Kulturelles Symbolsystem

Sport reduziert die Komplexität der modernen Gesellschaft auf greifbare Bilder. Er vergegenwärtigt die verdrängten körperlich-materiellen Seiten des Sozialen durch das Spektakel. Wer mehr über die Gesellschaft erfahren möchte, sollte sich mit dem Sport beschäftigen.

Unsere Welt- und Selbstbeziehungen sind materiell und symbolisch vermittelt, etwa durch Artefakte wie Werkzeuge, Sprache oder Bilder. Wir bezeichnen mit den Worten des amerikanischen Ethnologen Cliffort Geertz die „Gewebe aus selbstgesponnenen Bedeutungen“, die diese Beziehungen vermitteln, gemeinhin als Kultur. Sie bilden sich in einem Zusammenspiel aus sprachlich-diskursiven und „stummen“, körperlich-gestischen Praktiken etwa des Arbeitens, Spielens oder Sporttreibens. In diesem Zusammenspiel sind menschliche körperliche Bewegungen mehr und anderes als bloß physische Vollzüge oder Ortsveränderungen. Sie bedeuten vielmehr etwas, sind Bedeutungen im Vollzug.

In den Praktiken des Sports werden die Bewegungen des menschlichen Körpers auf besondere Weise gerahmt und formatiert. Besonders deutlich wird dies am organisierten Sport. Seine Funktionsräume, seine Plätze, Hallen und Stadien, lösen Bewegungen aus dem Fluss des täglichen Lebens heraus und geben ihnen durch materiellsymbolische Arrangements aus Laufbahnen, Spielfeldern, Sportgeräten, Kodes und Regelwerken eine eigene, sport(art)spezifische Form und Bedeutung. Eigene Bewegungsformen, wie etwa der Fosbury-Flop‚ die heutige Technik des Hochsprungs, benannt nach dem Amerikaner Dick Fosbury, konnten zuallererst in diesen Arrangements entstehen.

Insofern haben die Bewegungsformen des Sports eine von den Bewegungsformen des Alltags unabhängige Existenz. Allerdings handelt es sich, so soll hier argumentiert werden, um eine relative Autonomie. Denn die dynamischen Figurationen aus Bewegungen und Spielzügen, die in Sportpraktiken hervorgebracht werden, bleiben stets auf ihre historisch wandelbaren gesellschaftlichen Kontexte bezogen.

So verkörpert und visibilisiert der organisierte (olympische) Wettkampfsport (mit Einschränkungen), charakteristische Leitbilder der modernen Gesellschaft wie den „Triumph der Leistung“, so der deutsche Politikwissenschaftler Christian Graf von Krockow, die Idee einer fairen Konkurrenz, die Vorstellung der Konstitution des Subjekts im Wettstreit mit anderen oder das Wunschbild eines grenzenlos verbesserungsfähigen Körpers; und er tut dies so allgemeinverständlich, klar und überzeugend wie wohl kein anderes kulturelles Symbolsystem.

Sport bildet in dieser Perspektive eine im Medium der Bewegungen des menschlichen Körpers vollzogene Bedeutungsordnung, die einem spezifischen Bild der Gesellschaft Evidenz verleiht. Er hat in dieser Funktion zweifellos einen ganz eigenen Beitrag zur Verbreitung und Verankerung dieses Bilds in den gewöhnlichen Praktiken, im Bewusstsein, den Affekten und Gefühlen der Subjekte geleistet.

Sport ist somit etwas anderes als ein bloßer Spiegel der Gesellschaft: Er spiegelt nicht wider, sondern macht Gesellschaft unter einem bestimmten Blickwinkel sichtbar – und wendet sich damit implizit gegen andere Sichtweisen. Ein Beispiel: Hinter der sichtbaren Verkörperung formaler Chancengleichheit am Start oder zu Beginn eines sportlichen Wettkampfes verschwindet jene reale Chancenungleichheit, die aus unterschiedlichen Trainingsbedingungen und der ungleichen Verteilung ökonomischer und wissenschaftlicher Ressourcen herrührt.

