Illustration: Krüge und Scherben in der Wüste, im Hintergrund Gebäude

Kulturen des Wir?

Der Autor wehrt sich gegen die einseitige Umklammerung durch den Westen, auch wenn sie noch so gut gemeint ist. Stattdessen könne Europa ein Narrativ entwickeln, das kulturelle Unterschiede zwischen Gesellschaften anerkennt, das zu anderen politischen Strukturen, Überzeugungen und Werten führt.

In den vergangenen Jahren gab es zwei gegensätzliche Narrative. Auf der einen Seite ist die Welt viel enger verbunden als jemals zuvor. Ökonomien sind stärker miteinander verknüpft und Informationen gehen sofort um die Welt. Der Wohlstand scheint zu wachsen und Technologie wird als das große Allheilmittel betrachtet.

Doch auf der anderen Seite scheint die Welt auseinanderzudriften. Kulturelle und nationale Spaltungen treten immer deutlicher hervor und eine neue Ära der asymmetrischen Kriegsführung scheint anzubrechen – angetrieben von uralten Vorurteilen und Ressentiments – und ebenfalls ermöglicht durch technische Fortschritte. Dies hat sich besonders deutlich im Westen gezeigt, der sowohl der große Treiber hinter unserer modernen Wirtschaftsstruktur ist als auch vielleicht der Ort, an dem wir eine der stärksten Reaktionen dagegen beobachten.

Beim Versuch, dem Ganzen einen Sinn zu verleihen, und die Zusammenarbeit auf einer globalen Ebene voranzutreiben, werden tröstliche Narrative und Slogans gesucht. Einer davon lautet, die Welt solle eine „Wir-Kultur“ entwickeln. Mir gefällt diese Idee nicht. Eine solche Kultur geht davon aus, dass es das Beste für die menschliche Gesellschaft sei, wenn jeder an die gleichen Dinge glaubt, in gleichartigen Gesellschaften lebt und die gleichen Dinge konsumiert.

Entschuldigen von Schlechten Benehmen

Aber es ist wichtig festzuhalten, dass diejenigen, die eine solche Universalkultur am stärksten vorantreiben wollen, eher Menschen aus dem Westen sind oder zumindest stark von westlichen Ideen beeinflusst. Deren universale Gesellschaft basiert auf dem, womit sie sich selbst am wohlsten fühlen – eine westliche Gesellschaft mit Demokratie, Wirtschaft und Werten nach westlichem Vorbild. Dieses wird oft idealisiert, sodass schlechtes Verhalten westlicher Regierungen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart einfach entschuldigt werden kann.

Wenn die sich verbreitenden Werte jedoch keine westlichen sind, erscheint das Gespräch darüber plötzlich in ganz anderem Licht. Wenn in den westlichen Medien, bei internationalen Konferenzen oder auch in von Chinesen finanzierten Thinktanks eine chinesische Haltung vertreten wird, sind die Argumente schon als „Propaganda“ abgelehnt worden.

Das Konfuzius-Institut, Chinas Ansatz, das Studium chinesischer kultureller Werte zu fördern, wurde dargestellt als staatlich finanzierter Ansatz, um die eigene Soft Power zu vergrößern. Die Bemühungen von Präsident Xi Jinping, ein anderes Modell chinesischer Regierungsführung zu formulieren und zu definieren, wurden in europäischen Medien abgelehnt, wo man sich stattdessen dafür entschied, China zu kritisieren, weil es darin versagt habe, liberalen Idealen nachzueifern.

Sicherlich ist es richtig, diese Anstrengungen als staatlich finanziert und motiviert zu beschreiben. Doch diese Begriffe wurden verwendet, um sich erst gar nicht mit den angeführten Argumenten auseinandersetzen zu müssen. 

Abstraktes Bild: Verschwommener Schatten mit rosa Farbstrich von links nach rechts.
Es kann schwierig sein, gegen das „Wir“-Narrativ zu argumentieren, denn die Alternative wird oft gesehen als „Wir gegen die anderen“, Foto: Jr Korpa via unsplash

China argumentiert nicht „richtig“, also werden die Argumente abgelehnt, während westliche Regierungen sich durchaus entsprechend verhalten dürfen.Tatsächlich möchten viele nicht wahrhaben, dass Peking inzwischen auf Augenhöhe mit westlichen Ländern für seine Sache eintritt. China ist in dieser Hinsicht vielleicht das erste, aber sicherlich nicht das letzte Land.

