Wer „America first!“ und „La France d’abord“ propagiert, suggeriert eine Souveränitätsreserve des Nationalstaates, die längst aufgezehrt ist. Kultur kann der europäischen Gesellschaft Interaktionsarenen jenseits von Markt und Staat und eine verbindende Auffassung von Öffentlichkeit schaffen.
Die oft gegen die Europäische Gemeinschaft gerichtete Frage lautet, was denn ein litauischer Bauer mit einem andalusischen Landarbeiter oder einer Sozialhilfeempfängerin in Manchester und diese wiederum mit einem Frankfurter Banker und Startup-Unternehmern in Belgrad zu tun haben – keine gemeinsame Sprache, ein religiös-säkulares Patchwork, keine „gemeinsame Kultur“. Solche Bedenken bleiben dem nationalen oder lokalen Gemeinsamkeitsglauben in der Regel erspart. Dass libertäre Hedonisten mit evangelikalen Fundis und Bayern mit Hanseaten können, dass Ossis und Wessis harmonieren – alles kein Problem. Dabei sind kleine Gemeinden genau wie große Nationen ebensolche Schauplätze der Differenz – bei Einkommen und Lebenslagen, Glaubenssachen und Weltanschauungen, Sprachen und Dialekten, Sitten und Gebräuchen, Herkunftsorten und Mobilitätspfaden.
Klassenlage, sozial-moralische Milieus und ganz allgemein Sozialstrukturen positionieren die Mitglieder einer Gesellschaft oft weit entfernt, was mit einer nationalen Erzählung, seltener mit einem Generationsnarrativ („68er“) und Geschlechtersolidarität (#Metoo) überspielt werden kann. Internationalismus oder eine supranationale Idee gelten als Utopien. Doch der nationale (und kapitalistische) „Realismus“ verursacht die Katastrophen. Der Massenexodus der Arbeiter aus der proletarischen Internationale in verfeindete Armeen zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist das klassische Beispiel, ein jüngeres der letzte europäische Krieg in Jugoslawien, wo ultranationale Säuberungsfantasien den Selbstverwaltungssozialismus, die serbokroatische Sprachgemeinschaft und sogar Familienbande zersprengten.
Nachzudenken ist über eine europäische Gesellschaft, die den rostigen Containern entstiegen ist, an den Rändern ausfranst und sich im Inneren ähnlicher wird.
Nationalistische Rhetorik kann über den eingetretenen Steuerungsverlust des Nationalstaates nicht hinwegtäuschen, ihre Wucht ist eher Ausdruck davon. Wer „America first!“ und „La France d’abord“ und jetzt gar „Österreich zuerst!“ propagiert, wer in Budapest, Prag und Warschau die Mauern hochzieht gegen Migranten, wer eine Mauer gegen Latinos errichten will, suggeriert eine Souveränitätsreserve des Nationalstaates, die längst aufgezehrt ist; die täppischen Manöver, das Vereinigte Königreich aus seinen europäischen Interdependenzen herauszulösen, ergeben ein für alle Seiten kostspieliges Realexperiment. Welthandel, Massenmigration und Telekommunikation haben den nationalen Container eingerissen, die einstige Dreieinigkeit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt hat sich aufgelöst. Der Konsumkapitalismus, die sozialen Medien und die populäre Massenkultur taten ein Übriges, um überkommene Heimatgefühle zu verfremden.
Partnerschaften im Mittelmeerraum dümpeln dahin
Jean-Claude Junckers jüngste Anregungen, die europäische Politik wenigstens ansatzweise auf das Niveau dieser Ver- und Entflechtungen zu bringen, Eurozone und Schengen-Raum also nicht zu schrumpfen, sondern auf alle relevanten Akteure auszudehnen, zeigt ansatzweise, in welche Richtung man denken müsste, um die Europapolitik auf das längst erreichte Niveau der europäischen Gesellschaft zu heben. Das gilt grundsätzlich auch für die europäische Peripherie, doch die Partnerschaften im Mittelmeerraum dümpeln dahin, die natürlich auch irgendwann wieder die von Erdoğan befreite Türkei einschließen und – ganz vertrackt – Juden und Araber versöhnen sollten. Es ist fatal, dass solche Hoffnungen schon gar nicht geäußert werden.