Wiederkehr des Verdrängten

Gleichwohl greift es zu kurz, den Wettkampfsport umstandslos als ein affirmatives kulturelles System zu entlarven. Denn als einer verkörperten Form gesellschaftlicher Selbstdarstellung und -thematisierung ist ihm zugleich eine reflexive Dimension eigen: Im Sport wird die moderne Gesellschaft von jener unhintergehbaren Körperlichkeit des Sozialen gleichsam eingeholt, deren Disziplinierung, Abwertung und Verdrängung eine conditio sine qua non ihres eigenen Selbstverständnisses war. Plakativ ließe sich von einer Wiederkehr des Verdrängten sprechen. So gesehen vermitteln die verkörperten Bedeutungsordnungen des Sports zwei miteinander in Konflikt stehende Seiten der Moderne: die Rationalität des Kalküls, des regelhaften gesellschaftlichen Umgangs und der technologischen Optimierbarkeit alles Lebendigen mit der romantischen Suche nach physischem Einsatz und unmittelbarer Erfahrung, nach Leidenschaft und lustvoller Erregung. Es ist wohl nicht zuletzt diese Gegenwärtigkeit konfligierender Kräfte in einem, oft vor Zuschauern wie auf einer Bühne aufgeführten Geschehen, welche die Popularität, die affektive Energie und die Anziehungskraft des Wettkampfsports bedingen.

Der Wettkampfsport ist der Prototyp des modernen Sports. Er ist letztlich eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Seine Protagonisten, wie prominent der Initiator der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, propagierten ihn bewusst im Kontrast zu älteren Modellen der Körpererziehung, beispielsweise zum deutschen (Drill-)Turnen und zur schwedischen Funktionsgymnastik.

Coubertins Argument: Der Wettkampfsport entspreche den Bedingungen des modernen Lebens weit mehr und besser als diese. Seien das Turnen und die Gymnastik allzu steif, starr und statisch, so kämen dagegen im Wettkampfsport in „Reinform“ die Dynamik, der Zeitdruck und der Wettbewerbscharakter des modernen, beschleunigten Lebens in der Industriegesellschaft zum Ausdruck. Der Wettkampfsport sei deshalb besonders geeignet, männliche Subjekte zu formen, die sich unter solchen Bedingungen selbst zu helfen und durchzusetzen wüssten.

Coubertins Vorbild war die athletische Erziehung an den englischen Public Schools von Eton, Harrow, Oxford, Cambridge oder Rugby, das heißt jenen Bildungsinstitutionen, die im 17. Jahrhundert zunächst für die Erziehung unterer Gesellschaftsklassen eingerichtet worden waren, seit dem 19. Jahrhundert aber nur noch den Söhnen der Upperclass offenstanden. Sie galten von nun an als Institutionen zur Erziehung von Führungspersönlichkeiten. Ihre Erziehungspraktiken zielten darauf ab, den „Charakter“ jener heranzubilden, die einmal herrschen sollten: Die wettkampfbetonten Athletics waren praktische Vollzugsformen einer partikularen, den mittleren und oberen Gesellschaftsklassen entstammenden Werteordnung.

Der olympische Athlet verkörpert das Idealsubjekt der industriellen Moderne: ein männliches Ich, das sich in den ungewissen Situationen des Wettkampfes gegen die besten und stärksten Gegner aus aller Welt behauptet und somit konstituiert.

Der olympische Athlet verkörpert in diesem Kontext das Idealsubjekt der industriellen Moderne: ein männliches Ich, das sich in den ungewissen Situationen des Wettkampfes gegen die besten und stärksten Gegner aus aller Welt behauptet und somit konstituiert.

Im Zeremoniell der Olympischen Spiele wird dieses Idealsubjekt symbolisch überhöht und kultisch gefeiert. Ein Modell dafür waren die Weltausstellungen: In pompösen Schauspielen zelebrierten sie einen Glauben an die wissenschaftlich-technische Zivilisation und den industriellen Fortschritt. Fabrikate modernster Technologie – Telefone, Glühbirnen, Fahrstühle, Maschinengewehre, Rotationspressen, Fotoapparate, Mähmaschinen – wurden mit aufwendigem, aus der Geschichte geborgtem Dekor inszeniert und kunstvoll ausgeleuchtet. Sie erhielten so pathetische Namen wie „Die Unbesiegbare“, „Die Wunderbare“ oder „Die Favoritin“. Ausgestellt auf altarartigen Podesten, näherte sich ihnen das Publikum, wie in einem sakralen Ritus. Coubertin zeigte sich begeistert von diesen, Modernität und Mythologie zu einem Kult des Fortschritts verschränkenden Inszenierungen. In „seinen“ Olympischen Spielen traten die Athleten an die Stelle der technischen Fabrikate – als lebendige Hochleistungsmaschinen mit menschlichem Antlitz.