Es kann schwierig sein, gegen das „Wir“-Narrativ zu argumentieren, denn die Alternative wird oft gesehen als „Wir gegen die anderen“: eine Welt, in der kulturelle Unterschiede uns davon abhalten, die globalen Probleme gemeinsam zu lösen, eine Welt, in der die Starken die Schwachen unterdrücken, und eine Welt, die Menschen kein sicheres Leben ermöglichen kann. Und im Extremfall wird eine Welt ohne universale Werte sogar betrachtet als eine Welt ohne Frieden.

Zivilisatorische Blöcke

Der Unterschied zwischen einer „Wir-Kultur“ und dem Ansatz „Wir gegen die anderen“ führt uns zu einer der zentralen Debatten seit dem Ende des Kalten Kriegs. Die „Wir-Kultur“ entspricht Francis Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“. Für Fukuyama bedeutet der Fall der Sowjetunion das Ende des einzigen Konkurrenten der liberalen westlichen Demokratie. Letztlich würden alle Länder und Regierungen „westlich“ werden: Es gäbe keine Alternative.

Das Narrativ „Wir gegen die anderen“ entspricht dagegen Samuel Huntingtons Rede vom Zusammenprall der Kulturen. Nach Ansicht Huntingtons ist die Menschheit unwiderruflich aufgeteilt in verschiedene zivilisatorische Blöcke. Gesellschaften geraten nicht aufgrund universaler Ideologien aneinander, sondern aufgrund kultureller Werte, die zu fundamental sind für jedweden Kompromiss.

Indem sich die Welt globalisierte und mehr Kontakt zwischen den verschiedenen Völkern entstand, wurden diese kulturellen Spaltungen offensichtlicher und erzeugten zwischen einzelnen Gesellschaften Spannungen und Konflikte.

Diejenigen, die eine solche Universalkultur am stärksten vorantreiben wollen, sind eher Menschen aus dem Westen oder stark von westlichen Ideen beeinflusst.

Diese Werke wurden in den 1990er Jahren in den unmittelbaren Nachwehen des Kalten Kriegs geschrieben, und zwar aus einer westlichen Perspektive. Keine dieser Denkrichtungen hat sich angesichts der jüngsten Entwicklungen gut behaupten können.

Es ist klar, dass der Aufstieg Chinas und seines alternativen Modells von wirtschaftlicher Entwicklung und Regierungsführung die Vorstellung infrage stellt, die westliche liberale Demokratie sei die einzig mögliche Variante. Selbst Fukuyama hat eine andere Tonart angeschlagen und zeigte sich im Vorfeld des amerikanischen Einmarsches im Irak zunehmend enttäuscht von seiner eigenen Theorie.

Das Problem mit dem Argument des „Kampfes der Kulturen“ ist ein anderes. Es stimmt, dass man dieses Modell auf die heutige Welt beziehen könnte. Aber dann wird das Problem zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wenn nämlich Länder glauben, ein Kompromiss mit anderen Kulturen sei unmöglich, werden sie nicht versuchen, mit diesen zusammenzuarbeiten und erzeugen so die Spannung und den Konflikt, wie ihn Huntington vorhergesagt hat.

Gesunder Respekt für Unterschiede

Wir brauchen also ein Modell, das zwischen den universalen Werten der „Wir-Kultur“ und dem andauernden Konflikt „Wir gegen die anderen“ liegt. Wir brauchen ein Narrativ, das die kulturellen Unterschiede zwischen Gesellschaften anerkennt, zu anderen politischen Strukturen führt, anderen Überzeugungen und auch zu anderen Werten. Aber diese Unterschiede sollten Frieden und Zusammenarbeit nicht unmöglich machen. Ein gesunder Respekt vor Unterschieden – und die Entscheidung, keinem anderen die eigenen Werte aufzuzwingen – öffnen möglicherweise tatsächlich den Raum, um bei globalen Themen voranzukommen. Keine Seite wird glauben, Zusammenarbeit sei für kulturellen Wandel ein trojanisches Pferd.