Nachzudenken ist über eine europäische Gesellschaft, die den rostigen Containern entstiegen ist, an den Rändern ausfranst und sich im Inneren ähnlicher wird. Ob das für „Gesellschaft“ reicht und ein Identitätskonstrukt „Wir in Europa“ beflügelt, darin ist das zuständige Fach Soziologie uneins. In Proseminaren verabreicht es meist schmale Nationalkost, die sie Fortgeschrittenen eventuell durch Ländervergleiche würzt. Der kosmopolitische Zweig der Soziologie hat den „methodologischen Nationalismus“ (etwa der deutsche Soziologe Ulrich Beck) verabschiedet und thematisiert die Weltgesellschaft, was heute auch als postkoloniale Krücke zur Vermeidung eurozentrischer Vorurteile dient.
Europa – zu klein, zu groß? Draußen in der Welt meinen Chinesen, Amerikaner und Afrikaner ganz genau zu wissen, was sie unter Europa verstehen. Schauen die nicht scharf genug hin, oder sind wir in Europa betriebsblind? Oft wird hier auf das Passepartout „Kultur“ hingewiesen. Gefragt ist eher ein Begriff von Gesellschaft, besser: „Vergesellschaftung“ (Georg Simmel, deutscher Philosoph und Soziologe, Begründer der „formalen Soziologie“) jenseits von Nation und Staatsangehörigkeit.
Hinweise auf diese Europäisierung Europas haben Zeithistoriker und Ethnologen gegeben. Der Freiburger Neuzeithistoriker Wolfgang Reinhardt identifizierte Lebensformen Europas, sein Berliner Kollege Hartmut Kaelble hat früh auf eurotypische Merkmale von Familienstrukturen, Beschäftigungs- und Unternehmensformen, Urbanitätsmustern und Wohlfahrtsstaatlichkeit hingewiesen und deren zunehmende Konvergenz herausgestrichen.
Das ist nicht zu verwechseln mit Standardisierung oder Homogenisierung und schließt selbstredend – wie in jeder Gesellschaft üblich – Ungleichheit ein, auch eine lebensweltliche und popkulturelle „Amerikanisierung“ seit 1945 und die Globalisierung, bewirkt durch deregulierte Finanzmärkte und virtuelle Kommunikationsmedien. Ob dem eine europäische Unternehmenskultur und Öffentlichkeit noch etwas entgegenzusetzen haben, ist die große Frage – zu wünschen wäre es allemal und die europäische Kulturaufgabe.
Kulturelle Differenz oder nationale Wir-Gefühle?
Anders als es die Eigenart der Europäischen Union als „Herrschaftsverband eigener Prägung“ (so der deutsche Industriesoziologe Rainer M. Lepsius), also ohne Staat mit mangelhaftem demokratischen Unterbau, und die Zurückhaltung von „Wir-Gefühlen“ nahelegen, werden unter dem Ethnoskop lebensweltlicher Mikroverhältnisse europäische Kulturpraktiken erkennbar, die nationalstaatliche Grenzen routiniert übersteigen. Der ursprünglich aus Prag stammende Harvard-Politologe Karl W. Deutsch hat nationale Einheiten klassisch über die Dichte und Nähe von Transaktionen definiert. Das sind, wie der Makrosoziologe Steffen Mau aufgegriffen hat, zum Beispiel „Reisetätigkeiten, Aufenthalte im Ausland, freundschaftliche, partnerschaftliche oder familiäre Bindungen, Austausch von Botschaften, dichte Kommunikation über Grenzen hinweg“.
Solche nicht auf den Handel beschränkte Transaktionen schaffen belastbare Beziehungen und Loyalitäten, die wiederum bürgerschaftliche Aktivierung erlauben. Dazu tragen virtuelle Netzwerke bei, die weit über Europa hinausreichen, dort aber eine besonders hohe Dichte erlangen, und natürlich die physische Mobilität, die Europa immer schon mit einem markanten Migrationshintergrund ausstattet.
Solche nicht auf den Handel beschränkte Transaktionen schaffen belastbare Beziehungen und Loyalitäten, die wiederum bürgerschaftliche Aktivierung erlauben.
