenrechte angegriffen. Dies reicht weit über die europäischen Grenzen hinaus. Unter anderem Putin, Erdoğan, Sisi, Assad und der spektakuläre Erfolg des Autoritarismus in China untergraben weltweit die weitere Verbreitung dieser Werte. Nun, da sich noch der amerikanische Präsident, die Polen, die Ungarn und andere westliche und EU-Regierungen dazugesellen, zusammen mit beträchtlichen Teilen ihrer Bevölkerung, sind humane Wege, menschliche Gesellschaften zu organisieren, in der Defensive.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Europa und die Vereinigten Staaten heute einen kulturellen Bürgerkrieg erleben. Dieser Krieg wird nicht gewaltsam und nicht mit Waffen geführt, aber in den Köpfen der Menschen, an der Basis der Gesellschaft, im Internet, im Radio und im Fernsehen und in den Printmedien. Großen Medien wird eine „Konspiration gegen die Menschen“ vorgeworfen oder auch „Verrat“; man nennt sie „Lügenpresse“ oder „Fake News“, wenn sie nicht mit den kulturellen Aufrührern übereinstimmen oder mit Trump, Orban, Putin oder Erdoğan. Dieser Krieg wird nicht um ein Territorium geführt, sondern um die kulturelle Hegemonie. Es geht darum, zu definieren, wer wir sind, in welcher Art von Gesellschaften wir leben und wen wir als unsere Feinde sehen. In Deutschland sind Mainstream-Politiker wiederholt „Volksverräter“ genannt worden, ein Begriff, der wohl bekannt ist aus der Nazi-Diktatur, als er legalisierten Massenmord rechtfertigte.

Wir brauchen heute nicht noch mehr Selbstmitleid […] und auch kein arrogantes Ignorieren dieses fortlaufenden Konflikts. Wir brauchen eine Kriegsstrategie, die anerkennt, […] dass es viele Anstrengungen braucht, viel Geduld und viel Einsatzbereitschaft.

Wir befinden uns mitten in einem kulturellen Bürgerkrieg, ob uns diese Vorstellung gefällt oder nicht. An einigen Orten haben die aufrührerischen Barbaren bereits die Festung erobert, während andere Horden immer noch geräuschvoll draußen vor dem Tor und der Stadtmauer stehen. Beschwichtigungspolitik wird nicht funktionieren. Ein Arrangement damit wäre, kulturell gesehen, selbstmörderisch. Europäische und andere westliche Intellektuelle haben sich zu einem hohen Grad gezähmt und beschränken sich darauf, die Hohlköpfigkeit der kulturellen Aufrührer lahm zu beklagen.

Kulturell in die Offensive gehen

Das stimmt schon. Doch ein „Schwachkopf“ zu sein (laut US-Außenminister Tillerson) hat Donald Trump nicht vom Weißen Haus abgehalten. Demagogische Dummköpfe zu sein, hat diese Leute nicht aus der österreichischen Regierung oder aus dem deutschen Parlament herausgehalten. Wir brauchen heute nicht noch mehr Selbstmitleid, was ja so sehr in Mode ist, und auch kein arrogantes Ignorieren dieses fortlaufenden Konflikts. Wir brauchen eine Kriegsstrategie, die anerkennt, dass der Kampf lang andauern wird und Blut, Schweiß und Tränen fordert. Was in kultureller Hinsicht bedeutet, dass es viele Anstrengungen braucht, viel Geduld und viel Einsatzbereitschaft. Um diesen Krieg zu gewinnen, sind zwei Dinge absolut notwendig:

  • Erstens müssen wir uns mit den Gründen für den Niedergang der politischen Kultur in Europa und in den USA beschäftigen.
  • Zweitens müssen wir kulturell in die Offensive gehen und den Hügel der kulturellen Hegemonie neu erobern.