Die Vorstellung einer „Wir-Kultur“ hat ihre Wurzeln in einem liberalen Narrativ der Globalisierung, nach dem alles werden sollte wie im Westen oder, genauer gesagt, wie in den Vereinigten Staaten oder im Vereinigten Königreich. Dies wurde nicht nur im Westen behauptet: 

Illustration: Farbkreis(e).
Ein gesunder Respekt vor Unterschieden öffnen möglicherweise den Raum, um bei globalen Themen voranzukommen, Foto: mymind via unsplash

Viele Menschen in den Entwicklungsländern unterwarfen sich gerne westlichen Ideen.

Technokraten wurden zu Anführern vieler Entwicklungsländer: eine westlich gebildete Person, möglicherweise mit Arbeitserfahrung bei einem westlichen Weltkonzern oder einer Bank, die versprach, die „richtigen“ ökonomischen Strategien umzusetzen, wie sie von westlichen Ökonomen und Institutionen definiert worden waren. Diese Argumente wirken sogar stärker als das öffentliche Gefühl, während unterstützende Behörden und Sicherheitsmaßnahmen durch die Regierung abgeschafft werden, damit das Land sich noch besser an das westliche Modell anpasst.

Dieses Narrativ funktionierte so lange wie westliche Länder die reichsten, mächtigsten und die am meisten respektierten waren. Aber der Aufstieg des Rests stellt inzwischen die Vorreiterstellung westlicher Länder und Institutionen infrage. Dies hat Bevölkerungen im Westen verunsichert, die daran gewöhnt waren, sich selbst als die Spitze zu betrachten. Diese Bevölkerungen haben sich nun gegen die elitären Denkschulen gerichtet, die Liberalisierung und Globalisierung vorangetrieben haben, und populistische Politiker haben aus der Angst, die dieser Aufstieg des Rests erzeugt hat, Kapital geschlagen.

Eine bittere Pille

Es ist eine bittere Pille, zuzugeben, dass man nicht länger die Nummer eins ist. Zumindest in Europa wird dies vielleicht zum Teil auf der intellektuellen Ebene anerkannt (was man nicht über die Vereinigten Staaten sagen kann). Aber es ist zu verstehen, warum sich eine Bevölkerung, der man jahrelang erzählt hat, ihr Land und ihre Werte seien überlegen, plötzlich vom Rest infrage gestellt fühlt.

Der Aufstieg des Rests bedeutet, wir sollten sehr viel ernster nehmen, dass verschiedene Regionen verschiedene Erfahrungen haben und deshalb andere Herangehensweisen an die Welt. Europas größte Angst ist beispielsweise die Rückkehr der zwischenstaatlichen Kriegsführung auf den Kontinent. Der Aufstieg des Nationalismus im 19. Jahrhundert, gefolgt vom Autoritarismus und Faschismus im 20. Jahrhundert, führte zu mehreren verheerenden Kriegen und Konflikten.

Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich Europa aufgrund der Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion immer am Rande eines neuen Weltkriegs. Man kann also verstehen, warum Europa die Europäische Union, Demokratie und Liberalismus so sehr schätzt – da es diese als besten Weg sieht, um Konflikten in Europa vorzubeugen.

Über den Autor
Portrait Chandran Nair
Chandran Nair
Gründer der Denkfabrik "Global Institute For Tomorrow"

Chandran Nair gründete das "Global Institute for Tomorrow", einen unabhängigen Thinktank in Hongkong, den er als Geschäftsführer leitet. Er ist unter anderem Mitglied des Global Agenda Council for Environment and Sustainability des Weltwirtschaftsforums, der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Nair setzt sich für eine radikale Reform des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells und strenge Begrenzungen des Konsums ein.

Bücher (Auswahl):  

  • Dismantling Global White Privilege: Equity for a Post-Western World. Berrett-Koehler, Oakland, CA 2022
  • The Sustainable State: The Future of Government, Economy, and Society. Berrett-Koehler, Oakland, CA 2018
  • The Other Hundred Entrepreneurs: 100 Faces, Places, Stories. Oneworld, London  2015
  • Der große Verbrauch: Warum das Überleben unseres Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt. Riemann, München 2011

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.