Die Reaktion des autoritären Nationalismus, den (zutreffend) „völkisch“ zu nennen sich eine (Ex-)Vorsitzende der rechtsgerichteten deutschen Partei AfD nicht scheute und ihre Nachfolger ganz offen betreiben, zeigt nun aber, dass der supranationale Habitus vor allem in höheren Statusgruppen und urbanen Milieus gespürt, gelebt und wertgeschätzt wird, während die Entgrenzung im Hinterland eher als Belastung und Bedrohung empfunden wird. Dort wirken sprachliche und kulturelle Übersetzungsleistungen als Zumutung, selbst englisch radebrechende Hipster in Berlin oder Belgrad lösen bei manchen Irritation aus. Soziale Zerklüftung und kulturelle Differenz, die nationale Wir-Gefühle herunterdimmen können, erscheinen gesamteuropäisch in grellem Licht und werden auch deswegen als Skandal empfunden, weil sie auf dieser Ebene ganz unzureichend durch politische Gleichheit one man, one vote (ein Mensch, eine Stimme) ausbalanciert sind.
Die Herausbildung einer europäischen Gesellschaft von unten hindert das nicht. Sichtbar wurde sie jüngst durch die außerparlamentarische und überparteiliche Mobilisierung auf Straßen und Plätzen und von Menschen, die genügend Vorstellungskraft aufbringen, welche Folgen diverse Exit-Strategien haben, und Europas Seele oder Puls spüren. Wem „Pulse of Europe“ zu romantisch ist, der lese zum Beispiel Marius Ivaškevičius’ Brandrede gegen die Europaskeptiker („Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 16.2.2017) und nehme generell eine Majdan Perspektive ein. So nenne ich eine Sichtweise, die probeweise den Standpunkt einer ostmitteleuropäischen Landschaft oder Stadt einnimmt und den „Westen“ von dort mit fremden Augen anschaut. Jenseits kulinarischer, musikalischer und touristischer Konvergenzen nimmt so europäische Bürgerschaft Gestalt an.
Basis für eine europäische Solidarität
Zur erneut auf die Systemintegration von Märkten und Sicherheitsregimen setzende Vision von Jean-Claude Juncker und Angela Merkel müsste auch eine emotionale Dimension der Sozialintegration treten, die Präsident Emmanuel Macron im Wahlkampf angedeutet und in seinem Werben um Bündnispartner auch konkretisiert hat. Entscheidend ist dann, ob sich daraus eine tragfähiges Basis europäischer Solidarität nicht nur zwischen den Nationalstaaten entwickelt, die Beistand gegen den Terror oder bei der Aufnahme von Flüchtlingen reklamieren, sondern eine Interaktionsebene zwischen litauischen und griechischen Bauern, deutschen und spanischen Pflegerinnen oder französischen und bulgarischen Jungunternehmern, die auch über Standesgrenzen hinaus an europäischer Konvivialität mitwirken wollen.
„,Alles‘ kann Kultur hingegen, wenn sich die europäische Gesellschaft Interaktionsarenen jenseits von Markt und Staat schafft und eine verbindende Auffassung von Öffentlichkeit hervorbringt. Unter dieser Prämisse führen kulturelle Anstrengungen aller Art zum Ziel.“
Wenn immer gefragt wird, was „die“ Kultur zum europäischen Projekt beitragen könnte, lautet die Antwort: wenig – oder alles. Den Kulturaustausch zu intensivieren ist immer angebracht, wenn er sich nicht auf ein selbstreferenzielles Netzwerk der Festival- und Eventkultur bezieht; erst längere Aufenthalte wie im Erasmus-Programm (dessen Zielgruppen man erheblich erweitern müsste) und Projekte einer europäischen Universität (die auch nicht auf einige Eliteeinrichtungen und die Forschung beschränkt sein dürfen) leisten einen originären kulturpolitischen Beitrag. „Alles“ kann Kultur hingegen, wenn sich die europäische Gesellschaft Interaktionsarenen jenseits von Markt und Staat schafft und eine verbindende Auffassung von Öffentlichkeit hervorbringt. Unter dieser Prämisse führen kulturelle Anstrengungen aller Art zum Ziel.