Der zweite Aspekt wird nicht möglich sein ohne den ersten. Der kulturelle Aufruhr geschah nicht zufällig; er hat Gründe, die wir ernst nehmen sollten. Diese sind oft verbunden mit einer wachsenden Ablehnung dessen, was als distanzierte „Eliten“ betrachtet wird. Das Trump-Phänomen, der Brexit, der Aufstieg rechter Populisten in Deutschland und an anderen Orten sind ein Ausfluss dieser Rebellion gegen „die Eliten“, die als egoistisch, arrogant und herablassend wahrgenommen werden.

Das Problem ist, dass diese Kritik nicht ganz unberechtigt ist. Das Problem bei der Reaktion darauf besteht darin, dass die Kritik in vielerlei Hinsicht auf sehr grobe Art geäußert wird und mit überraschenden Sündenböcken verbunden ist (Flüchtlinge und Muslime anzugreifen wird oftmals damit gerechtfertigt, dass man behauptet, die „Eliten“ handelten für „sie“ und nicht für „uns“). Doch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten sind heute ihren eigenen Gesellschaften ferner als vor 30 oder 50 Jahren. Zudem werden unsere Gesellschaften oft auf sehr undurchsichtige, anonyme und bürokratische Art reguliert, was frustrierend und unverständlich erscheinen kann.

Vor Jahren bemerkte selbst der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt öffentlich, er könne nicht einmal seine Betriebskostenabrechnungen verstehen, was viel leichter sein sollte, als die Mechanismen unserer Gesellschaft und Politik zu verstehen. Davon abgesehen, scheinen unsere Eliten, insoweit man sie identifizieren kann, sowohl die Fähigkeit als auch das Interesse daran verloren zu haben, ihre betreffenden Länder tatsächlich zu regieren.

Zurück in die Rinne

Globalisierung (unterstützt von diesen Eliten) hat nach mehr als zwei Generationen die Fähigkeit des Staats, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlergehen der Gesellschaft zu verbessern, dramatisch reduziert. Die Macht wird zu einem großen Anteil nicht mehr durch nationale Regierungen (oder die EU) kontrolliert, sondern hat sich auf anonyme globale Märkte verlagert. Warum also sollten die Menschen eine Regierung wählen, wenn diese überhaupt nicht in der Lage ist, soziale Missstände zu beseitigen? Kein Wunder, dass die Wahlbeteiligung im Laufe der Zeit zurückgegangen ist.

Unsere Regierenden scheinen es nun akzeptiert zu haben, dass sie Verwalter sind statt politischer Anführer. Sich durchzuwursteln ist an die Stelle einer selbstbewussten Gestaltung einer besseren Zukunft getreten. The New Deal, Sozialdemokratie, der Sozialstaat, Sozialismus, sogar die „Freie Marktwirtschaft“ sind tot oder liegen im Sterben und nichts hat ihren Platz eingenommen. Es gibt kein überzeugendes Narrativ, wie man unsere Zukunft politisch gestalten könnte und keine Vision. Niemand kann uns sagen, wohin wir gehen wollen. Die Eliten sind selbstbezogen und spielen Spiele, aber sie erledigen nicht ihren eigentlichen Job, zu regieren. Warum sollte ihnen irgendjemand vertrauen?

Europäische Gesellschaften befinden sich in der Krise und fangen an, zu stagnieren und zu verrotten. Nicht nur, weil Europa und der Westen in globaler Hinsicht zurückfallen, sondern auch, weil die Wirtschaft, Bildung und die Regierungssysteme langsam erodieren.

Die Rebellion gegen „Eliten“ mag also vielleicht grob sein, oftmals dumm, reaktionär und sie mag viele kulturelle Werte bedrohen, die seit der Aufklärung und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, errungen worden sind. Trotzdem ist es nicht schwer zu verstehen. Unter all dem rassistischen Dreck und der autoritären Nostalgie liegt ein Aspekt begraben, den man anerkennen – und mit dem man sich beschäftigen muss – will man den kulturellen Bürgerkrieg ernsthaft führen. Die meisten westlichen Eliten sind politisch bankrott und erkennen dies nicht einmal, weil es ihnen selbst gut geht.