Indikator für sozialen Wandel

Als eine kulturelle Form gesellschaftlicher Selbstthematisierung wandelt sich der Sport mit der Gesellschaft, deren Teil er ist. Er ist damit ein Indikator für sozialen Wandel. Exemplarisch haben Philosophen, Psychologen, Soziologen, Sport- und Erziehungswissenschaftler (Gunter Gebauer, Uwe Flick, Bernhard Boschert, Robert Schmidt) und ich unter diesem Gesichtspunkt bereits vor längerer Zeit im Rahmen des Berliner Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ die Entwicklung neuer, riskanter Sportarten wie Skateboarding, Parkour oder Free-Climbing in Blick genommen. In diesen sogenannten Trendsportarten werden nicht länger moderne Leitideen formaler Chancengleichheit, geregelter Konkurrenz oder objektiv messbarer Leistung und Leistungssteigerung aufgeführt.

Es fällt auf, dass in Bewegungen des Gleitens, Rollens, Springens, Fliegens oder Kletterns bewusst auf Sicherheiten verzichtet wird. Das untergründige Thema dieser Bewegungen ist die Aufgabe von festem Halt. Die Sporttreibenden begeben sich willentlich in Situationen der Unsicherheit. Sie verzichten zeitweise auf ihre habituelle Vertrautheit mit der Welt und dramatisieren diesen Verzicht in oftmals spektakulären Darbietungen. In ihnen werden ganz andere Bedeutungen und Werte vollzogen und aufgeführt als im olympischen Wettkampfsport.

Aus einer engagierten Binnenperspektive mögen diese Praktiken eine performative Kritik an den Verhaltensnormierungen des täglichen Lebens sein. Aus der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung lässt sich der spektakulär inszenierte Verzicht auf erworbene Sicherheiten aber auch als „Gesamtgestus“ einer deregulierten Gesellschaft der Gegenwart dechiffrieren, die es ihren Mitgliedern auferlegt, aber auch ermöglicht, Grenzzonen der Normalität auszutesten, Risiken einzugehen und permanent sich neu zu erfinden.

Jugendliche beim Parkour Trendsport an einer Mauer.
In Trendsportarten wie Parkour, Skateboarding oder Free-Climbing werden nicht länger moderne Leitideen formaler Chancengleichheit, geregelter Konkurrenz oder objektiv messbarer Leistung und Leistungssteigerung aufgeführt, Foto: Atiyeh Fathi via unsplash.
Mädchen beim Skateboarding Wettbewerb im Rahmen von Olympia in Tokio 2020.
Skateboarding, Foto: Dpa/Marijan Murat via picture alliance.
Mann beim Free Climbing an einer Felswand.
Free-Climbing, Foto: Vincenzo di Giorgi via unsplash.

Das Idealsubjekt dieser neuen, flüssigen Moderne" (ein Terminus des Soziologen Zygmunt Bauman) ist aus dieser Sicht nicht länger der olympische Athlet, sondern der permanent sich aufs Spiel setzende, kreativ neu sich erfindende und nach intensiven Erfahrungen begehrende, dabei nach wie vor vorwiegend männliche Spieler.

Die Sporttreibenden begeben sich willentlich in Situationen der Unsicherheit. Sie verzichten zeitweise auf ihre habituelle Vertrautheit mit der Welt und dramatisieren diesen Verzicht in oftmals spektakulären Darbietungen.

„Gesamtgestus“ ist ein Terminus aus der Theatertheorie Bertolt Brechts. Er ist für eine Kultursoziologie verkörperter Formen in Bewegung insofern interessant, als Brecht darunter den „nur in vager Weise“ zu bestimmenden Ausdruck versteht, in dem sich die „Haltung einer Epoche“ zeige. Durch die „Brille“ dieses Konzepts lassen sich Bewegungen des Surfens und Gleitens als kulturelle Artikulationen verstehen, in denen die neo-liberale Verflüssigung Halt gebender wie verpflichtender Strukturen eine physische Gestalt erlangt und somit greifbar wird.