Modus: Widerstand
Mit Anstrengungen ist der Prozess gemeint, die Praxis der diversen Künste, ihre diskursiven Rahmen, ihre – im klassischen Sinne: Werke, die Menschen bewegen, faszinieren, sie dazu bringen können, ihr Leben zu ändern. Gemeint ist nicht die übliche Beschwörung eines Wertehimmels in Sonntagsreden, denen alle zustimmen können und die auf dem Absatz für tagespolitische Interessen hintangestellt und verraten werden.
Nach vielen glücklichen Jahrzehnten, denen grauenhafte Barbarei vorangegangen war, steht Europa als Kultur, als Gesellschaft und als politischer Verbund heute wieder vor einer schweren Bewährungsprobe. Es ist umzingelt von Autokraten und im Inneren von völkischautoritären Nationalisten bedroht. Das alles vollzieht sich vor dem Hintergrund prall gefüllter Kulturetats, einer endlosen Kette von Festivals, Biennalen, Kulturevents der unterschiedlichsten Art, mit öffentlichen Mitteln gefördert oder privat gesponsert, stets um höchste Ansprüche bemüht und sich zugleich volksnah gebend. In den „Erinnerungen eines Europäers“ hat Stefan Zweig im brasilianischen Exil jenes Europa als „Welt von gestern“ beschrieben, als diese Blüte ein letztes Mal so großartig, verführerisch und blendend war wie heute – vor 1914. Der nächste kulturelle Aufschwung nach dem Massenschlachten im Ersten Weltkrieg war schon überschattet von dem Zugriff totalitärer Ideologien und Diktaturen, die Europa in den 1940er Jahren beinahe in den endgültigen Untergang geführt hätten.
Angesichts dieser Bedrohung ist der Modus der europäischen Kultur längst in einem Wort zusammenzufassen: Widerstand!
„Was sollte diesen Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zog? Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft, niemand außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ‚gute alte Zeit’“, schrieb Stefan Zweig, bevor er sich das Leben nahm. „Wir glaubten, genug zu tun, wenn wir europäisch dachten“, kritisiert er seine eigene Leichtgläubigkeit und die seiner Zeitgenossen. Heute sind es nicht nur „verhutzelte Greise“, die die Axt an Europa legen wollen, es sind virile Potentaten, die auf eine wütende, auch ganz junge Gefolgschaft zählen können, die sie sogar auf demokratischem Wege an die Macht gelangen lassen. Angesichts dieser Bedrohung ist der Modus der europäischen Kultur längst in einem Wort zusammenzufassen: Widerstand!
Über den Autor
Claus Leggewie
Politikwissenschaftler
Claus Leggewie lehrte von 1989 bis 2007 Politikwissenschaft an der der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2001 war er Mitbegründer des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) , seit 2015 ist er Inhaber der Ludwig Börne-Professur am ZMI. Er war Gastprofessor an der Universität Paris-Nanterre und der New York University, Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, am Remarque Institute der New York University und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Von 2007 bis 2015 war Leggewie Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und des Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Von 2008 bis 2016 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Leggewie ist Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Bücher (Auswahl):
Reparationen. Im Dreieck Frankreich, Algerien, Deutschland. Donata Kinzelbach, Mainz 2022
Planetar denken. Ein Einstieg. Mit Frederic Hanusch und Erik Meyer. Transcript, Bielefeld 2021
Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa. Mit Ireneusz Pawel Karolewski. Klaus Wagenbach, Berlin 2021
Jetzt! Opposition, Protest, Widerstand. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019
Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Ullstein, Berlin 2017
Kulturreport Fortschritt Europa
Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.
Mit Egoismus kommt man nicht weit, Illustration: RosZie via pixabay.
Kultur kann wenig - oder alles, Illustration: Panther Media via picture alliance.
Claus Leggewie, Foto: privat
Kulturen des Wir? Europa und die Suche nach einem neuen Narrativ. Kulturreport Fortschritt Europa 9/2018
Cultures of We? Europe and the search for a new narrative. Culture Report Progress Europe 9/2018
ifa-edition2023_asiem-el-difraoui
Asiem El Difraoui: Prevention of Extremism through International Cultural Relations From Art Therapy to Cultural Hubs. Stuttgart: ifa, 2023 (ifa Edition Culture and Foreign Policy)