Damit verbunden ist ein anderer zentraler Aspekt: Westliche Intellektuelle haben sich als so steril erwiesen wie die politischen und wirtschaftlichen Eliten. Akademische Intellektuelle haben sich zu einem hohen Grad in Bürokraten verwandelt, die gründliches und kritisches Denken der selbstbezogenen und modernen Langeweile opfern. Wir wursteln uns auch einfach nur durch. Weder radikale noch kritische Analyse noch visionäres Denken sind im Zentrum unserer Arbeit, sondern die Produktion von am Mainstream orientierten, akzeptablen Beiträgen, die entweder den Status quo verteidigen oder sich mit kleinen Anpassungen zufriedengeben. Das ist nicht gut genug. Europäische Gesellschaften befinden sich in der Krise und fangen an, zu stagnieren und zu verrotten. Nicht nur, weil Europa und der Westen in globaler Hinsicht zurückfallen, sondern auch, weil die Wirtschaft, Bildung und die Regierungssysteme langsam erodieren.

Die Aufgabe der Intellektuellen wäre es, die Gründe für diesen Niedergang schonungslos und selbstkritisch zu analysieren und dann kreative und mutige Ideen für eine große Reform zu entwickeln. Wir brauchen dafür eine Vision und nur Intellektuelle können sie entwerfen. Wir als Intellektuelle scheitern nicht nur, wir versuchen nicht einmal etwas. Das Ergebnis ist Orientierungsmangel, eine allgemeine Verwirrung und ein intellektuelles Vakuum, was das Feld weit offen lässt für Demagogie und rechten Populismus. Der Kampf gegen die Selbstverrohung des Westens hat begonnen. Es ist ein Kampf für die westliche Seele und Identität. Um darin erfolgreich zu sein, muss die EU die Gründe verstehen und die Tatsache anerkennen, dass der kulturelle Aufruhr das Ergebnis einer Krise der politischen und zu einem gewissen Grad auch der wirtschaftlichen Systeme ist. Sie ist eine selbst zugefügte Wunde.

Die Zeit drängt, diesem Verfall Herr zu werden und eine funktionierende Strategie zu entwickeln, um eine bessere Zukunft für die betroffenen Gesellschaften zu schaffen, nicht nur für die obersten zehn Prozent. Um dies zu erreichen, haben Intellektuelle die Pflicht, eine Vision zu entwerfen und zu verbreiten, die gleichzeitig sinnvoll und praktikabel ist. Mit diesen beiden Maßnahmen kann die Demagogie und die ideologische Idiotie, der wir heute ausgesetzt sind, zurück in die Rinne getreten werden. Wenn Europa daran scheitert, wird es den Kampf verlieren. Nicht heute, nicht morgen, aber schrittweise, im Laufe der nächsten oder der nächsten beiden Generationen. Wir dürfen nicht zulassen, dass dies geschieht.

Über die Autor:innen
Fatemeh Hippler
Politikwissenschaftlerin und Migrationsberaterin

Dr. Fatemeh Hippler ist eine iranisch-deutsche Politikwissenschaftlerin und Migrationsberaterin, die an der Universität Augsburg promoviert hat. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Hannah-Arendt-Instituts an der Universität Dresden und Gastwissenschaftlerin des Sustainable Development Policy Institute (SDPI). Zu ihren Schwerpunkten gehören Migration, Integration (afghanischer und iranischer Flüchtlinge), Entwicklungsthemen und interkultureller Dialog.

Portrait von Jochen Hippler
Jochen Hippler
Politikwissenschaftler und Friedensforscher

Dr. Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher. Von 2019 bis 2022 war er Länderdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad/Pakistan und zuvor Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität von Duisburg-Essen. Schwerpunkte seiner Arbeit umfassen den Zusammenhang zwischen politischer Gewalt, Governance und politischen Identitäten und militärischen Interventionen durch westliche Länder im Nahen Osten, Afghanistan und Pakistan.

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