Zero Drag

In solchem Sinne hat bereits die kalifornische Soziologin Arlie Hochschild in einer Studie über die Veränderungen des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit in den 1990er Jahren geschrieben: „Seit 1997 geht in aller Stille ein neuer Begriff in Silicon Valley um [...] – Zero Drag, null Reibung. Ursprünglich war damit die reibungsfreie Bewegung von Dingen wie Rollschuhen oder Fahrrädern gemeint. Dann wandte man ihn auf Beschäftigte an, die ohne finanzielle Anreize ganz leicht von einem Job zum nächsten wechselten. Neuerdings bedeutet er so viel wie ungebunden oder ohne Verpflichtungen. So mag der Chef einer dot.com-Firma über einen Angestellten lobend sagen, er sei Zero Drag, und damit meinen, dass dieser Angestellte bereit ist, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, in Notfällen einzuspringen oder jederzeit umzuziehen“.

Indem Repräsentationen und Aufführungen dem, was sie repräsentieren und aufführen, eine erkennbare Gestalt und Bedeutung geben, sind sie an der Hervorbringung des Repräsentierten und Aufgeführten beteiligt. Insofern sind die kulturellen Aufführungen des Sports nicht nur Indikatoren für sozialen Wandel, sondern haben auch eine eigene konstitutive Bedeutung für die Ordnung der modernen Gesellschaft. In ihren Körperpraktiken, Bewegungsformen und Stilelementen der Mode, der Musik und des Equipments stellen Milieus, Subkulturen und Szenen ihre Welt- und Selbstbilder nicht nur dar, sondern allererst her.

Das seit einigen Jahrzehnten rasant sich entwickelnde, ausdifferenzierende und mit der Popkultur vermischende Feld des Freizeitsports bietet eine ausgezeichnete öffentliche Bühne für soziale Distinktionen: Sie ist prominenter Ort einer unaufhörlichen sozialen Repräsentationsarbeit, mit der Akteure in gemeinsamen Bewegungsformen und Stilgestalten sinnfällig eine geteilte Haltung artikulieren und sich einer gemeinsamen, sie anderen gegenüber auszeichnenden Identität versichern.

Die kulturellen Aufführungen des Sports [sind] nicht nur Indikatoren für sozialen Wandel, sondern haben auch eine eigene konstitutive Bedeutung für die Ordnung der modernen Gesellschaft.

In gemeinsamer Praxis zeigen sich Einzelne so als eine soziale Gruppe oder als ein kollektives Subjekt, dessen Einheitsfiktion in verkörperten Vollzügen real wird. Möchte man etwas über das Selbstverständnis, die Welt- und Selbstbilder dieser Kollektive erfahren, dann tut man gut daran, sich nicht nur ihren sprachlichen Selbstauskünften, sondern auch ihren verkörperten Selbstdarstellungen zuzuwenden.

Die Beschäftigung mit solchen, maßgeblich im Medium körperlicher Bewegungen sich herstellenden Kollektiven, kann den Blick dafür schärfen, dass sich auch andere Gruppen und soziale Gebilde zu einem guten Teil über körperliche Repräsentationsarbeit, in Bewegungen, Haltungen und Gesten konstituieren. Dies eröffnet den Weg für eine Soziologie, die sich nicht allein auf sprachliche Äußerungen verlässt, um gesellschaftlichen Selbstbildern, Werte- und Wissensordnungen auf die Spur zu kommen, sondern die auch jene „stummen“ verkörperten Aufführungen berücksichtigt, in denen sich unbewusste Einstellungen, Weltbilder und Wissen artikulieren.

Über den Autor
Thomas Alkemeyer
Professor für (Sport)Soziologie

Thomas Alkemeyer ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen ein soziologisches Verständnis von Sport und Bewegung und die Betrachtung körperlicher Praktiken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten anhand von Praxistheorien.

Literaturauswahl:

  • Sport und Lebensstil. Schorndorf: Karl Hoffmann (2013)
  • Körper, Zeichen und Bewegung. Aufführungen von Gesellschaft im Sport. Habilitationsschrift Freie Universität Berlin (2000)
  • Körper, Kult und Politik. Von der "Muskelreligion" Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936. Frankfurt/M./New York: Campus (1996)

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